STORAGE-ITEM
LP9-Q22B
U.B.C. LIBRARY
THE LIBRARY
THE UNIVERSITY OF
BRITISH COLUMBIA
%
• • » •
Das Inzest-Motiv
in
Dichtung und Sage.
Das Inzest-Motiv
in
Dichtung und Sage.
Grundzüge einer Psychologie
des dichterischen Schaffens
Otto Rank.
„Das kranke Innerste eines Dichters
verrät sich nirgends mehr als durch seinen
Helden, welchen er immer mit den ge-
heimen Gebrechen seiner Natur wider
Willen befleckt." Jean Paul.
Leipzig und Wien
Franz Deuticke
1912.
Verlags-Nr. 1971.
K. u. K. llofbttchdnickerci Karl Prochaaka in Teschen.
Meinem hochverehrten Lehrer
Professor Dr. Sigmund Freud
in Dankbarkeit gewidmet.
Vorwort.
Die nachstehende Arbeit lag ihrem wesentlichen Inhalt und den
Hauptgesichtspunkten der Auffassung nach bereits im Herbst 1906 vor,
zu welcher Zeit sie einem intimen Kreis, der sich seither zur „Wiener
psychoanalytischen Vereinigung" entwickelt hat, zur Kenntnis gebracht
wurde. Wenn sie erst jetzt zur Pubhkation gelangt, so sind dafür mehr
innere Hemmungen als äußere Schwierigkeiten verantwortlich zu machen.
Ihre Ergebnisse waren, wenn auch fast durchwegs auf reiche und ge-
sicherte Erfahrungen der Psychoanalyse gestützt, doch vielfech so über-
raschend und zum Teil auch befremdend, daß eine Reihe von Vorarbeiten
zu ihrer breiten psychologischen Fundierung erwünscht schien. Die seit-
herige über alles Erwarten reiche und fruchtbare Weiterentwicklung
der auf die verschiedensten Gebiete geistigen Schaffens angewandten
Psychoanalyse, deren Dokumente in den verschiedenen psychoanalyti-
schen Organen niedergelegt sind, scheint nun bereits geeignet, die
hier versuchte Beweisführung in ausreichendem Maße zu stützen, sowie
anderseits selbst in den wesentlichen Punkten der Auffassung durch
sie Bestätigung zu erfahren. Die ganze Arbeit auf das Niveau unserer
heutigen Einsichten zu heben, erschien kaum angängig; in wenigen
insbesondere die mythologische und die moderne Literatur betreffenden
Abschnitten wurden weitere Ausgestaltungen, jedoch keineswegs immer
zum Vorteil der einheitlichen Anlage, versucht. Doch hat die seither
reichlich zugewachsene Literatur, zumindest anmerkungsweise, ausführ-
lich Berücksichtigung gefanden.
Der Verfasser.
Wien, im Frühjahr 1912.
Inha Its-Übersicht.
Seite
Einleitung 1 — 21
Erster Abschnitt:
Das Verhältnis zwischen Eitern und Kindern.
I. Die individuellen Wurzeln der Inzestphantasie . . 25 — 39
II. Typen des Inzest-Dramas (ÖdipuS; Hamlet, Don Carlos) . . 40 — 63
Die Mechanismen des dichterischen Schaffens 48 — 54
III. DieInzestpliantasiebeiSchiller 64 — 118
Zur Psychologie der Entwürfe und Fragmente 69 — 74
IV. Das Stiefmutter-Thema 118—163
Zur Psychologie der Stoffwahl 120—126
.4. Das Carlos-Schema . . . • 126-150
1. Carlos-Dramen 126—133
2. Byrons „Parisina" 133 — 141
3. Das Motiv der Brautabnahme und Brautabtretung . . 141^150
B. Das Phädra-Schema 150—163
Zur Psychologie der Nachdichtung 151 — 153
V. DerKampfzwischenVaterundSohu 164 — 203
Zur Psychologie des Verwandtenmordes 188 — 203
VI. Shakespeares ^'aterkomJJ lex 204 — 233
Zur Psychologie der schauspielerischen Leistung 230 — 233
VII. Ödipus-Dramen der Weltliteratur 234 — 255
Zur Psychologie der Jugenddichtungen 245 — 255
VIII. ZurDentungderÜdipus-Sage 256 — 276
IX Der Inzestkoraplex in antiker Mythenbildung und
Überlieferung (Beiträge zur Sexualsymbolik) 277 — 335
1. Die Weltelternmythe 279—283
2. Der Kastrationskomplex 283—297
3. Die alttestam entliche Überlieferung 297 — 308
4. Das Motiv der Zerstückelung 309 — 319
5. Die Tantaliden-Sage 320—335
X. Mittelalterliche Fabeln und christliche Legenden . 336—367
XI. Die Beziehungen zwischen Vater und Tochter in
Mythus, Märchen, Sage, Dichtung, Leben und Neurose 368 — 413
XII. Der Inzest in historischer Zeit. Sitte, Brauch und Eecht
der Völker 414-439
Vlll
Zweitor Abschnitt:
Das N'erhältiiis zwisclioii Geschwistern.
XIII. DieBedeutnupd es Geschwisterkomplexes 443 — 465
XIV. Grillparze r. Ein Beitrag zum Problem der Beziehung von
Dichtung und Neurose 4G6 — 493
XV. Das Ahnfrau-Schema. (Zur Psychologie der ääthetischen Wir-
kung.) Calderons „Andacht zum Kreuze"; Voltaires
„Mahomet- 4<)4_500
XVI. Goethes Schwesterliehe 501 — 5IH
XVII. Al^wehr und Durchsetzung des Geschwisterinzests . 51J> — 545
1. Das Motiv der Geschwister-Erkennung 520 — 523
2. Das Motiv der Verwandtschafts- Aufhebung 523 — 534
3. Die elisabethanischen Diamatiker 534 — 537
4. Shelley 538—545
XVIII. Byron. Sein Leben und dramatisches Schaffen 546 — 555
XIX. Biblische Inzeststoffe in der dramatischen Dicii tu ng 556 — 561
A. Kains Brudermord 556 — 557
B. Die Blutschande des Amnou mit der Thamar 557 — 561
(Die Spanier: Lope, Calderon, Cervantes u. a.)
XX Schillers Geschwisterkomplex. Der Mechanismus der
Affektverschiebung 562—584
XXI. Das Bruderhaß- xMotiv. (Von Sophokles bis Schiller.) .... 585-603
A. Die griechischen Tragiker und ihre Nachahmer .... 585 — 597
a) Steokles und Polyneikes 586 — 591
b) Atreus und Thyestes 591—596
c) Nero und Britannicus 596 — 597
B. Schillers Vorläufer: Die Stürmer und Dränger 597 — 603
XXII. Die Schicksalstragiker 604-615
1. Zacharias Werner 605-606
2. Adolf Müllner (und Houwald) 606—615
Will. Die Romantiker 616—648
1. Ludwig Tieck 616—625
2. Achim von Arnim 626—628
3. Clemens Brentano 628 - 631
4. Theodor Körner (und Karoline v. Günderode) .... 631—639
5. Richard Wagner 639-648
XXIV. Das luzestmotiv in der modernen Dichtung 648 — 685
1. Ibsen 650—658
2. Zeitgenüssische Dichter 658 — 680
Rück- and Ausblick 681 — 685
Einleitung.
Einleitung:.
„Das Bewußtlose mit dem Be-
sonnenen vereinigt macht den poetischen
Künstler aus." Schiller.
In diesem Bliche soll an einem eng umgrenzten Material der Ver-
such gemacht werden, auf völlig neuer Grundlage und von ungewohnten
Gesichtspunkten aus, Einblicke in die innerste Struktur des Kunst-
werkes und in die Bedingungen sowie in die Vorgänge des dichterischen
Schaffens zu gewinnen. Wie schon das Titelblatt anzeigt, handelt es
sich nicht um eine literarhistorische Untersuchung, sondern vorwiegend
um psychologische Probleme, deren fruchtbare Verfolgung beim
Dichter allerdings nur an der Hand literarischer und biographischer
Nachweise möglich ist. Anderseits ist zu erwarten, daß die psycho-
logische Durchleuchtung einzelner Dichterpersönlichkeiten und ihrer
Schöpfungen ihr Licht auf den literargeschichtlichen Entwicklungsgang
zurückstrahlen werde, der ja nur in der Aufeinanderfolge der persön-
lichen Entwicklung einzelner überragender Dichterindividualitäten be-
steht. Es sollen nun, zunächst innerhalb der Sphäre eines einzigen weit-
verzweigten Motivs, vornehmlich die Werke der dramatischen Dichtkunst,
unbeschadet ihrer sonstigen Beziehungen, vom psychologischen Stand-
punkt betrachtet werden : also gleichsam von innen heraus, als rein per-
sönliche, individuell bedingte Leistungen eines eigenartigen Seelenlebens.
Das heißt aber nicht so sehr die Werke der Kunst als den Künstler,
der sie hervorbringt, ins Auge fassen; das heißt aber weiterhin nicht
Literatur- und Kunstgeschichte, sondern Psychologie des Künstlers
treiben. Diese Verlegung des Standpunktes von außen nach innen
bedeutet natürlich, da sie ja nur mit Hilfe des bisher ermittelten Tat-
sachenmaterials und seiner wissenschaftlichen Verarbeitung möglich
geworden ist, keine Ablehnung oder Herabsetzung anderer Forschungs-
methoden, sondern soll nur in extremer Weise die Besonderheit unseres
Unternehmens kennzeichnen.
Diese besondere Art der Kunstbetrachtung mit allen ihren Kon-
sequenzen ist erst durch die Errungenschaften einer Psychologie er-
möglicht worden, die mit der hergebrachten außer dem Namen nichts
mehr gemein hat. Diese von Freud begründete und unter Teil-
nahme zahlreicher Anhänger und Schüler weiter ausgebaute Seelen-
kunde bildet die Grundlage der folgenden Untersuchungen, zu deren
Bank, Das Inzoätmotiv. 1
2 Kinli'iüinp:.
\'orst;iiuliiis der W'rfasbt'r Ijrinüht war, die Kenntnia dieser psycho-
logischen Vorarbeiten z^Yar zur Not entbehrlich, keineswegs aber über-
flüssig zu machen. Bringt nun schon die vorwiegend innerliche, rein
individual-i>svcholügische I^etraclitungsweise eines so eminent sozialen
Troduktes. wie es die Kunst ist, zum gnjßen Teil befremdende Auf-
f'assung»'n und Ergebnisse mit sich, so erscheint die Einstellung auf
die an sich neu- und eigenartigen Gesichtspunkte der Freud sehen
Psychologie kaum geeignet, diesen Eindruck abzuschwächen. Denn
die in dunkle Tiefen des unbewußten Geschehens dringende Seelen-
forschung Freuds führt, bis ins Triebleben hinab, zu den letzten
Wurzeln menschlichen Tuns und Denkens, deren Aufdeckung keines-
wegs dazu beitrügt, die allgemein verbreitete Ansicht von der Er-
habenheit der menschlichen Natur und der Göttlichkeit des Künstlers
zu bestätigen. Das treffende Dichterwort, daß Hunger und Liebe,
im weitesten Sinne genommen, die Welt treiben,^) scheint nicht zum
wenigsten für die Dichter selbst zu gelten; und wenn wir erotische
und egoistische Triebkräfte an der Schöpfung des Kunstwerkes nicht
bloß nebenbei beteiligt, sondern geradezu bestimmend, ja ausschlag-
gebend für ihre Entstehung und Gestaltung finden, so ist vielleicht
diese Erkenntnis in einem weit höheren Sinne geeignet, unsere Ehr-
furcht vor der Macht der Natur zu steigern, da sie es zu stände bringt,
aus solchen primitiven und triebhaften Wurzeln die sublime und der
gesamten Menschheit so Avertvolle Blüte der Poesie emporsprießen zu
lassen.-)
Auf w^elchem Wege und durch was für Mittel dies zu stände
kommt, bemühen sich die folgenden Untersuchungen darzulegen. Frei-
lich darf man von der ersten Inangriffnahme eines so komplizierten
und weit verästelten Themas keine glatte Autlösung aller sich dar-
bietenden Probleme erwarten. Man wird sich vielmehr der Fülle und
Mannigfaltigkeit des Tatsachenmaterials gegenüber mit Avenigen groben
Schematisierungen und dürftigen Lösungsversuchen einiger auffjllliger
Rittsei begnügen müssen. Die einzelnen Kajjitel stellen daher auch
') Schiller:
Eiu.stweilen, bis den Bau der Welt
Philosophie zusammenhält,
Erhält sich das Getriebe
Durch Hanger und durch Liebe.
^) In ähnlichem Sinne schreibt Hebbel an S. Engländer (1. 5. 1863); „Sie
wollen an den Dichter glauben, wie au die Gottheit, warum so hoch hinauf, in die
Nebelregiou hinein, wo alles aufhört, sogar die Analogie? Sollten Sie nicht weiter
gelangen, wenn sie zum Tier hinuntersteigen und dem künstlerischen V'^ermügen die
Mittelstufe zwischen dem Instinkt des Tieres und dem Bewußtsein des Menschen an-
weisen .... Sie worden aber auch überhaupt finden, um tiefer auszugreifen,
daß die Lebensprozesse nichts mit dem Bewußtsein zu tun haben, und die künst-
lerische Zeugung ist der höchste von allen .... (und) wenn man sich auch so
wenig aufs Dichten, wie aufs Träumen vorbereiten kann, so werden die Träume
doch immer die Tages- und .lahreseindrücke, und die Poesien nicht minder die
Sympathien und Antipathien des Schöpfers abspiegeln."
Aristoteles' Poetik. 3
nur mehr oder minder selbständige Ausschnitte ans dem Ungeheuern
Thema dar, welche gleichsam andeutungsweise verschiedene ]\Iethodcn
illustrieren sollen, die man sämtlich bei jeder eingehenden monogra-
phischen Spezialuntersuchung anwenden müßte, um der Vielseitigkeit
und dem Beziehungsreichtum aller in Betracht kommenden Momente
gerecht werden zu können. Solchen Einzeluntersuchungen muß es
auch vorbehalten bleiben, das Detail der Verknüpfung zwischen den
aufzudeckenden letzten Elementartrieben des künstlerischen Schaffens
und dem sonstigen offensichtlichen seelischen Verhalten der betreffenden
Künstler in jedem Falle aufzuzeigen. In der vorliegenden Arbeit, wo
es sich zunächst um prinzipielle Feststellungen, um das Herausheben
des Typischen handelt, kann das nur an vereinzelten Beispielen ver-
sucht werden. Aus diesem unvermeidlichen jMangel vrird sich ein gutes
Stück des Befremdlichen erklären, das den Ergebnissen unserer Unter-
suchung anhaftet und man wird darum gut tun, mit ihrer voreiligen
Ablehnung zurückzuhalten in der Erwägung, daß es von diesen fremd
anmutenden unbewußten Wurzeln verständliche Übergänge zum be-
wußten Denken gibt, die nur in Rahmen dieser Arbeit nicht immer
beschritten werden können.
Denn auch auf dem Gebiete der psychologischen Betrachtungs-
weise selbst nimmt unsere Untersuchung eine Sonderstellung ein. Es
hat bis jetzt nicht an Versuchen gefehlt, den Schöpfungen der dichte-
rischen Phantasie mit dem kritischen Verstand nahe zu kommen;
doch unterscheidet der Ausgangspunkt, die wissenschaftlichen Hilfs-
mittel und Voraussetzungen sowie nicht zum wenigsten eine gewisse
praktische Tendenz diese Bemühungen wesentlich von unserem Unter-
nehmen. Der erste wissenschaftliche Versuch dieser Art stammt be-
kanntlich von Aristoteles, der in seiner uns nur in Bruchstücken
erhaltenen Poetik gewisse technische Regeln des dichterischen
Schaffens aufstellte. Da Aristoteles das Wesen aller Kunsttätigkeit
in einem dem Menschen angeborenen Nachahmungstrieb sieht, muß
ihm das Schöpferische in der Kunst, als das eigentlich Problematische,
notwendig fremd bleiben und er kann zur psychologischen Frage-
stellung nach dem Wesen der dichterischen Schöpferkraft gar nicht
kommen. Was Aristoteles demnach in seiner Poetik beabsic-htigte,
war eine Formenlehre und eine darauf gegründete Technik der poe-
tischen Produktion, die er aus den zu seiner Zeit beliebten Dichtungen
und aus deren Eindruck abstrahierte. In welch überlegener Weise
ihm die Lösung dieser Aufgabe gelungen ist, zeigt der nachhaltige
und bestimmende Einfluß, den diese älteste Poetik, zum Teil aller-
dings in mißverständlicher Auffassung, auf die gesamte spätere Literatur,
Ästhetik und Kunstkritik bis in die neueste Zeit ausgeübt hat.^) Was
^) Über die Art und Macht dieses Einflusses sowie die ihn widerspiegelnde
Literatur sehe man die Einleitung zur deutschen Ausgabe der Poetik in Reclams
Universalbibliothek nach.
1*
4 Kiiiloitun^.
diese auljorurdcntliclu! Wertscliatzuii^^ der innerlich lanf^st überwundenen
formalen Poetik des Aristoteles rechtfertigten könnte, ist die Tatsache,
dalj sieh darin schon jjfewisse fundamentale Einsichten in das Wesen
der Dieiitkunst finden, die nicht nur von historischem Interesse sind,
sondern erst im Lichte unserer heuti<,a^n Erkenntnis ihre volle Geltung?
und WUrdif^unt^ erlan<jfen. So sind Avir mehr als je von dem tiefen
psychologischen Wahrheitsgehalt der Aristotelischen Lehre von der
Katharsis überzeugt, d. i. der durch Eurcht (Erschütterung) und
Mitleid (Rührung) bewirkten Erregung und mit Lust verbundenen
Befreiung von solchen Affekten in den Zuhörern einer tragischen
Handlung. Wie dieser Begriff der Katharsis nach Jakob Bernays
ursjirünglich der ]\redizin entnommen wurde, in welcher er die Aus-
treibung eines Krankheitsstoffes aus dem Kör])er bedeutet, so hat er
auch durch eine medizinische Errungenschaft unserer Zeit erst seine
volle ]>sychologische Bedeutung erhalten. In den Breuer- Ereudschen
„Studien über Hysterie" (1895) wird die das Affektleben von hem-
menden Verdrängungen befreiende Psychotherapie als „kathartische'~
bezeichnet und Alfred Erhr. v. Berger hat in einer beachtenswerten
Abhandlung') die kathartische Behandlung der Hysterie zur Erklärung
der kathartischen Wirkung der Tragödie mit Erfolg herangezogen.
Indem wir dieses hochbedeutsame und an Ausblicken der verschiedensten
Art reiche Thema der Kunstwirkung hier beiseite schieben müssen,
wenden wir uns wieder dem künstlerischen »Schaffen selbst zu, in dem,
nach einem schonen Worte Kants, das Wesen des ästhetischen Ein-
drucks sich in gesteigertem ]\Iaße kundgibt. Nur schüchtern und Avie
es scheint ganz absichtslos überträgt A r i s t o t e 1 e s dieses kathartische
Gesetz auch auf den Dichter, w^enn er (Kap. 17) sagt, die in Affekt
befindlichen Personen erschienen am überzeugendsten, wenn sie aus
derselben Naturbeschaffenheit des Dichters hervorgegangen seien.
Darum gehört die Dichtkunst, Avie er hinzufügt, den hervorragend
begabten oder den in einem gesteigerten Geistesteben befindlichen
Menschen. Denn die ersten Avissen leicht nachzuahmen, die anderen
sind der Ekstase fähig. In dieser Bemerkung finden Avir den schon
in der homerischen Poesie angedeuteten doppelten Ursprung der
Dichtung, in der Begeisterung und der verstandesmäßigen Nach-
ahmung-) psychologisch gefaßt, eine L^nterscheidung, die zum Grund-
jjfeiler aller späteren Untersuchungen des künstlerischen Schaffens ge-
worden ist und noch in Nietzsches „apollinischem" und „dionysischem"
') ^Wahrheit und Irrtum in der Katharsis-Theorie des Aristoteles.'^ (Enthalten
in: Aristoteles' Poetik, übers, u. eingel. v. Th. Gomperz, Leipzig 1897.) Die
kathartische Methode von Breuer und Freud hat auch Hermann Bahr in seinem
„Dialog vom Tragischen^ (Fischer, Berlin 1904) in geistreicher Weise auf die Be-
trachtung der tragischen Wirkung angewendet.
'^) Vgl. die Einleitung zur „I'oetik" (1. c. S. 7). — Dem gegenüber meint
schon Sokrates in der Apologie (7j, daf'i die Dichter „nicht aus Weisheit dichten,
sondern aus einer gewissen Naturgabe oder Begeisterung".
Diltheys Poetik. 5
Elomeut der Kunstscliöpfimg uaclikliug-t. Wenn Aristuteles iu
der Psycbolog-ie des künstlerischen Schöpfungsprozcsses über diese
Ansätze nicht hinausgekommen ist, so darf ihm daraus um so weniger
ein Vorwurf gemacht werden, als wir bis in die Gegenwart greifen
müssen, um den ersten bewußten Versuch einer Psychologie des
dichterischen Schaffens aufzufinden, den Wilhelm Dilthey in einer
^vemg bekannten Arbeit über: die Einbildungskraft des
Dichters^) unternommen hat. Er schildert zunächst die mächtige
Nachwirkung der von Aristoteles geschaffenen Poetik in allen
Zeiten bewußten kunstmäßigen Dichtens bis in die zweite Hälfte des
18. Jahrhunderts, bis auf Boileau, Gottsched, Lessing und ver-
folgt dann den Entwicklungsgang der neuen Ästhetik von ihrem Ur-
sprung in der schottischen Schule, welche die Quelle aller Poesie in
der Phantasie des Dichters fand, bis zur systematischen deutschen
Ästhetik, die vom schaffenden Vermögen im Menschen, ja in der
ganzen Natur, ausging. In richtiger Würdigung ihrer vollen Be-
deutung für die ganze Lebensarbeit unserer beiden Natioualdichter
kommt Dilthey zu dem Schluß, daß sich jede Zeit ihre eigene
historisch bedingte Ästhetik in lebendiger Wechselwirkung mit den
poetischen Erzeugnissen ihrer Dichter erschaffen müsse. „Das
Aristotelische Prinzip der Nachahmung war objektivistisch; . . . seitdem
die Untersuchung sich überall in das subjektive Vermögen der
Menschennatur vertiefte und die selbständige Kraft desselben erfaßte,
die das in den Sinnen gegebene umgestaltet, wurde auch in der
Ästhetik das Prinzip der Nachahmung unhaltbar" (S. 320). „Die
Poetik hatte zuerst einen festen Punkt in dem IMustergültigen, aus
dem sie abstrahierte, dann in irgend einem metaphysischen Begriff
des Schönen: nun muß sie diesen im Seelenleben suchen" fS. 335).
Dilthey stellt sich nun im bewußten Gegensatz zu Aristoteles die
Aufgabe, der Gegenwart eine zur Verwertung geeignete Poetik, nicht
durch Abstraktion von mustergültigen Werken, sondern aus den
immerfort in Geltung stehenden psychologischen Gesetzen des dichte-
rischen Schaffens abzuleiten: „Der Ausgangspunkt einer solchen Theorie
muß in der Analysis des schaffenden Vermögens liegen, dessen Vor-
gänge die Dichtung bedingen. Die Phantasie des Dichters in ihrer
Stellung zur Welt der Erfahrungen bildet den notwendigen Ausgangs-
punkt für jede Theorie, welche die mannigfaltige Welt der Dichtungen
in der Aufeinanderfolge ihrer Erscheinungen wirklich erklären Avill"
(S. 311). Dilthey löst diese beiden Aufgaben, sowohl die psycho-
logische Grundlegung als auch die darauf gebaute Theorie der poetischen
Technik, soweit dies mit den Mitteln der herrschenden Bewußtseins-
psychologie möglich ist, fast restlos. Wie sehr ihn diese Psychologie
jedoch beengt, zeigt sich darin, daß er an den entscheidenden Stellen
') Bausteine für eine Poetik in: Pliilosoi)h. Aufsätze, KJ. ZelK-r gewidmet.
Leipzig 1887, S. 303 u. ff.
n Hinlcituug.
mit ihren Krfjebnissen nicht auslanget. In einem Abschnitt seiner
Arbeit (S. 3001".) bespricht Dilthey „die Kinbildunp^skraft des Dichters
in ihrer Verwandtscliaft mit dem Traum, dem Wahnsinn') und an-
deren Zuständen, die vun der Norm des wachen Lebens abweichen",
und behau])tet im Anschluß daran, daß das Leben der Bilder in dem
Träumenden, dem Irren, dem Künstler von der herrschenden Psycho-
logie, die von Vorstellungen als festen Größen ausgehe, nicht erklärt
werden könne (8. 351). Und mit Hecht fügt er hinzu, daß jede
Vorstellung in der wirklichen Seele Vorgang ist (S. 352). Die Punkte,
in denen „das Schaffen des Dichters sich mit den Wahnideen, den
Träumen und den Phantasiebilderu in anderen abnormen Zuständen
berührt" sind nach Dilthey (S. 350) : daß in allen diesen Zuständen
Bilder entstehen, welche die Erfahrung überschreiten; daß die
Situationen, Gestalten und Vorgänge in einer halluzinatorischen Sinn-
fälligkeit erblickt Averden : endlich, daß das eigene Ich die Fähigkeit
besitzt, sich in das des Helden umzuwandeln. Wenn Dilthey jedoch
diese Funktion des Dichters in „der größeren Energie gewisser see-
lischer Vorgänge" bedingt sieht, so ist das zweifellos richtig, geht
aber im Grunde genommen nicht über die Aristotelische Feststellung
hinaus, daß die Dichtkunst den in einem gesteigerten Geistesleben be-
findlichen Menschen gehöre (Kap. 17).
Einen bedeutungsvollen Schritt weiter, hauptsächlich auf Diltheys
Vorarbeiten fußend, macht Otto Behaghel, der rühmlich bekannte
Germanist, in seiner Rektoratsrede: „Bewußtes und Unbewußtes im
dichterischen Schaffen" (Leipzig 1907). An der Hand zahlreicher
Selbstzeugnisse von Dichtern kommt er zu folgenden wichtigen Sätzen :
„Die Verfassung der Seele, aus der sich die Dichtung hervordrängt,
die Verfassung in der des Dichters Schaffen sich vollzieht, ist ein Zu-
stand der Erregung . . . Und es ist gewiß kein Zufall, daß das Tun
des Dichters ... so gern geneigt ist, mit erotischen Bildern zu
spielen" (S. 5). — „Die Macht der Phantasie ist der Urgrund alles
künstlerischen Schaffens" (S. 8). — „Die Wurzeln des dichterischen
Schaffens ruhn in den rätselvollen Tiefen des Unbewußten" (S. 4). —
„Das ist ja das Wesen des dichterischen Werdens: traumhaft, dunklem
Antrieb gehorsam, so steigen die Gebilde auf" (S. 21). — „So ist
dieser Zustand dem Traume nah verwandt" (S. 16) und zeigt ander-
seits „nahezu den Charakter der Halluzination" (S. 43, Anmkg. 94).
— Den Dichter unterscheidet aber der Anteil des Denkens, der be-
wußten Arbeit (S. 17), die „beim Dichter dem unbewußten Werden
') Die vielbemerkte Verwandtschaft zwischen der Einbildungfskraft des
Dichters und den lYäumen, Halluzinationen und Wahnideen haben nach Dilthey
(Dichterische Einbildungskraft und Wahnsinn, Leipzig 1886) schon die Alten be-
obachtet, wie unter auierem der berühmt gewordene »Satz des Aristoteles beweist:
nuUum magnum Ingenium sine mixtura demontiae fuit (1. c. S. 7). Die Verwandt-
schaft der genialen Kähigkeiten mit dem Wahnsinn ist neuerdings von Lombroso
kraß harvorgekebrt worden.
Die uubewußteu Quellen der Phantasie. 7
in dreifacher Rolle gegenübertritt : ergänzend und helfend, wählend
und ordnend, mäßigend und beruhigend" (S. 24).
In diesen mit wenigen Strichen skizzierten Entwicklungsgang
der auf wissenschaftlichem Wege gewonneneu Einsicht in den dichte-
rischen Schöpfungsprozeß, reiht sich unser scheinbar isoliert daste-
hender Versuch insofern ein, als er es zum erstenmal unternimmt,
auf Grund unserer vertieften Kenntnis des unbewußten Seelenlebens
sowohl den ursprünglichen Inhalt der dichterischen Phantasien, oder
wenigstens einer Gruppe derselben, als auch den Mechanismus ihrer
Entstehung und künstlerischen Weiterverarbeitung, sowie den Grund
ihrer besonders intensiven Gefühlsbetonung, welche aus ihrer Herkunft
verständlich wird, aufzuzeigen. Wenn dabei die unbewußten
Quellen dieser Phantasiebildungen, sowie anderseits ihre erotische
Gefühlsbetonung in den Vordergrund tritt, so entspringt das
weniger einer tendenziösen Überschätzung dieser bis nun fast gar nicht
gewürdigten Momente als der Natur der Dinge selbst. Der bewußte
und „asexuelle" Anteil des Seelenlebens an der Entstehung der künst-
lerischen Produktionen ist uns durch eine Unmenge detaillierter bio-
graphischer, literarhistorischer und ästhetischer Untersuchungen genauer
bekannt und intimer vertraut geworden, als er seiner wirklichen Be-
deutung nach verdiente. Die Berechtigung, endlich einmal auch dem
unbewußt-erotischen Anteil seine volle Würdigung zuteil werden zu
lassen, entspringt jedoch nicht bloß dem begreiflichen Bedürfnis nach
einer Ergänzung oder einem notwendigen Gegengewicht, sondern der
Erkenntnis, daß dieser bisher vernachlässigte Anteil der wesentliche
ist und sich zu einem vertieften Verständnis sowie zur psychologi-
schen Fundierung unentbehrlich erweist.
Der Satz, daß das Bewußtlose mit dem Besonnenen vereinigt erst
den poetischen Künstler ausmache, ist in verschiedener Form und
Einkleidung v(jn fast allen j)roduktiven Dichtern ausgesprochen worden^).
Und obwohl die überragende Mehrzahl derselben den geheimnisvollen Auteil
des Unbewußten als das Entscheidende undj Bedeutsamere einschätzen,
betonen sie doch zugleich dessen Unfaßbarkeit und Unbegreiflichkeit.
So sagt beispielsweise Heyse in seinen „Jugenderinncrimgen" (S.
346): ,,Nnn vollzieht sich freilich der beste Teil aller künstlerischen
Erfindung in einer geheimnisvollen, unbewußten Erregung, die mit dem
eigentlichen Traumzustand nahe verwandt ist. Meistenteils tragen die nacht-
wandlerischen Eingebungen der Phantasie auch darin den Charakter der
Traumwelt, daß sie eines klaren Zusammenhanges entbehren und erst vom
Verstände und künstlerischer Besonnenheit geordnet und von willkürlichen
Elementen gereinigt werden müssen, wenn sie sich im Licht des Tages
legitimieren sollen.'"
^) Zahlreiche Beispiele bei Behaghel; vgl. auch Otto Hinrichsen: Zur
Psychologie uud Psychopathologie des Dichters. Wiesbaden 1911 (Grenzfragen des
Seelenlebens Nr. 80).
8 Einleitiinfr.
Äliulich heist es bei L. Klage s in seiucr Abhautüimg: ,\[\s einer
.Si'elenlehro des Künstlers" : „Ein Ton, ein Strahl in sein BewiiDtsein
fallend i^enü-jen, um unter der .Schwelle ein vieldeutiges »Spiel dunkler
(iefiihlsverkuüpfungen in ihm auszulösen, in welchem er taub und l)lind
wird für die kunsttötenden Heimischungen der umgebenden Wirkliclikeit.
Diese bereits im Augenblick der Empfängnis vollzogene unbewußte Aus-
wahl ist das wesentliche. Im einzelnen wird sie hernach beim eigentlichen
Schaflen durch die sondernde Tätigkeit des Verstandes vervollständigt."
(Blätter f. d. Kunst. Auslese-Kand 1891^-1898; Heft V, Folge 2, Berlin,
G. Bondi, 1899).
Su noch der als Dichter wie als Analytiker seines Schaffens
gleich hochstehende Schweizer Spitteler in einem fesselnden Vor-
trag: „Wie dichtet man aus der ,blauen Luft'?", wo er das dichteri-
sche Produktionsvermögen in drei gesonderte Personifikationen zerlegt :
den Dichter, der sich ])assiv den unbewußten Mächten überläßt, den
Künstler, der den auf diese Weise zutiige geförderten regellosen
und uuzusammenhängenden Phantasie- und Bilderreichtum sichtet,
ordnet und verbindet und endlicli den Schriftsteller, der ihm ge-
wissermaßen die letzte konventionelle Hülle umwirft. Von diesen
als hochbedeutsam angeschlagenen „unbewußten (oder wenigstens
passiven) Zuständen und Ereignissen der Seele'*, denen „bei freien
Stoffen der Hau])tanteil der Ausführung" zufällt, sagt Spitteler, daß
sie „sich kaum beschreiben, und ganz unmöglich erklären lassen. Man
müßte denn zuvtjr die menschliche Seele und das Leben und die ganze
Welt erkläiren~. Treffend und fast wie auf den Traum geprägt klingt
68, wenn der Dichter sagt : „Der Zustand des Bildersegens, den der
Künstler vom Dichter übernommen, ist der: Eine Überfülle von lauter
Einzelbildern, gleichsam M<jmentaufnahmen, zwar unter sich verwandt,
aber (jhne Übergänge und (dine logischen Zusammenhang. Denn die
Phantasie schenkt keine Beziehungen. Es gilt also mit Hilfe der
])oetischen Logik einen vernünftigen, stetigen Ft^rtschritt der Handlung
herzustellen, in gerader Richtung nach dem Ziel". — Und an den
Satz, daß der unbewußt inspirierte Dichter Widersprüche nicht kenne,
die der ausgleichende Künstler berücksichtigen müsse, knüpft
Spitteler direkt den Vergleich mit dem Traume, an dessen Unge-
reimtheiten man während desselben keine Kritik übe, da er erst bei
der Erzählung seine Widersprüche offenbare. Es kann hier nicht
nachdrücklich genug beümt werden, daß wir — im Sinne der Aus-
führungen Sjiittelers — bei unserer Untersuclmng fa.st ausschließlich
die \'Mrgänge in dieser tiefsten, an Widersj)rüchen, Anstößigkeiten und
scheinbaren Ungereimtheiten an reiclien seelischen Schicht im Un-
bewußten des „Dichters" betrachten werden und auf den „Künstler"
oder gar den „Schriftsteller" nur hie und da einen Seitenblick werfen
können. Wir sind uns dabei voll b(!wußt. daß zu dieser Arbeit des
«Künstlers-* die ganze F'ähigkeit und l'echnik der Formgebung gehört,
die ins<jferne mit dem von uns gleichfalls beiseite gebissenen Problem
Die Tasfträume. 9
des ästhetischen Eindrucks zusammenhängt, als sie die dichterischen
Phantasien so zu gestalten hat, daß sie der Hörer lustvoll zu akzeptieren
vermag. Wir unterschätzen die Bedeutung der Formgebung gewiß
nicht, wenn wir in ihr dasjenige Moment erblicken, welches erst das
Kunstwerk zu einem solchen macht; denn der Phantasieproduktionen
sind wir alle — und darauf beruht ja die Möglichkeit aller Kunst-
wirkung — in ähnlicher Weise Avie der Dichter fähig, was sich nicht
nur im Traumleben und im unbewußten Seelenleben des Keurotikers,
sondern noch deutlicher in den sogenannten Tagträumen offenbart,
die jedoch durch ihre unverhüllt egoistischen und erotischen Ten-
denzen auf das sie produzierende Individuum beschränkt bleiben. Das
erste Verständnis für die Umwertung dieser asozialen Gebilde, wie
wir sie in der in sich abgeschlossenen Neurose, im persönlichen Traum
und im egoistischen Tagtraum kennen und verstehen gelernt haben,
zu der sozial hochgewerteten und genußreichen Kunstproduktion hat
Freud in leider vereinzelt gebliebenen Untersuchungen angebahnt^).
Für die Gestaltung des sozial wirkenden Kunstwerks aus dem eigen-
süchtigen. Tagtraum hat Freud einige Bedingungen erkannt und, wie
ich sagen möchte, als unbewußtes technisches Können des Dichters
beschrieben, das nicht wesentlich von seinen ästhetischen, intellektuellen
und kritischen Fähigkeiten abhängt. Der Dichter muß von den Tag-
traumphantasien das persönliche Moment abstreifen ; er muß im stände
sein, sie zum Zwecke ihrer Aufnahme durch den Hörer entsprechend
vom Unbewußten zu distanzieren, ohne sie jedoch davon völlig ab-
zulösen, was ihre Wirkung beeinträchtigen müßte; und endlich muß
die Form sowohl den Intellekt des Hörers fesseln, als auch sein Lust-
gefühl erwecken und es anscheinend völlig'rechtfertigen, wenn es auch
zum weitaus größten Teil aus den unbewußten Quellen der Befriedigung
verdrängter Phantasien stammt, die auch beim Dichter, ohne daß er
darum weiß, die eigentliche Triebkraft seines Schaffensdranges aus-
machen. Von all diesen komplizierten und durch den bedeutsamen An-
teil der rein intellektuellen Kräfte noch verwickeiteren Vorgängen der
dichterischen Produktion können wir in diesem Zusammenhang nur
das letzterwähnte IMoment, eine der vielen zur Gestaltung und damit
zum Ausleben drängenden unbewußten Phantasien auf der ersten
Etappe ihrer Umwandlung in poetisch befriedigende Produktionen ver-
folgen. Die Vorstufe des Tagträumens als Quelle der dichterischen,
insbesondere erzählenden Pnjduktion, wie sie mit scharfsichtiger In-
tuition bereits Schopenhauer^) erwähnt und wie sie Freud vom
kindlichen Spiel ausgehend als das wesentliche Rohmaterial der
^) Freud: 1. Der Dichter und das Phantasieren (Kl. Sehr. II, 1909,
S. 197 ff.). — 2. Foi-mulierungen über die zwei Prinzipien des psychischen Geschehens
(Jahrb. f. Psa. III, 1911, S. 6, Punkt 6). — 3. Über Psychoanalyse (2. Aufl., 1912,
S. 55 u. fg.). — 4. Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten (2. Aufl., 1912).
-) „Denn wie man ein wirkliches Objekt auf zweierlei entgegengesetzte Weise
betrachten kann: rein objektiv, genial, die Idee desselben erfassend; oder gemein,
10 i;ii)l('itun;^.
erzäliliMid»'!! Dii'litiin^ orkannte, Iiat vielleicht nieinand so ausführlich
und trertend <:;esehildert '), Avie der fruchtbare und p())iulär(^ enfl;li^cllc
Honiancier Authnny Tr(»llo])o in seiner „Autobiograjihy"
(vol. I, p. 5G) :
„Hier gedenke ich nun einer anderen Gewohnlieit, mit mir von ganz
frühen Jahren erwaclisen, welche icli seihst oft mit Mißvergnügen l)ctrach-
tete, gedachte ich der darauf versclnvendeten Stunden, welche jedoch, wie
ich vermute, dahin wirkte, mich zu dem zu machen, was ich hin. Als ein
Knabe, ja schon als Kind war ich viel auf mich seihst angewiesen. Ich
habe schon, als ich von meiner Schulzeit sprach, erwähnt, wie es kam,
daß andere Knaben nicht mit mir spielen wollten. So war ich allein und
hatte meine Spiele mir selbst zu schaffen. Irgend ein Spiel war mir not-
wendig, damals wie immer. Studieren war nicht meine Neigunj^ und ganz
müßig zu sein konnte mir nicht gefallen. So kam es, daß ich immer
umliergiug mit einem Luftschloß, das sich in meinem Innern fest aufbaute.
Weder war diese Bauarbeit krampfhaft festgehalten, noch ])eständigem
Wechsel unterworfen von Tag zu Tag. Wochenlang, monatelang, wenn ich
mich recht erinnere, von Jahr zu Jahr, pflegte ich dasselbe^ Märchen auszu-
spinnen, indem ich mich an gewisse Gesetze, gewisse Verhältnisse, Eigen-
tümlichkeiten und Einheiten band. Niemals ward etwas Unmögliches einge-
fidirt, noch irgend etwas, das den äußeren Umständen nach ganz unwahr-
scheinlich schien. Natürlich war ich mein eigener Held. Das versteht
sich von selbst beim Bauen von Luftschlössern. Aber ich wurde nie ein
König, ein Herzog, noch weniger konnte ich ein Antinous oder sechs
Fuß hoch sein, da meine Größe und persönliche Erscheinung feststanden.
Ich war niemals ein Gelehrter, nicht einmal ein Philosoph. Aber ich war
ein gewandter Bursche und schöne junge Frauen pflegten verliebt in mich
zu sein. Ich strebte, gütigen Herzens, freigebig zu sein, vornehmer Ge-
sinnung, geringe Dinge verachtend. Alles zusammen war ich ein viel
besserer (reselle, als ich je erreicht habe. Dies war sechs oder sieben
Jahre lang die Beschäftigung meines Lebens, ehe ich in den Postdienst
trat und wurde durchaus uiclit aufgegeben, als ich meinen Beruf begann.
bloß in seinen dem Satz vom Grunde geraäßen Relationen zu andern Objekten und
zum eigenen Willen; so kann man auch eben so ein Phantasma auf beide Weisen
anschauen: in der ersten Art betrachtet, ist es ein Mittel zur Erkenntnis der Idee,
deren Mitteilung das Kunstwerk ist: im zweiten Fall wird das Phantasma verwendet,
Laftschl'isser zu bauen, die der Selbstsucht und der eigenen Laune zusagen, mo-
mentan täuschen und ergötzen ; wobei von den so verknüpften Phantasmen eigentlich
immer nur ihre Relationen erkannt werden. Der dieses Spiel Treibende ist ein Phan-
tast : er wird leicht die Bilder, mit denen er sicii einsam ergötzt, in die Wirklichkeit
mischen und dadurch für diese untauglich werden : er wird die Gaukeleien seiner
Phantasie vielleicht niederschreiben, wo sie die gewöhnlichen Romane aller Gattungen
geben, die seinesgleichen und das große Publikum unterhalten, indem die Leser sich
an die Stelle des Helden träumen und dann die Darstellung sehr „geniütiich finden"
(Die Welt als Wille und Vorstellung, Reclam, Bd. 1, S. 254).
*) Über ihre kindlichen day-dreamings hat a. a. auch George Sand (Histoire
Je ma vie IIL cb. 8) ausfuhrlich berichtet.
Sexuelle Triebkräfte der Phantasiebildung. 11
Schwerlich, denke ich, kann es eine gefähi-lichere innere Gewohnheit geben;
aber ich habe oft gezAveifelt, ob, wäre es meine Gewohnlieit nicht gewesen,
ich je eine Novelle geschrieben hätte. Ich lernte anf diese Weise, ein
Interesse für eine erdichtete Geschichte aufrecht zu erhalten, über einem
von meiner Einbildungskraft geschafi'enen Werke zu brüten und in einer
Welt zu leben, ganz und gar außerhalb der Welt meines eigenen mate-
riellen Lebens. In späteren Jahren habe ich dasselbe getan mit dem Unter-
schied, daß ich den Helden meiner früheren Träume abdankte und im
Stande war, meine eigene Identität aus dem Spiele zu lassen."
So eindringlich und vielfach unserer Untersuchung die Wege
nach dem Trauniland, den Phantasiebildungen und dem erotischen
Erleben als Vorbild und Quellen des dichterischen Schaffens auch
gewiesen Avurden, so sind doch die Pfade, die wir einschlagen, inso-
fern noch unbeschritten, als trotz so manches Avertvollen Fingerzeiges
alter und neuer Dichter und Denker die Mittel dazu bisher gemangelt
hatten. Zwar wurde der Einfluß der Sexualität auf die Phantasie-
tätigkeit, den auch Behaghel (S. 5 unten) streift, nach LöAvenfeld ^)
von einer Reihe bedeutender Forscher hervorgehoben, -) doch hat erst
die psychoanalytische Forschung mit ihrer vollen Würdigung aller —
insbesondere der unbewußten — Quellen, Äußerungen und Folgen der
in ihrem ganzen Umfange betrachteten Sexualtriebe ein tieferes Ver-
ständnis dieser Beziehung angebahnt. So ahnt uns bereits heute ein
äußerst intimer und bedeutungsvoller Zusammenhang ZAvischen den
am Aufbau der dichterischen Phantasieprodukte zunächst beteiligten
unbewußten Phantasien und denjenigen Gestaltungen der Einbildungs-
kraft, die in einer früheren Lebensperiode dem sexuell und intellektuell
frühreifen Individuum zunächst zur autoerotischen Befriedigung, dann
zur Einbeziehung geliebter Personen der Umgebung in dieselbe und
schließlich zum Übergang ins normale Liebesleben verhelfen. Mit der
Überwindung der Autoerotik und der heterosexuellen Einstellung
werden diese Phantasien ins Unbewußte verdrängt, von avo aus sie
dann unter geeigneten Bedingungen ihre Wirkung als Traumerreger,
als Symptombildner sowie als schöpferisches Element des künstlerischen
Gestaltens entfalten können. Und Avir müssen es im Sinne unseres
Themas als hochbedeutsam einschätzen, daß diese ersten und nach-
haltigsten erotischen Phantasie bildungen des frühen Kindes- und des
späteren Pubertätsalters hauptsächlich die vom Kind am meisten ge-
liebten, aber von der Kultur als Sexualobjekte verbotenen Eltern und
Geschwister zum Ziele ihrer Befriedigung nehmen.
Ähnlich A^erhält es sich mit der Beziehung der poetischen Pro-
duktion zu unseren nächtlichen Traum Schöpfungen und den
sonderbaren Halluzinationserscheinungen mancher Geisteskranker. Daß
') Über die sexuelle Konstitation. Wiesbaden 1911. S. 18G ff.
-) Man vergleiche auch in J. J. Davids feinem Essay: Vom Schaffen (Jena
1906) die Bemerkung: „Über den ursprünglichen Zusammenhang der produktiven
Kraft mit dem Sexualleben wird man wohl nicht mehr streiten können."
1 2 Einleitung.
.illi- diese PiMduktiuneu irgondwit' verwiiucll und irj^endwo cino go-
mi'insjime Wurzel haben, ist seit den ältesten Zeiten von den Künstlern
selbst, den Philosu]»hen und nicht zum wenif^sten von den Laien immer
wieder aus<2:es])rüchen -worden, aber eigentlich bisher immer nur —
wie selbst noch in Nietzsches ..(ieburt der Tragödie" — ein schönes
und gewiß zutreftendes Gleichnis geblieben. ') Auf Grund unserer
besseren psychoanalytischen Einsicht in die psychischen Mechanismen
sowie den Sinn und Gehalt der Traum-, »Symptom- und Wahnbildung,
ist es uns möglich geworden, mit dieser Parallelisierung Avirklich Ernst
zu machen und uns der Hoffnung hinzugeben, daß Avir auf Grund
unserer vertieften Kenntnis der verwandten Phänomene auch in das
Geheimnis der unbewußten künstlerischen Produktion werden einzu-
dringen vermögen. Allerdings wird dabei der viel mißbrauchte, ledig-
lich auf gewisse formale Ähnlichkeiten gestützte Vergleich des Kunst-
werkes mit dem Traum seiner poetischen Hülle entkleidet. Der
Traum ist mit dem Kunstwerk, insbesondere dem dramatischen,
nicht bloß äußerlich verwandt, sondern diese Beziehung entstammt
selbst Avieder einer tiefen psychologischen Wesenseinheit beider Pro-
duktionen, deren psychische Triebkraft sowie das wesentliche Material
und nicht zuletzt auch die Mechanismen ihrer Entstehung und Gestaltung
dem Unbewußten angehören. Aus unbewußtem Inhalt, Tendenz und
Ursache der Traum- und Neurosenbildung können wir aber mit
Sicherheit erkennen, daß auch der Künstler sich in seinem Werke
eine zum Teil verhüllte Erfüllung seiner geheimsten Wünsche schafft
') Einen Schritt über das bloße Gleichnis hinaus hnt Artur Bonus („Traum
und Kunst", Kuustwart 1907. S. 177 u. fg.) versucht, der in seinen lesenswerten
Ausführungen bis hart an die Grenze kommt, wo die Psychoanalyse einsetzen muß.
Er bezeichnet den „Traum als das denkbar geeignetste Mittel, über das eigentliche
Wesen des künstlerischen Schattens zu verständigen". „Künstler und Genießender
sind im Traume eins." Er bringt Traumbeispiele, würdigt die Bedeutung des Symbols
sowie der ganzen Traumarboit für die Technik der Kunst.
Man vergleiche auch die schönen Ausfülirungen Schoi)enhauerB „über die
Dichtkunst" (^^Neue Paralipomena, Keclam. S. 391 ff.): „Daher sage ich, die Größe
des Dante besteht darin, daß, während andere Dichter die Wahrheit der wirklichen
Welt haben; so hat er die Wahrheit des Traumes: er läßt uns unerhörte Dinge
gerade so sehen, wie wir dergleichen im Traume sehen und sie täuschen uns ebenso.
Es ist, als ob er jeden Gesang die Nacht über geträumt und am Morgen aufgeschrieben
hätte. So sehr hat alles die Wahrheit des Traums. . . . Überhaiii)t, um sich von
dem Wirken des Genies im echten Dichter, von der Unabhängigkeit dieses
Wirkens von aller Reflexion, einen Begriff zu machen, betrachte man sein
eigenes poetisches Wirken im 'J'raum: wie richtig und anschaulich steht jedes
dal durch wie feine und charakteristische Züge spricht es sich aus: die Personen,
unsere eigenen (}eschöj)fe, reden zu uns wie völlig fremde, nicht nach unserem Sinne,
sondern nach ihrem: werfen Fragen an uns auf, die uns in Verlegenheit setzen,
Argumente, die uns schlagen, erraten, was wir gern verhehlen möchten
u. H w. Wir veranstalten im Traume Begebenheiten, über die wir, .als unerwartete,
selbst erschrecken: wie weit übersteigen solche Schilderungen alles was wir mit
Absicht aus Reflexion vermöchten . . . Daher man sagen kann: ein großer Dichter,
z. B. Shakespeare i.st ein Mensch, der wachend tun kann, was wir alli; im Traum.''
Die Inzestpliantasie als Kenikomplex dtT Noiiroso. 13
und daß er dazu, ähnlich wie der Träumer und der Neiirotiker, von
seinen längst verdräng-ten, aber im UubcAviißten mächtig' fortwirkenden
infantilen Triehregungen und erotischen Elinstellungen unwiderstehlich
genötigt wird. ^) Müssen wir so die unbewußten sexuellen Gefühle in
gleicher Weise als Triebkraft der normalen (Traum), neurotischen
und künstlerischen Seelenleistung anerkennen, so wäre es aber weit
gefehlt, unsere unerwarteten und darum befremdlichen Ergebnisse dem
Material zuzuschreiben, das den folgenden Untersuchungen zu Grunde
liegt. So lange nicht ähnliche Bearbeitungen anderer Materialgruppeu
vorliegen, muß man es als Versicherung hinnehmen, daß die Gültig-
keit unserer Ergebnisse nicht auf den vorliegenden Stoff beschränkt
ist. Seine Auswahl und enge Umgrenziang war hauptsächlich durch
den Umstand gegeben, daß uns das Inzestthema von anderen Seiten
des psychologischen Studiums in seiner Bedeutung und seinem Wesen
nach bereits so weit verständlich und vertraut geworden ist, daß wir
mit einem hohen Grad von Sicherheit nicht nur darauf fußend, tief
in das GefUge des künstlerischen Seelenlebens eindringen, sondern
auch rückwirkend die bereits gewonnene Erkenntnis zu festigen und
so vereinheitlichen zu könuen hoffen dürfen.
Es stützt sich diese Erwartung darauf, daß die psychoanalytischen
Forschungen Freuds und seiner Schule immer eindeutiger zu der
Erkenntnis hingedrängt haben, daß die Inzestphantasie nicht nur den
„Kernkomplex der Neurose" und wie die Untersuchungen der Züri-
cher Schule-) zu versprechen scheinen, auch mancher Psychosen
(Paraphrenie F r e u d s = Dementia praecox K r a e p e 1 i n s) darstelle, son-
dern auch im unbewußten Seelenleben des Normalen dominiert und
seine soziale und erotische Einstellung im Leben entscheidend bestimmt.
Unsere Untersuchung wird uns zu der Erkenntnis führen, daß die
Inzestphantasie auch im Seelenleben des Dichters von überragender
Bedeutung ist. Es hat darum seine tiefe Berechtigung, daß wir
gerade an diesem Thema die ., Grundzüge einer Psychologie des dich-
terischen Schaffens" entwickeln dürfen und gerade daran paradig-
matisch den Prozeß der poetischen Produktion in seiner charakteristi-
schen Ähnlichkeit und Unterscheidung von der normalen Traumarbeit,
der neurotischen Symptombildung und der paraphrenen Gemütsstörung
aufzuzeigen bemüht sind. Ein rein äußerer Ausdruck für die Be-
deutung des Inzestkomplexes im Seelenleben der Dichter ist die durch
die Fülle unseres Materials reichlich belegte Tatsache, daß fast alle
^) Vgl. Rank: Der Künstler. Ansätze zu ei'ner Sexualpsychologie. Wien 1907.
-) Vgl. n. a. Maeder: Psychologische Untersuchungen an Dementia praecox
Kranken. .Tahrb. I. 185 fg. Spielrein: Über den p.sychologischen Inhalt eines Falles
von Schizophrenie (Jahrb. III) und die Mitteilungen von Dr. Itten und Dr. Nel-
ke n im Zentralblatt f. Psa. I. S. 610. Zur psychologischen Auffassung vgl. man die grund-
legenden Arbeiten von Jung: Über die Psychologie der Dementia praecox (Halle
litOT) und E. Bleuler: Dementia praecox oder Gruppe der Schizophrenien
(AschaÖenburgs Uandb. d. Psychiatrie, Spez. Teil, 4. Abt. 1. Ilülfte; Deuticke 1911).
1 4 Kinleitiing.
bedeutenden Diehtor der Weltliteratur d.-is Thema mit einer hei den
Neurotikern vergebens «^esnchten Offeidieit ixdiandelt hahen, die nur
dureh eine lieihe typischer und leicht /u durchschauender Verhüllun-
gen sowie durch die Wendunj^ vom Infantil- lustvollen ins Tragisch-
schuld volle der neun »tischen Verdrängung angenähert und so vor der
Anstüßisfkeit bewahrt erscheint. Wie wir aber in der Neurose die
am weitesten gehenden Entstellungen der urs]>rünglich infantilen ]>sy-
chischen Konstellation erkannt haben, so mußten wir neben den offen-
kundigen, mit Ekel und Abscheu erlebten Inzestträumen normaler
ErAvaclisener eine weitaus größere Anzahl streng verhüllter Inzest-
träume (die sogenannten „A'erka])|)ten" und „heuchlerischen") berück-
sichtigen und werden durch eingehende Betrachtungen auch genötigt,
neben der großen Zahl oti'enkundiger und teilweise verhüllter dichterisch
eingekleideter Inzestj)hautasien eine noch größere Anzahl gänzlich ent-
stellter anzuerkennen. Wollten wir auch diese berücksichtigen, so müßten
wir den Umfang der Arbeit noch um ein Vielfaches vergrößern imd
würden wahrscheinlich dazu gelangen, den größten Teil unserer klas-
sischen und schönen Literatur sowie die allermeisten Märchen-, Sagen-
und Mythenüberlieferungen ^) in unser Thema einzubeziehen. Doch
kann d.is nicht Aufgabe einer jtrinzipiellen Untersuchung, sondern nur
spezieller monographischer Studien sein, die mit Vorteil auf einem
so breiten Fundament vergleichenden Materials, wie wir es dieser
Unterauchung zu Grunde gelegt haben, fußen Averden.
Der allgemeinen, zunächst auf die Festlegung der wichtigsten
Umrißlinien gerichteten Tendenz des Buches entsprechend wurde die
Untersuchung auf die noch mit Sicherheit zu agnoszierenden Ge-
staltungen des Inzestmotivs in seinen verschiedenen Einkleidungen
und Abwandlungsformen eingeschränkt. Dabei ergab sich die über-
raschende Tatsache der Ubiquität des Inzestmotivs bei den
bedeutendsten Dichtern der Weltliteratur und der durchgängigen
Übereinstimmung gewisser als typisch anzusehender Formationen inner-
halb dieses Motivs. Weiterhin verzeichnen wir das prinzipiell wichtige
Ergebnis, daß diese typisch wiederkehrenden Gestaltungen der
dichterischen Phantasietätigkeit keineswegs, wie man bisher annahm,
vornehmlich auf bewußte Entlehnung oder Nachahmung, auch nicht
auf literarische Einflüsss zurückgehen müssen. Sie scheinen vielmehr
ihre überwiegende Begründung in einer sozusagen gleichmäßigen see-
lischen Verfassung der Dichter zu haben, aus der sich — oft nur
unterstützt von äußeren Einflüs3en — mit Notwendigkeit eine gewisse
Gleichförmigkeit ihrer Produktionen ergibt. Man hat dem Vorhanden-
sein solcher nicht auf literarische Einflüsse reduzierbarer, regelmäßig
') Ich verweise hier auf die zahlreichen raythohigischen Arbeiten der psycho-
analytischen Schule, deren Literatur im ersten Heft (Milrz 1912) der „Imago" Zeit-
schrift fiir Anwendung der Psychoanalyse auf die Geisteswissenschaften, Hg. von
Prof. S. Kreud f Verlag Hago Heller & Co. Wien) verzeiclinct und in den folgenden
fortlaufend referiert ist.
Individuelle Bedingtheit der dichterisclien Phantasiebildung. 15
wiederkehrender Motive durch Einführung des unbestimmten Be-
grifles ., dichterisches Gemeingut" Genüge zu leisten geglaubt, ohne
auch nur den Versuch zu unternehmen, die gemeinsame Quelle dieser
verwandten dichterischen Leistungen im Seelenleben der Künstler
selbst zu erschließen. Als ein solcher Versuch ist die vorliegende
Arbeit anzusehen, die sich zu zeigen bemüht, daß gewisse typische
dichterische Produktionen aus gemeinsamen, bei allen Dichtern in be-
sonders intensiver Betonung hervortretenden seelischen Komplexen
entspringen, die, wie schon die mächtigen Wirkungen der Dichtkunst
zeigen, auch den Unproduktiven andeutungsweise zu eigen sind, da
sie der prinzipiell gleichen Entwicklung aller Menschen angehören.
So führt unsere Untersuchung von der \'ertiefung in das Wesen
der Dichtkunst und ihrer Wirkung zur Erforschung der Psyche des
Künstlers und von da zu einer erweiterten Einsicht in das mensch-
liche Seelenleben überhaupt und in seine Entwicklungsgesetze. Aber,
wie man vielleicht ein^^ enden wird, auf Schleichwegen. Man wird
zunächst die Berechtigung bestreiten, vom Stoff der l)ichtung auf das
Seelenleben des Dichters zurückzuschließen; man wird die beliebte
Anschauung ins Treffen führen, gewisse Motive und Themata seien
als wirksame dramatische Requisite, als theatralisch erprobte Stoffe,
von den Dramatikern aller Zeiten mit Vorliebe aufgegriffen und be-
arbeitet worden, ohne zu bedenken, daß mit dem Hinweis auf diese
allgemein gültige und durchgreifende Wirksamkeit das Problem nur
von der Individual- in die Massenpsychologie verschoben und damit
noch ein wenig unzugänglicher geworden ist. Derartige Einwendungen
durch Polemik erledigen zu wollen, wäre ebenso abgeschmackt als
unwirksam. Die folgenden Ausführungen werden bemüht sein, nicht
nur die Fruchtbarkeit unserer Gesichtspunkte für ein vertieftes Ver-
ständnis der dichterischen Schöpfung an Beispielen darzulegen, sondern
auch ihre Berechtigung in jedem einzelnen Falle nachzuweisen, soweit
nicht die psychologischen Voraussetzungen unserer Arbeit, deren An-
nahme die unerläßliche Vorbedingung zu ihrer richtigen Würdigung
ist, solche Nachweise überflüssig erscheinen lassen. So wird auch
die Frage, ob es zulässig sei, aus dem Inhalt der Dichtung das Vor-
handensein gewisser im Seelenleben des Dichters wirksamer Gefühls-
regungen und Phantasiebilder zu erschließen, auf dem Boden der
Freudsahen Determinationspsychologie gar nicht gestellt werden
können. Die gesicherten Ergebnisse der Traum- und Neurosenforschung
berechtigen, ja nötigen uns dazu, jede „Zufälligkeit" und „Äußerlichkeit^
im Seelenleben — so gut Avie sonst in der Natur — auszuschließen
und jedes seelische Geschehen als gesetzmäßige, streng in unbewußten
Vorgängen begründete Folge der gesamten psychischen Konstellation
anzusehen. Unter diesem Gesichtspunkt ergibt sich mit Notwendigkeit
die Auffassung der dichterischen Produktionen als symptomatischer
Ausdrücke entsprechender seelischer Regungen und der Schluß von
jenen auf diese als unausweichliche Forderung des psychologischen
1(5 Kiuleitimg.
VerstÄndnisses dieser künstlerisciu'u Lcistuii^eii. Der njiivo Einwand,
daß der Dichter eben nur solche Stoffe brauchen könne und darum
wühlen müsse, die ihm (iek'o^enhoit zu Oeliihlskänipfen und trao^ischen
\'er\vicklun«2^en bieten, füllt in sich selbst zusammen durch die psycho-
ki<i^iscli j]^ereehtlerti<^te und «gebotene (jfeg('nira<^e, wozu er denn traji^isclie
\Virkunf::en, denen dt »eh der Mensch vorzii<^s\veise zu entgehen sucht,
mit dem ihm ei<]^enen unwiderstehlichen Dran«^ überhaujjt aufzusuchen
und darzustellen brauchte, wenn nicht die eigene tragische Verwicklung
und Scliuld in seinem Seelenleben nach Lösung und Befreiung ringen
würde. Dalj der Dichter im Grunde nur sich selbst zur inneren Be-
Ireiung und Lust schaffe, ist von vielen der grüßten Künstler offen aus-
gesprochen worden. So schreibt Schiller anGoetiie (17. August 1797),
daß .,es einmal ein festgesetzter Punkt ist, daß nmn nur für sich
selber philosophiert und dichtet^. Auch Goethe hat Ahnliches wieder-
holt eingestanden: „Und so begann diejenige Richtung, von der ich
mein ganzes Leben über nicht abweichen konnte, nämlich dasjenige,
was mich erfreute oder quälte «xler sonst beschäftigte in ein
Bild, ein Gedicht zu verwandeln und darüber mit mir selbst abzu-
schließen^), um sowohl meine Begriffe von den äußeren Dingen zu
berichtigen als mich im Innern deshalb zu beruhigen. Die
Gabe hierzu war wohl niemand nötiger als mir, den seine Natur
immerfort aus einem Extrem in das andere warf. Alles, Avas daher
vun mir bekannt geworden, sind nur Bruchstücke einer großen Kon-
fession.^ Und an Schiller schreibt er (3. ]\Iärz 1799) mit ähnlichen
Worten wie dieser an ihn : „Man befriedigt bey dichterischen Arbeiten
sich selbst am meisten und hat noch dadurch den besten Zusammen-
hang mit andern." — Daß literarische Reminiszenzen oder eine Spe-
kulation auf die Wirksamkeit gewisser effektvoller Motive noch keinen
echten Dichter machen, wird man ohne weiteres zugeben ; aber auch
die Überzeugung von einer „höheren Eingebung" oder der geheimnis-
vollen Einwirkung eines rätselhaften „Genius" scheint uns, trotz der
zweifellos richtig empfundenen Tatsache, keine befriedigende Erklärung
für das Wesen der künstlerischen Schöpferkraft zu bieten. Es lassen
sich natürlich auch im Rahmen unserer Auffassung nicht in jedem
einzelnen Falle die persönlichen Beziehungen des Dichters zu den
Produkten seiner Phantasie mit mathematischer Gewißheit feststellen.
Aber innerhalb der Tragweite psychologischer Beweisführung lassen
sich diese Beziehungen begreiflich und annehmbar machen.
Ein zweiter, scheinbar berechtigterer Einwand wird sich erheben
gegen unsere Auffassung von den tiefsten Quellen des dichterischen
') Ähnlich nenut auch Ibsen ^Dichten Gerichtslag halten über sein
eigenes Ich". — Vgl. L. Klag es. (Aus einer Seeleiilehre des Künstlers etc) :
„ . . . denn der letze Antrieb des künstlerischen Schattens ist ein rein persönlicher
. . . Lust oder Unlust besitzen oder meiden wollen : im Künstler ist diese Stimmung
außerordentlich heftig und doch '/-iigieicli von jeder Heziehung zu eigentlichen Niitz-
liclikeitsrücksichten völlig lo8gctr<?niit.''
Abweisung von Einwänden. 17
Scliaffeusdranges, die sich aufdrängt, wenn man den psycholugisch ge-
rechtfertigten Rückschhiß von der Dichtung auf das Seelenleben ihres
Schöpfers macht. 'Man wird geltend machen, es sei nicht schwer, die
letzten Wurzeln der künstlerischen Schöpferkraft im Erotischen, ja
die Bedingung für die Entfaltung dichterischer Fähigkeiten in ganz
bestimmten quantitativen Überschreitungen der psychosexuellen Entwick-
lung zu finden, wenn man ausschließlich Werke in Betracht ziehe, die
ein so durchaus sexual-pathologisches Thema wie die erotische Neigung
von Blutsverwandten zueinander behandeln. Da muß nun hervorgeho-
ben werden, daß unsere Untersuchung gerade die dichterische Äußerung
der Inzestgefühle völlig ihres pathologischen Charakters zu entkleiden
und als Versinnlichuug allgemein-menschlicher, sonst unbewußter
Seelenregungen verständlich zu machen sucht. Im Anschluß daran ist
wohl der Hinweis gestattet, daß man in der gesamten Weltliteratur
vergebens nach einem echten Dichter suchen würde, in dessen Werken
das Thema der leidenschaftlichen Liebe und ihrer Kehrseiten mit
allen ihren Beziehungen und Varianten, nicht dominierte. Und
so war es gerade die Häutigkeit, mit der Inzestverhältnisse zum
Gegenstand dramatischer Dichtungen gewählt wurden, was die Auf-
fassung von den erotischen Triebkräften des künstlerischen Schaffens-
dranges mit begründete. Späteren Untersuchungen muß es vorbe-
halten bleiben durch Analyse anderer ebenfalls typischer Motive
der dramatischen Literatur dieser Aufffissung eine breitere Grundlage
zu geben.
Der ernsteste Vorwurf endlich, der sich scheinbar gegen unser
Unternehmen wird erheben lassen, betrifft den „Mißbrauch" der
Dichter und ihrer Schöpfungen zu derartigen Untersuchungen. Man
könnte fragen, wozu auch noch das Seelenleben der Dichter bis in
seine geheimsten Winkel durchleuchtet werden soll, nachdem schon
die biographische Forschungsarbeit den ilußeren Lebensgang dieser
wehrlosen Objekte bis in die intimsten Details durchwühlt hat? Aber
selbst wenn man den eventuellen theoretischen Wert solcher Seelen-
analysen zugeben wollte, wird man doch geltend machen, daß durch
eine solche Aufdeckung der letzten Wurzeln poetischer Produktion
der ästhetische Genuß der Werke beeinträchtigt, ja geradezu ausge-
schlossen werde.
Dem ersten Vorwurf gegenüber ist es wohl gestattet auf die
vertiefte Einsicht in das Wesen des Kunstwerks und der künstlerischen
Produktion hinzuweisen, welche sich bei einer derartigen Betrachtungs-
weise erschließt und welche allein schon geeignet erscheint, diese wissen-
schaftlich vollauf zu rechtfertigen. Aber in diesen Aufschlüssen über
bisher ganz rätselhafte Vorgänge des dichterischen Schaffens liegt noch
nicht der ganze Ertrag unserer Bemühungen. In letzter Linie dienen
sie vielmehr in dem angedeuteten Sinne der Ergründung des allgemein
menschlichen Seelenlebens, das in viel höherem Maße als die gesamte
übrige Natur der so lange entbehrten Erforschung würdig und be-
Runk, Das [nzestmotiv. "2
18 Einleitung.
clürl'ti^ ist. Dir Krfoiscliun«^ des nunnak'n Scelenlebeua und seiner
Ciesetze ist aber beofreiflieherweisi- nur an abnormen seelischen In-
strumenten, an minderwertigen so gut wie au liöherwertigen, möglich,
da uns beim Normalen sowohl der Zugang, ])es(mders aber jede Ver-
anlassung fehlt, um in die Tiefen seelischen Geschehens einzudringen.
Veranlassung bietet uns der seelisch erkrankte Psychoneurotikcr, der
infolge seines sozusagen unentwickelten Seelenlebens au den kulturellen
Anforderungen scheitert und einen Zugang gewährt uns df r Künstler,
dem ein Gott zu sagen gab, was er leidet, in seinen Schüj)fungeu.
Aus der Kenntnis dieser beiden in gewissem Sinne extremen seelischen
Lebensformen und der entsprechend eingestellten Beobachtung auf
normales ])S3'chisches Geschehen können wir uns ein Bild der nor-
malen seelischen Entwicklung und des Durchschnittsseelenlebens kon-
struieren. Bei diesem Unternehmen überraschen uns vor allem auf-
fallende Übereinstimmungen in den seelischeu A'orgängen und Äuße-
rungen des Psychoneurotikers und des Dichters, die darauf hinweisen,
daß es nur geringe graduelle Unterschiede sind, welche die Gestaltung
des Seelenlebens in diesem oder jenem Sinne bestimmen. Im weiteren
Bemühen, die Grade dieser Abweichung festzustellen, kommen wir
zu dem unerwarteten Ergebnis, daß auch das normal genannte Seelen-
leben alle Ansätze zu ])athologischer und überwertiger Gestaltung auf-
weist und daß es nur bestimmte dynamische Verhältnisse sein können,
welche über den Charakter der Psyche entsclieiden. So gehen wir
auf scheinbaren Ab- und Umwegen eigentlich den einzig möglichen
Weg, der zum Verständnis des normalen Seelenlebens und damit
erst zur richtigen Einschätzung der davon abweichenden seelischen Vor-
gänge und Äußerungen führt.
Erscheint so unser Unternehmen durch seine Ergebnisse in mehr
als einer Hinsicht gerechtfertigt, so läßt sich auch zeigen, daß man
ihm mit Unrecht gewisse Folgen zuschreiben wollte, für die es nicht
verantwortlich zu machen ist. Die Einwendung, daß durch solche
Elementaranalysen, wie wir sie am Seelenleben und an den Werken
der Dichter vornehmen, alle feineren Unterschiede der Struktur, vor
allem aber der ästhetische Genuß au der Dichtung verloren gehe, ist
vielleicht bis zu einem gewissen Grade berechtigt, aber in einem ganz
anderen und viel tieferen Sinne als sie gemeint ist ').
Unsere ganze seelische und damit auch kulturelle Entwicklung
beruht unverkennbar auf einer fortschreitenden Erweiterung des Be-
wußtseins, die gleichbedeutend ist mit einer stetig wachsenden Herr-
schaft über das unbewußte Trieb- und Affektleben. Dieser Prozeß
') Zur Ergänzung der folgenden Ansführangen vgl. m.m meine Schrift: Der
Künstler, AnHät/. e zu einer Sexualpsychologie. Wien und
Leipzig 1907.
Als Stütze der dort vorgetragenen und hier kurz resümierten Auffassung darf
wohl die intuitiv geschaute Erkenntnis eines der bedeutendsten Künstler unserer Zeit
herangezogen werden. Richard Wagner schreibt in seinem Artikel: Zukunfts-
musik: .Dürfen wir die ganze Natur im großen Überblick als einen E n t w i c k-
Der kulturelle Verdrängnngsprozeß. 19
wird bedingt durch die biologisch festgelegte uud iulblge kultureller
Anforderungen gesteigerte Verdrängung kulturell unverwertbarer Triebe,
die sehr bald zur allgemeinen Neurose führen müßte, wenn ihr nicht
die parallel damit fortschreitende Veredlung des Trieblebens und Er-
weiterung des Bewußtseins das Gleichgewicht hielte. Die entscheidende
Wirkung dieser fortschreitenden „Sexualverdrängung" auf die Ent-
wicklungsformen des künstlerischen Schaffens wird sich bei unserer
Betrachtungsweise der Dichtungen aufs deutlichste offenbaren. Es
wird sich, gleichsam als Röntgenbild des vielgestaltigen, literarge-
schichtlich ermittelten Entwicklungsganges, ein analoger innerlich
bedingter Entwicklungsgang ergeben, der aus dem Prinzip der
Sexualverdrängung verständlich, ein allmähliches Hinneigen zu neu-
rotischer Gestaltung des Phantiisielebens und auf der anderen Seite,
als Ausgleichung, zu erhöhten Leistungen der bewußten Geistes-
tätigkeit verrät. Erweist sich so die künstlerische Betätigung, wie
sie ja einer kulturellen Veredlung solcher der Verdrängung ver-
fjillener Triebe entspringt, nur als ein vergängliches Symptom im
allgemein seelischen Entwicklungsgang, dessen Fortschreiten sie sich
durch den Wechsel ihrer Ausdrucksformen anzupassen sucht, so gibt
es doch in dieser Entwicklungsreihe einen Punkt, an dem die
WandluDgsfähigkeit der künstlerischen Ausdrucksformen ihre Grenze
findet. Nicht etwa in der quantitativen Erschöpfung aller Möglich-
keiten, die sich ja in jedem Stadium frisch erschlössen, sondern in
einer quaUtativen Unzulänglichkeit. Die Fähigkeit künstlerischen Ge-
staltens und Genießens ist nämlich, wie fast einstimmig alle Dichter
selbst bekennen, an einen überwiegenden Anteil unbewußter Seelen-
tätigkeit und an ein ganz bestimmtes Ausmaß der Mitarbeit des be-
wußten Denkens gebunden, das nicht ohne Gefahr für die künstlerische
Wirkung überschritten werden kann. Die behandelten Probleme
müssen, um dichterischer Wirkungen, wie sie die echte Kunst hervor-
zubringen bestimmt ist, fähig zu sein, in verhüllter Weise zum Aus-
druck kommen, w^ie es ja auch die unbewußt wirkende Gestaltungs-
kraft des Dichters mit sich bringt. Die Wirkung leidet nämlich
keineswegs, wie man glauben könnte, darunter, wenn man die Pro-
bleme kaum ahnt; sie wird vielmehr durch solches Ahnen erst
lungsg'ang vom Unbewußtsein zum Bewußtsein bezeichnen, und
stellt sich namentlich im menschlichen Individuum dieser Prozeß am auffälligsten
dar, so ist die Beobachtung desselben im Leben des Künstlers gewiß schon de.-halb
eine der interessantesten, weil eben in ihm und seinen Schöpfungen die Welt selbst
sich darstellt und zum Bewußtsein kommt. Auch im Künstler ist aber der dar-
stellende Trieb seiner Natur nach durchaus unbewußt, instinktiv, und selbst da, wo
er der Besonnenheit bedarf, um das Gebilde seiner Intuition mit Hilfe der ihm ver-
trauten Technik zum objektiven Kunstwerk zu gestalten, wird für die entscheidende
Wahl seiner Ausdrucksmittel ihm nicht eigentlich die Reflexion, sondern immer mehr
ein instinktiver Trieb, der eben den Charakter seiner besonderen Begabung aus-
macht, bestimmen" (Gesammelte Schriften und Dichtungen, Bd. 7, S. 88).
9*
20 Kinlcitnnc:.
Itfdin^^t ^). In dii- Sprache unserer rsvelit>ln«;ie übersetzt heißt das, die
unbewußten l'hantasien dürfen vom Dieliter nicht so weit bewußt gemacht
werden, daß der Zuschauer sich darüber vcjllkommen khir ist, worin die
mächtige Wirkung des Werkes besteht. Dazu aber kann der Dichter
die ^litarbeit der unbewußten Fähigkeiten nicht entbehren, die wir so
als Grundbedingung alles künstlerischen Schaffens und Genießens ver-
stehen lernen. Ist nun die künstlerische Gestaltungskraft lange Zeit
auch im stiinde, dem Prozeß der Sexualverdrängung in der Richtung
zur Neurose ohne Schaden für die künstlerische Wirkung zu folgen,
so ist sie anderseits infolge ihrer vorwiegend unbewußten Lebens-
bedingungen außer stände, sich dem Fortschritt des Bewußtseins auf die
Dauer anzupassen. Es erlischt, wie manche vereinzelte Erscheinungen
in unserer modernen dramatischen Dichtkunst ahnen lassen, zunächst die
Fähigkeit allgemein wirksamen künstlerischen Gestaltens -) und weiter-
hin vermutlich auch die Aufnahms- und Genußfähigkeit der unproduk-
tiven Menschen für die Werke der Kunst. In diesem Sinne fragt K 1 a-
ges: ,,Wäre vielleicht doch unsere Kunst die traurige Glut einer
Abenddämmerung über einem Menschheitstage, Avelcher untergeht?
Ist der Verstand die feindliche Gewalt und fähig, die Glut des
Wollens zu loschen ? Werden alle Leidenschaften schließlich untergehen
in einem Fanatismus des Erkennens und dieser selbst noch in teilnahms-
loser Allwissenheit?" (Vom Schaffenden 1. c. Folge 4, H. 1 und 2.)
Wen diese Prophezeiung eines so nüchternen Zukunftslebens düster
stimmt, der bedenke, daß es sich ja nicht um eine plötzliche Aus-
schaltung alles künstlerischen Lebens aus dem Kreise unserer heutigen
Kultur handelt, sondern um einen sich allmählich vollziehenden Er-
satz gewisser künstlerischer Bestrebungen und Interessen durch andere,
die Träger einer künftigen Kultur in gleicher Weise erhebende und
])efriedigeude intellektuelle und affektive Betätigung. Wer aber auch
solche kulturhistorische Erwägungen nicht tröstlich empfindet, der
lasse diesen Hinweis auf ein mögliches Ziel des künstlerischen Ent-
wicklungsganges wenigstens als Rechtfertigung wider den Vorwurf
gelten, daß unsere Art der Kunstbetrachtung den ästhetischen Genuß
beeinträchtige. Hat man einmal den Fortschritt des Bewußtseins als
^j Goethe: „Je inkommensurabler und für den Verstand unfaßlichcr eine
poetische Produktion, desto besser."
Wagner an Köckel (25. I. 1854): „. . . . meinem Gefühle ist es klar ge-
worden, daß ein zu offenes Aufdecken der Absicht das richtige Verständnis durchaus
8t<Jrt; es gilt im Drama, wie im Kunstwerk überhaupt, nicht durch Darlegung der
Absichten, sondern durch D.irstellung des Unwillkürlichen zu wirken."
Zukunftsmusik: „In Wahrheit ist die Größe des Dichters am meisten danach
zu ermessen, was er verschweigt, um das Unaussprechliche selbst schweigoud uns
Hagen zu lassen."
Hebbel (Tagebücher 3. 4. 1838): „Die höchste Wirkung der Kunst tritt
nur dann ein, wenn sie nicht fortig wird; ein Geheimnis muß immer übrig bleiben."
-) Auch die in neuerer Zeit so beliebte „Programrausik" mit ihrem Streben
nach Ausfüllung der unbewußt wirkenden musikalischen Ausdrucksformeu durch einen
bewußt zu erfa.ssen.lcn Inhalt scheint ein Symptom dieses Prozesses zu sein.
Die Erweiterung des Bewußtseins. 21
seelisches Entwicklungsprinzip erkannt und das unter seinem Einfluß
sich von selbst vollziehende allmähliche Verwandeln und Verlöschen
gewisser unbewußten Fähigkeiten und Wirkungen, so wird man dem
bescheidenen Unternehmen eines einzelnen oder selbst dem gewich-
tigeren Einfluß einer ganzen Schule nicht die Ehre erweisen können,
sie für derartige fundamentale Umwälzungen im Seelenleben der
Menschheit verantwortlich zu machen. Und ist auch der Verfall
unserer altüberlieferten Kunstformen unter dem Fortschritt des Bewußt-
seins unvermeidlich, so tröstet uns die Einsicht, daß unsere unzulängli-
chen Bemühungen, diese beiden Prozesse in ihren Beziehungen zueinander
zu verfolgen, weit entfernt den Konflikt auszulösen, selbst schon eine
Folgeerscheinung desselben sind.
Erster Abschnitt.
Das Verhältnis zwischen Eltern
und Kindern.
I.
Uie individuellen Wurzeln der Inzestphantasie.
„Wäre der kleine Wilde sich selbst über-
lassen, und .... vereinigte mit der ge-
geringen Vernunft des Kindes in der
Wiege die Gewalt der Leidenschaften
des Mannes von dreißig Jahren, so
brach' er seinem Vater den Hals und
entehrte seine Mutter."
Diderot (Rameaus Neffe,
übers, v. Goethe).
In der „Traumdeutung" (1900) hat Freud zum erstenmal
auf den reo^elmäßigen sexuellen Einschlag im Verhältnis des Kin.des
zu seinen Eltern hingewiesen: auf die frühzeitig erwachende erotische
Neigung des Kindes zum andersgeschlechtlichen Teil der Eltern und
auf die daraus entspringende eifersüchtige Abneigung gegen den gleich-
geschlechtlichen Elternteil und diese Tatsache zur Deutung der beiden
typischen Träume Erwachsener herangezogen, in denen diese
später verdrängten und unbewußt gewordenen Regungen der Kinder-
seele im Traumbild vom Tode des Vaters und der ge-
schlechtlichen Vereinigung mit der Mutter restlose Er-
füllung finden.^) Aus dem häufigen Vorkommen dieser beiden Träume
bei vielen erwachsenen Personen muß man nach den psychologischen
Gesetzen der Traumbildung schließen, daß diese inzestuösen Regungen
bei den meisten Menschen in der Kindheit aktuell gewesen seien.
„Mit einer alle Zweifel ausschließenden Sicherheit bestätigt sich
diese Vermutung für die Psychoneurotiker bei den mit ihnen vor-
genommenen Analysen" (Traumdeutung, 2. Aufl., 182), die zum Zwecke
der Heilung ihrer Beschwerden unternommen werden. Freud sagt da-
rüber in der Traumdeutung (S. 180) weiter: „Nach meinen bereits
Zahlzeichen Erfahrungen spielen die Eltern im Kinderseelenleben aller
späteren Psychoneurotiker die Hauptrolle und Verliebtheit gegen den
einen, Haß gegen den anderen Teil des Elternpaares gehören zum
eisernen Bestand des in jener Zeit gebildeten und für die Sympto-
matik der späteren Neurose so bedeutsamen Materials an psychischen
*) Die inzestuösen Verhältnisse werden in dieser Arbeit, wie es für den Zu-
sammenhang mit dem Künstler einzig erforderlich ist, vorwiegend vom Standpunkt
des männlichen Individuums betrachtet. Analoge Verhältnisse gelten, wie vereinzelte
Hinweise zeigen sollen, auch für das Weib.
26 f. I>io individuellen Wurzeln dc^r Inzestpliautasic.
R('<;ungon. leii <i:l.iube aber nicht, daß die Psychoueurotiker sich
hierin von anderen normal verblcilienden IMcnschenkindern scharf
sondern, indem sie absolut Neues und ihnen Eigentümliches zu schafien
vermöp^en. Es ist bei weitem wahrscheiidicher und wird durch ge-
legentliche Beobachtungen an normalen Kindern unterstützt, daß sie
auch mit diesen verliebten und feindseligen Wünschen gegen ihre Eltern
uns nur durch die Vergrößerung kenntlich machen, was minder
deutlich und weniger intensiv in der Seele der meisten Kinder vor-
geht.^ Diese vor mehr als einem .lahrzehnt geilußerte Vermutung
Freuds ist seither durch Aveitere Forschungen in der glänzendsten
Weise bestätigt worden. Namentlich Freud selbst war es vergönnt,
in seiner „ A n a 1 y s e d e r Phobie eines f ü n f j ä h r i g e n Knaben"')
seine aus den Untersuchungen erwachsener Personen gew(jnnene
Kenntnis des infantilen Seelenlebens an einem Kinde selbst auf ihre
Richtigkeit prüfen zu können. „In seinem Verhältnis zu Vater und
Mutter," sagt Freud, „bestätigt Hans aufs grellste und greifbarste
alles, was ich in der „Traumdeutung" und in der „Sexualtheorie"
über die Sexual beziehungen der Kinder zu den Eltern behauptet habe.
Er ist wirklich ein kleiner Odipus, der den Vater „weg", beseitigt
haben möchte, um mit der schönen ]\Iutter allein zu sein, bei ihr zu
schlafen" (a. a. O. S. 84). Auch die Aufklärung, die Freud seiner-
zeit in der Traumdeutung für die Entstehung dieser dem reifen Denken
unfaßbaren Kinderwüusche, insbesondere des „verbrecherischen" Todes-
wunsches gegen den gleichgeschlechtlichen Elternteil, gegeben hat,
bestätigt die Lösung der Phobie des kleinen Hans vollauf. In der
,, Traumdeutung" heißt es: „Die Vorstellung des Kindes vom „Todsein"
hat mit der unserigen das Wort und dann nur noch wenig anderes
gemein . . . Gestorben sein heißt für das Kind . . .so viel als „fort
sein", die Überlebenden nicht mehr stören. Es unterscheidet nicht,
auf welche Art diese Abvvesenheit zu stände kommt, ob durch Ver-
reisen, Entfremdung oder Tod" (2. Aufl., 179 f.). „ . . . Wenn der
kleine Knabe neben der Mutter schlafen darf, sobald der Vater ver-
reist ist und nach dessen Rückkehr ins Kinderzimmer zurück muß
zu einer Person, die ihm weit weniger gefällt, so mag sich leicht der
Wunsch bei ihm gestalten, daß der Vater immer abwesend sein möge,
damit er seinen Platz bei der lieben, schönen ]\Iama behalten kann
und ein ]\[ittel zur Erreichung dieses Wunsches ist es offenbar, wenn
der Vater tot ist, denn das hat ihn seine Erfahrung gelehrt: „Tote"
Leute, wie der Großpapa z. B., sind immer abwesend, kommen nie
wieder* (Traumdeutung, S. 182 f.). Auch beim kleinen Hans nun
„entstimd dieser Wunsch im Sommeraufenthalte, als die Abwechslun-
gen von Anwesenheit und Abwesenheit des Vaters ihn auf die Be-
dingung hinwiesen, an welche die ersehnte Intimität mit der
') Jahrbuch für psychoanalytische uud psychopathologische Forschungen, Bd. l
(iy09j.
Der kiudliche „Ödipus-Komplex'". 27
]\Iutter gebunden war. Er begnügte sich damals mit der Fassung,
der Vater solle ,, wegfahren" ... Er erhob sich später, Avahrschein-
lich erst in Wien, wo auf Verreisen des Vaters nicht mehr zu rechnen
war, zum Inhalte, der Vater solle dauernd weg, solle „tot" sein"
(a. a. 0., S. 84). Müssen wir uns schon bei der Beurteilung dieser durch
kein Benehmen der Eltern vermeidlichen eifersüchtigen Regungen des
Kindes gegen den gleichgeschlechtlichen Elternteil hüten, dem Kinde das
Denken und Fühlen des Erwachsenen unterzuschieben, so erfordert das
Verständnis der Liebesbeziehung des Kindes zum andersgeschlechtlichen
Elternteil ein völliges Absehen vor dem uns geläufigen Begriff des
sexuellen Begehrens mit der Vorstellung eines bestimmten Zieles.
Diese Verliebtheit des Kindes können wir uns, obwohl sie fast alle
psychischen Charaktere des gleichen Zustandes bei Erwachsenen dar-
bietet, nicht subtil genug vorstellen. Vor allem mangelt ihr ja der
bewußte Charakter, dessen überwiegender Anteil die Verliebtheit des
Erwachsenen auszeichnet: die erotische Neigung des Kindes zu Vater
oder Mutter ist unbewußt, sie verbirgt sich hinter der beAvußterweise
erlaubten, ja geforderten Elternliebe. Damit verliert sie aber alles
Befremdende und Anstößige, was sie sogleich wieder darbietet, wenn
wir versuchen, uns auch ihre unbewußte erotische Fortsetzung be-
wußterweise vorzustellen. Man muß sich daher stets gegenwärtig
halten, daß wir bei unseren Untersuchungen, in ähnlicher Lage wie
der Dichter selbst, fortwährend genötigt sind, die wirklichen Ver-
hältnisse zu vergröbern und zu übertreiben, um sie überhaupt wahr-
nehmbar und faßbar zu machen, daß wir also eine Art seelischer
Mikroskopie treiben und niemals vergessen dürfen, die unverhältnismäßig
vergrößerten Details, nachdem wir sie richtig erkannt haben, wieder
in den großen Zusammenhang des gesamten seelischen Geschehens
einzufügen. Ein großer Teil der Befremdung, die unsere Ausführun-
gen bei manchem Leser erwecken werden, hat darin ihren Grund,
daß diese Reduktion auf die Avirklichen Verhältnisse im Rahmen dieser
Arbeit nicht immer möglich ist und es daher den Anschein gewinnen
könnte, als überschätzten wir die Bedeutung eines einzelnen seelischen
Komplexes in unverhältnismäßiger Weise.
Über die befremdliche Herkunft der Liebesbeziehung des
Kindes zum andersgeschlechtlichen Elternteil äußert sich Freud mit
ziemlicher Zurückhaltung in seinem „Bruchstück einer Hy sterie-
anal^^se":^) „Solche unbewußte, an ihren abnormen Konsequenzen
kenntliche Liebesbeziehungen zwischen Vater und Tochter, Mutter und
Sohn habe ich als Auffrischung infantiler Empfindungskeime auf-
fassen gelernt . . . Diese frühzeitige Neigung der Tochter zum Vater,
des Sohnes zur Mutter, von der sich wahrscheinlich bei den meisten
Menschen eine deutliche Spur findet, muß bei den konstitutionell zur
Neurose bestimmten, frühreifen und nach Liebe hungrigen Kindern
^) öammlung kleiner Schriften zur NenroBenlehre. 2. Folge, 1909. S. 48 f.
2H I. Die individuellen Wurzeln der Inzcstphantasio.
schon anfiin^lich intensiver angenommen werden. Es kommen dann
«gewisse, hior nicht zu hcsprechendc Einflüsse zur Geltung, welche die
rudimentäre Liebesregung lixieren oder so verstärken, daß n(jch in
den Kinderjahren oder erst zur Zeit der Pubertät etwas aus ihr wird,
was einer sexuellen Neigung gleichzustellen ist und was, wie diese,
die Libido für sich in Anspruch nimmt. Das hieflir entscheidende
Moment ist wohl das frühzeitige Auftreten echter Genitalsensationen,
sei es spontaner oder durch Verführung und Masturbation hervor-
gerufener.'* — Bei psychologischer Beobachtung des Verhältnisses zwi-
schen Eltern und Kindern gewinnt mau den Eindruck, daß in sehr vielen
Fällen die Eltern selbst es sind, die in unabsichtlicher Weise ihre
Kinder durch maßlose Verzärtelung und auffällige Bevorzugung in
dieser vielleicht nur andeutungsweise vorhandenen Ödipus-Einstellung
bestärken und Rxieren. Ja, wenn man sieht, wie der junge Vater
sein kleines Tüchterchen mit allen dem erwachsenen Liebesleben an-
gehürigeu Zärtlichkeiten bedenkt und wie die Mutter ihren Sohn oft
bis in die Jahre der Reife in unzweideutiger W^eise wie ihren Lieb-
haber (lediglich mit gehemmtem Sexualziel) behandelt, so muß man
sagen, daß dem ausgeprägten Inzestkomplex des Kindes in der Regel
ein ebensolcher der Eltern gegenübersteht. Das lehrt deutlich die
Beobachtung des Verhaltens der Eltern gegen ihre Kinder, wie es
Freud in der „Traumdeutung" geschildert hat: „Die sexuelle Aus-
wahl macht sich in der Regel bereits bei den Eltern geltend; ein
natürlicher Zug sorgt dafür, daß der Mann die kleinen Töchter ver-
zärtelt, die Frau den Söhnen die Stange hält . . . Das Kind bemerkt
die Bevorzugung sehr wohl und lehnt sich gegen den Teil des Eltern-
paares auf. der sich ihr widersetzt ... So f(jlgt es dem eigenen
sexuellen Triebe und erneuert gleichzeitig die von den Eltern aus-
gehende Anregung, wenn es seine Wahl zwischen den Eltern im
gleichen Sinne wie diese trifft" (S. 182). Keinem vorurteilslosen Be-
obachter kann es entgehen, daß Liebe und Haß des Kindes seinen
Eltern gegenüber v(jn diesen in ähnlicher Weise erwidert werden.
Wie sich jedoch diese Empfindungen beim Kinde je nach dem Grade
seiner psychischen Veranlagung und der Art der Milieueinwirkung
als leichte Vorliebe oder Abneigung, in extremen Fällen aber als
erotische Verliebtheit und tödlicher Haß äußern, so kann auch das
Verhalten der Eltern sich in ähnlicher W^eise verschärfen oder mildern.
W^ie nämlich die erwachenden erotischen Regungen des Kindes sich
in der Regel dem andersgeschlechtlicheu Teil der Eltern zuwenden,
s(j klammern sich die unerwiderten oder abnehmenden erotischen Be-
dürfnisse des betreffenden Elternteils an das Kind, von dem sie gleich-
sam eine Wiederbelebung und Befriedigung erhoffen. Und wie die
ersten feindseligen Impulse des Kindes sich gegen den gleichgeschlecht-
lichen Teil der Eltern richten, so ist es begreiflich, daß in diesem
Elt<'rnteil eine Abneigung gegen das Kind envachen wird, welches
ihn der Liebe des anderen Teiles zu berauben sucht. Es sind unver-
Komplikationen der inzestuösen Gefühle. 29
kcnubar- neidische Regungen der jungen, erwachenden Sexualität gegen-
über, die diese meist unbewußte, manchmal aber auch bewußte Ab-
neigung der Eltern gegen ihre gleichgeschlechtlichen Kinder entfachen^),
sowie anderseits wieder ähnliche Neidgefühle des Kindes der erwach-
senen vollwertigen Sexualität gegenüber den Haß gegen den gleich-
geschlechtlichen Eltern teil mit bestimmen. Es ist bekannt, welch
große Rolle dieser den Beziehungen zwischen Eltern und Kindern
entstammende Sexualneid im Liebesleben der Menschen spielt und
es bedarf nur eines Hinweises, um zu erkennen, daß auch dieEifer-
sucht des Erwachsenen, deren wesentlicher Charakter ja Haß gegen
einen gleichgeschlechtlichen, bevorzugten, beneideten Nebenbuhler ist,
eine ihrer tiefsten Quellen in diesem inzestuösen Sexualneid des Kin-
des gegen Eltern und bevorzugte Geschwister hat.
Die Komplikation dieser Verhältnisse wird noch gesteigert
durch die Erfahrung, daß eine intensivere Gefühlseinstellung zweier
Menschen zueinander fast niemals eine lediglich einseitige ist, sondern
daß eine starke Liebe in der Regel von einer leisen Spur unbewußter Abnei-
gung unterströmt ist, wie sich oft genug ein übermäßiger Haß als psychi-
sche Reaktion (AfFektverwandlung) einer unterdrückten heftigen Zu-
neigung erweist. Besonders die Psychoneurotiker machen uns mit ihren
übertriebenen Affektäußerungen auf diese von Bleuler als „ambi-
valent" bezeichneten psychischen Einstellungen aufmerksam. So ist die
Hysterika Freuds zu verstehen, die um ihre Mutter eine so zärtliche
Besorgnis äußert, daß sie immer bei ihr bleiben möchte und von
überall in ängstlicher Teilnahme nach Hause eilt, um sich zu über-
zeugen, daß der Mutter nichts geschehen sei. Die Analyse deckt diese
scheinbar liebevollste Anhänglichkeit als Reaktion eines in der Kind-
heit gegen die Mutter gerichteten Todeswunsches auf, von dem die
Patientin heute stets befürchtet, daß er in Erfüllung gehen könnte,
wie sie es seinerzeit gewünscht hatte.
Nicht immer also sind die psychologischen Beziehungen in dem
Verhältnis zwischen Eltern und Kindern, und Aveiterhin zweier
Menschen überhaupt, so einfache. Statt der bis jetzt allgemein ange-
nommenen Neigung zwischen andersgeschlechtlichem Elternteil uns
Kind kann auch der Haß uns in diesem Verhältnis plötzlich über-
raschen. Zur Aufklärung dieses unerwarteten Verhaltens leitet uns
das Ergebnis der Freudschen Neurosenpsychologie, daß jeder psy-
chische Effekt auf zwei verschiedene Arten entstanden sein kann:
entweder direkt oder durch Reaktion. Obwohl seine Herkunft im
allgemeinen nicht offensichtlich ist, so verrät doch besonders der
Haßaffekt an unscheinbaren Anzeichen und noch mehr an seinen Kon-
sequenzen schon dem einigermaßen geübten Beobachter seine Quelle.
^) So berichteten kürzlich die Zeituugen aus Amerika die Verhaftung einer
Frau J. n., die ihre Stieftochter vergiftet haben soll. „Als Motiv der Tat wird
angenommen, daß Frau H. auf ihre Stieftochter eifersüchtig war, weil sie glaubte,
dali ihr Gatte seine Tochter mehr als sie liebe."
.30 1. l>ic iiidividuclK'ii Wnr/cln der Inzcstpliantasic.
l)vv PsvcluKinalyör ist i's dann immer Iciclit, liinter Sdlclicn a u f-
iälli^'ön Abneigungen uder Haßimpulsen regelmäßig die ursprüng-
liche Liebesregung aufzudecken, als deren Abwehr (Verdrängung)
sich der übermächtige Haß enthüllt. Liebe und Haß sind i)sycho-
logisch nicht nur sehr eng verwandt, sondern man ist im Hinblick
auf gewisse Ergebnisse der Psychoanalyse genötigt, sie als identischen
Affekt anzusehen, dessen Vorstellungsinhalt sich nur ändert, als ein
und dasselbe Gefühl, das einmal mit positivem, ein andermal mit
negativem Vorzeichen erscheint. Eine Brücke zu dieser Transponieiung
ist die Eifersucht. So ist es z. B. leicht begreiflich, daß die mit dem
Heranreifen des Sohnes sich steigernde Neigung der Mutter (für das
Verhältnis von Vater und Tochter gelten ähnliche Bedingungen) beim
Sohne im selben Verhältnis, mit zunehmendem Alter der ]\lutter, ab-
nimmt, und daß seine Liebschaften oder Heiratspläne die unbewußte
Hoffnung der Mutter gleichsam vernichten. Ihr intensiver Widerstand
gegen eine Ehe ihres Sohnes (wie beim Vater gegen die Verheiratung
der Tochter), der sich dann in der gefürchteten Weise auf das neue
Schwiegerkiud überträgt, entstammt eigentlich der Liebe zum eigenen
Kind, dessen „Untreue"^ nie verziehen und dessen Ehcleben nun aus
lauter verdrängter Liebe durch den Schwiegermutter-Haß verbittert
wird. Diese Auffassung des selbständigen Ehelebens der Kinder im
Sinne einer entdeckten Untreue gegen die Person der Eltern ent-
stammt aber selbst wieder dem infantilen Vorstellungsleben, welches die
Entdeckung des Geschlechtsverkehrs als Untreue empfindet.
Die erwähnte Ambivalenz unserer Gefühlseinstellungen, von der
wir uns unser Leben lang nicht freimachen können, äußert sich zu-
erst und am intensivsten im Verhältnis zu den Eltern, die ja wohl
beide ursprünglich geliebt werden. Kehrt sich dann infolge der
Üdipus-Einstellung die gegen den gleichgeschlechtlichen Elternteil bis-
her latent gewesene Abneigung voll hervor, so muß der dadurch aktuell
gewordene Widerstreit der Gefühle zu den ersten „Konflikten der
kindlichen Seele" ^) Anlaß geben, in denen bereits, wie vereinzelte
Kinderanalysen gezeigt haben, alle später zur Neurose führenden
Konstellationen gegeben sind.
Das von Freud für den einseitig voll ausgeprägten Ödipus-
Komplex gefundene frühzeitige Auftreten echter Genitalseusationen im
Gefolge entsprechender elterlicher Zärtlichkeiten ist walirscheinlich
konstitutionell prädisponiert, wie ja auch „in der Sexualkoustitution
des kleinen Hans die Genitalzone von vornherein die am inten-
sivsten lustbetonte unter den erogenen Zonen ist" (a. a. O. S.
81). Von der weiteren Entwicklung der konstitutionell gegebenen
Genitalzone und von ihrem Verhältnis zu den anderen erogenen
Zonen hängt dann das weitere Schicksal der Libido und damit des
ganzen Menschen ab. Wie die frühzeitige und intensive Betonung
') Vpl. C. G. .Tunp im Jahrb. f. Tsa., I., 1009.
Psychologische Stellung des Künstlers. 31
und Betätigung der Genitalzone zur gesteigerten Phantasietätigkeit und
zur vorzeitigen Objektwahl, die zunächst die Mutter treffen muß, führen
kann, illustriert die Liebesgeschichte des kleinen Hans. Ebenso wie
es bei Fixierung dieser inzestuösen Neigung zum Scheitern in der
Neurose kommt. Aber auch die Ansätze zu einem späteren normalen
Liebesleben sind in Hansens Beziehungen zu seinen kleinen Gespielinnen
gegeben, auf die er seine Neigung zur Mutter überträgt. Und schließ-
lich deutet Freud auch an, wie diese frühzeitige Betonung der Ge-
nitalzone, so notwendig sie zur Inaugurierung des späteren normalen
Liebeslebens ist, bei geringen graduellen Überschreitungen zu einer
schweren „Perversion'", der homosexuellen Liebesneigung führen kann
(a. a. 0. S. 82).^) Zwischen all diesen möglichen Ausgängen liegt
nun noch einer, an den unsere Untersuchung anknüpft. Es ist dies
eine Lösung des Konflikts, die das Individuum befähigt, mit Ver-
meidung realer Inzesthandlungeu sich sowohl vor der Neurose als auch
vor der Perversion zu bewahren und durch Ausleben der Inzest-
gefühle in der Phantasie das Gleichgewicht einer ziemlich normalen psycho-
sexuellen Entwicklung herzustellen. Es können das die Menschen,
die ich in einer früheren Arbeit-) unter dem Begriff des „Künstlers"
zusammengefaßt habe und dahin charakterisierte, daß sie die Störungen
ihrer psych osexuellen Entwicklung ausgleichen durch eine überreiche,
der Macht des Bewußtseins aber immer noch unterworfene Phantasie-
tätigkeit, die ihren im Unbewußten lebendig gebliebenen infantilen
Regungen möglichst vollkommene Befriedigungen schafft und zugleich
auch den länofst unter^eofano^enen Kinderwünschen der normalen Er-
wachsenen Erfüllung bringt. Von den Künstlern, zu denen ich neben dem
Musiker und dem bildenden Künstler auch den Philosophen, den Reli-
gionsstifter und den Mythenbildner ^) rechne, ist es vor allem der Dichter
und insbesondere der Dramatiker, der uns durch das Medium der
Sprache hinter verhältnismäßig leichter Verhüllung seine heimlichsten
Empfindungen offenbart und dadurch unsere eigenen gleichgestimmten
nur weniger intensiven Regungen zu einem kurzen Scheinleben er-
weckt. Auch Avaren es ja von jeher die Dichter, die uns auf dem
Wege unbewußter Seelenbekenntnisse die tiefsten Einblicke in das
menschliche Seelenleben gewährten und Freud konnte an der Analyse
einer modernen Dichtung zeigen^), wie diese vom Dichter unbewußt
erfaßten und sinnfällig dargestellten seelischen Erfahrungen mit den
^) Auch sonst steht die Homosexualität der Inzestneigung in psychologischer
Beziehung sehr nahe, wie vereinzelte Hinweise zeigen sollen. Die ausführliche Dar-
legung der Beziehungen dieses Komplexes zum dichterischen Schaffen ist einer spä-
teren Untersuchung vorbehalten.
^) Der Künstler, Ansätze zu einer Sexualpsychologie. Wien und Leipzig 1907.
^) Über die Barechtigung, auch die Gebilde der „Völkerpsjche" unter diesem
Gesichtspunkt zu betrachten, vergleiche man meine mythologischen Arbeiten : Der
Mythus von der Geburt des Helden 1909, Die Loheugrin-Sage 1911.
■*) Der Wahn und die Träume in W. Jensens „Gradiva". 1. Heft der
Schriften zur angew. Seelenkunde. Wien und Leipzig 1907. (2. Aufl. 1912 1.
32 I. IMc individiu'llcn Wurzeln der Inzestpliautasic.
durch hiMviißto wisscnscli.-iftliclic i\rli<'it cnuittclton ]isycli(il(i*i^iöclK'n
Krki'nutnisscn UbereinstiininL'u. Ist so diu unbewußte Darstclluu«^ und
nicht die bewußte Zer<^liederung der Wc^, auf dem der Dichter sich
von den seelischen KuuHikten befreit, so ist auch seine bewußte
Seelenkenntnis und vor allem die Freimütigkeit, fast möchte man
saften Schainlosi<^keit, mit der er sie gelegentlicli offenbart, nicht ge-
rinir anzuschlagen. So sind auch die Inzestregunnfen von einzelnen
neueren Dichtern mehr oder minder l)ewußt erkannt und ausgesprochen
worden.
Stendhal, der tiefe Kenner aller menschlichen Leidenschaften,
schreibt in seinen : Bekenntnissen eines Egoisten: „Ich war
immer in meine Mutter verliebt. Ich wollte meine Mutter immer
küssen und wünschte, daß es keine Kleider gäbe. Sie liebte mich leiden-
schaftlich und schloß mich oft in ihre Arme. Ich küßte sie mit so viel
Feuer, daß sie gewissermaßen verjjflichtet war davonzugehen. Ich verab-
scheute meinen Vater, wenn er dazukam und unsere Küsse unter-
brach. Ich wollte sie ihr immer auf die Brust geben. Man geruhe sich
zu vergegenwärtigen, daß ich sie verlor, als ich kaum sieben Jahre alt
war. Sie starb in der Blüte und Schönheit ihrer Jugend. So habe ich
vor 4ö Jahren das verloren, was ich am meisten auf Erden geliebt habe. "
Ähnlich schreibt Baudelaire (Briefe von 1841 — 1866, Verlag Bruns,
Minden, S. 204): ..Was liebt das Kind so leidenschaftlich in seiner Mut-
ter, in seiner Wärterin, in seiner Lieblingsschwester? Ist es einfach nur
das Wesen, das es nährt, kämmt, wäscht und wiegt? Es ist auch die
Zärtlichkeit und die sinnliche Wollust. Dem Kinde wird diese Zärtlich-
keit ohne Wissen der Frau durch ihre ganze weibliche Anmut offenbar.'"
Auch der als Psychologe wenig gewürdigte Strindberg spricht es
wiederholt aus, daß jedes Weib für den Mann eine Mutter in nuce sei.')
^) Z. B. in der Skizze ..Hippolytos". — Mit Recht sucht darum Karin
Michaelis in einem Feuilleton der „Zeif (21.1. 1912) den an den euripideischen
Hippolytos gemahnenden Weiberhaß Strindbergs mit seinem eigenartigen infan-
tilen Verhültnis zur Mutter in Beziehung zu bringen. Ein Beispiel für viele möge
den Mutterkomplex des Dichters illustrieren. In seinem Trauerspiel: „Der Vater"
(Keclam Nr. 2489; steht der Rittmeister seiner Gattin Laura und seiner alten Amme
wie ein Kind der Mutter gegenüber, was der Dichter mit paranoischer Ofi'euheit
geradezu ausspricht. Der Amme gegenüber, der er sagt: „Du bist mir immer wie
eine Mutter gewesen," beklagt er sieb, daß sie und seine Frau ihn noch immer wie
ein kleines Kind behandeln (I, 13), worauf sie sagt: „Das kommt wohl daher, daß
alle Männer die Kinder der Frauen sind, die großen wie die kleinen — ". Und in
der großen Aussprache mit seiner Frau (II, 7| sagt er direkt: „Siehst du nicht, daß
ich hilflos wie ein Kind bin, hörst du nicht, wie ich dir mein Leid klage gleich wie
einer Mutter ..." Laura: „Weine, mein Kind, dann ha.st du deine Mutter wieder
bei dir. Erinnerst du dich, daß ich gleichsam zuerst als deine zweite Mutter in
dein Leben eintrat" , . Rittmeister: „ . . . ich wuchs mit dir, sah zu dir empor
wie zu einem höher begabten Wesen, und gehorchte dir, als wenn ich dein unver-
ständiges Kind wäre". — Laura: .,Ja, so war es damals, und darum liebte ich dich
wie mein Kind. Aber weKit du — ja, du sahst es wohl — : sobald deine Gefühle
ihre Natur änderten und du vor mir als mein Geliebter standest, da schämte ich
mich, und deine Umarmung war mir eine Freude, der Gewissensbisse nachfolgten,
Geständnisse von Dichtern. 33
Und in aller jüngster Zeit licat Peter Kos egger in „Heimgärtners Tage-
buch'^ das Typische der Inzestneigung unumwunden zugegeben, gelegentlich
der Bestreitung einer Behauptung, daß zwischen Mann und Frau absolut
keine Freundschaft bestehen könne, ohne daß das Geschlechtliche mitspiele :
„Es gibt freilich, meint er, genug Freundschaften, wo es mitspielt, bewußt
oder unbewußt. Ich gebe sogar zu, daß in der Liebe zwischen
Mutter und Sohn ein bißchen was Sexuelles liegt — unbe-
wußt natürlich. Liebt doch eine Mutter ihren Sohn ganz anders, als
ihre Tochter."
Freilich ist Dicht jeder Dichter so aufrichtig und kann es auch
meist gar nicht sein, denn diese Regungen bleiben ihm unbewußt und
finden ihren künstlerischen Ausdruck in den Werken, wo sie sich je
nach dem Grade ihrer Verdrängung in verschiedener Deutlichkeit
verraten. Denn wie der Psychologe die unbewußten Seelenströmungen
schon durch ihre bewußte Erfassung vergröbert, so geht auch die
künstlerische Bewältigung unbewußter Konflikte, trotz der subtilen
und variablen Mittel, die dem Dichter zur Verfügung stehen, nicht
ohne Vergröberung vor sich. Ja die, wie sich zeigen wird, den
Traum- und Neuroseumechanismen analogen dramatischen Ausdrucks-
mittel nötigen den Dichter zu einem Grad der Versinnlichung, der
uns die geheimsten Seelenregungen, die tief im Unbewußten schlummern,
ähnlich wie im Traum in voller Aktivität, in Leben umgesetzt, zeigt.
Dieses Ausleben der unbewußten Regungen, das ja auch das Traum-
leben charakterisiert, ist die Grundbedingung für die erlösende
Wirkung der Dichtung bei ihrem Schöpfer sowohl als beim Empfänger.
Wie im Traum bedingt aber auch bei der Dichtung diese Tendenz
nach völligem Ausleben der verdrängten Triebe eine entsprechende
Verhüllung ihres Zieles, die oft so weit gehen kann, daß deren ur-
sprünglicher Charakter fast unkenntlich wird und sich nur an un-
scheinbaren Details noch verrät. Doch ist es weder unsere Absicht, unsern
als wenn das Blut Scham gefühlt hätte. Die Mutter wurde die Geliebte! Ab-
scheulich!" Schließlich wird der Rittmeister defacto wieder zum Wickelkind, indem ihm
die Amme, in direkter Erinnerung an die kindliche Pflege, die Zwangsjacke anlegt, in
der er hilflos wie ein Säugling an ihrer Brust stirbt: „Neige dich über mich, so daß
ich deine Brust fühle! — O es ist süß, an Weibesbrust zu ruhen, ob es nun die der
Mutter oder die der Geliebten ist, am süßesten aber an der der Mutter!" — Einzelne
paranoische Züge erinnern auffällig an Schrebers Wahnvorstellungen, die Freud
(Jahrb. III, 1911) so glänzend aufgeklärt hat. Der Eifersuchtswahn, der sich in dem
Zweifel äußert, ob er der Vater seines Kindes sei, geht, wie sein Weiberhaß über-
haupt und seine „unmännliche" Einstellung den Frauen gegenüber, nicht nur auf
das infantile Verhältnis zur Mutter zurück, sondern hat auch homosexuelle Wurzeln,
welche nach Freud in der Genese der Paranoia die entscheidende KoUe spielen
und sich hier in einer Form äußern, die der Schreberschen Phantasie, ein Weib zu
sein, fast gleichkommen. Der Rittmeister findet nämlich eine Stütze des Zweifels an
seiner Vaterschaft in dem Umstand, da(J „kein Weib von einem Manne geboren ist"
(I, 13) und am Schluß (III, 13) sagt er: „Ein Mann hat kein Kind, nur die Frauen
bekommen Kinder, und darum kann die Zukunft ihnen gehören, wenn wir kinderlos
sterben ! "
Rank, Das Inzestmotiv. 3
34 I. l^it' individnellen Wurzeln der Tnzcstphantflsic.
Sc'liarlsiim im der Eutliüllimg solcher gänzlich verka]>pter Inzest-
jihiiiitasun zu crprubcn'), iiuoh handelt es sich darum, derartige be-
wußte Äußerungen von Dichtern, ^vie die oben angeführten, über das
N'orlinudensein sctlcher Gefühlsregungen beizul •ringen. Wir -wollen
vit'lnu'hr die nachhaltigen und bestimmenden Wirkungen aufzeigen,
^^•t•l('he diese bei allen Menschen in der Kindheit aktuellen, si)äter
verdrängten, unbewußt gewordenen Gefühlsregungen auf das Leben
und Schatien des Künstlers ausüben.-) Ja, wir bemühen uns zu er-
weisen, daß eine ganz bestimmte, im Hinblick auf die normale Ent-
wicklung als mißglückt zu bezeichnende Verdrängung dieser Regungen
die Vorbedingung für ihre spätere so licchwertige >Sublimierung und
damit für die Kntfidtung dichterischer Fähigkeiten ist. Denn bei
normaler Entwicklung erfahren alle diese mannigfaltigen infantilen
Sexualregungen eine vollständige Umarbeitung im Sinne des kulturell
Gestatteten und Geforderten, so daß sie ihren ursprünglichen Charakter
fast gänzlich verlieren. Vertiefter ])sychologisc}ier Forschung gelingt
es aber regelmäßig, ihn wieder aufzudecken. In seinen „drei Ab-
handlungen zur Sexualtheorie" (Wien und Leipzig 1905, 2. Aufl.
1910) hat Freud den bestimmenden Einfluß des Inzestkomplexes
auf das spätere normale Liebesleben des Erwachsenen dargetan. „Auch
wer die inzestuöse Fixierung seiner Libido glückh'ch vermieden hat,
führt er dort aus (S. 08), ist dem Einflüsse derselben nicht völlig
entzogen. Es ist ein deutlicher Nachklang dieser Entwicklungsphase,
wenn die erste ernsthafte Verliebtheit des jungen Mannes, wie so
häufig, einem reifen Weibe, die des Mädchens einem älteren, mit
Autcjrität ausgestatteten Manne gilt, die ihnen das Bild der Mutter
und des Vaters ])eleben können. In freierer Anlehnung an diese
Vorbilder geht wohl die Objektwahl überhaupt vor sich. Vor allem
sucht der Maun nach dem Erinnerungsbild der Mutter, wie es ihn
seit den Anfängen der Kindheit beherrscht." Die besonderen Be-
dingungen und einige sehr auffällige Charaktere eines solchen von
der Neigung zur ]\Iutter geleiteten Liebeslebens hat Freud jüngst
als einen „besonderen Typus der männlichen Objektwahl" zusammen-
gefaßt.^) Nach den früheren Ausführungen wird es uns nicht wundern,
diese speziellen Charaktere, die das reale Liebesleben der unter der
Herrschaft des Inzestkomplexes stehenden Menschen vereinzelt auf-
weist, in den großartigen Phantasiegebilden der Dichter vollzählig
') Als ein gelungenes Unternehmen dieser Art muß Stekels Analyse von
Grill parzers: Traum ein Leben bezeichnet werden (Dichtung und Neurose
S. 42 ff.).
*) Für das Leben einzelner Dichter hat S a d g e r in seinen pathographisch-
psychologischen Studien die Bedeutung des Inzestkomplexes nachzuweisen versucht.
Vgl. „C. F. Meyer", Wiesbaden 1908, „Aus dem Liebcsleben Nikolaus Lcnaus",
Wien und Leipzig 1909 und „Heinrich v. Kleist", Wiesbaden 1909.
•"•j Beiträge zur Psychologie des Liebeslebens, I. Über einen besonderen Typus
der (3bjektwahl beim Manne (Jahrbuch f. psa. Forschungen, Bd. III, 1911).
Der Inzest in der Phylogenese. 35
und in ihrer schärfsten Ausprägung wiederzufinden.^) Ist duch der
Dichter durch keinerlei Rücksicht auf die realen Verhältnisse genötigt,
seine maßlosen, aus der Kinderzeit lebendig gebliebenen Wünsche auf
das Maß des Erreichbaren zu reduzieren und sich ihre restlose Er-
füllung in der Phantasie zu versagen. Den Psychoneurotiker dagegen
hindern daran die mächtigen Abwehrregungen, welche sich gegen
diese im Laufe der Reife verstärkten und darum als verwerflich emp-
fundenen Begierden erheben: ein Konflikt, der schließlich zur Neu-
rose führt. Der normal verlaufenden Entwicklung allein ist es ge-
geben, die Erinnerung an diese urzeitlichen Kinderwünsche zu ver-
wischen und ihre lebendig gebliebene Affektintensität mit den kulturell
gebotenen Befriedigungsmöglichkeiten in Einklang zu bringen. Daß
dies fast nie völlig gelingt, lehren die Träume Normaler, in denen
hinter den unvollkommen befriedigten aktuellen Wünschen zeit-
weilig die alten Kindergelüste Befriedigung heischend auftauchen.
Wie nun Freud die Träume des einzelnen als nachträgliche
verhüllte Realisierung infantiler Wunschregimgen verständlich machte,
so hat er das Phänomen des Träumens als Wiederbelebung des Kinder-
seelenlebens der Menschheit auffassen gelehrt: „In das Nachtleben
scheint verbannt, was einst im Wachen herrschte, als das psychische
Leben noch jung und untüchtig war . . . Das Träumen ist ein Stück
des überwundenen Kinderseelenlebens" (Traumdtg. S. 349). Und so
ist auch unzweifelhaft, daß in den Inzestträumen der heutigen Menschen
die alte Familieninzucht Aveiterlebt, die sicher einmal real war. So
heißt es bei Westermarck -): „Wie bei den übrigen Tieren, gab
es gewiß auch bei den Vorfahren der Menschen eine Zeit, in welcher
Blutsverwandtschaft kein Hindernis des Geschlechtsverkehrs bildete."
Wenn es also, wie so häufig, unseren Kindern selbstverständlich scheint,
daß Vater und Mutter seit jeher miteinander verwandt gewesen seien,
welche Vorstellung als mißverständliche infantile „Zeugungstheorie" in
der eigenen Inzestphantasie Aviederkehrt, so gibt auch dieser naiven
Auffassung die Entwicklungsgeschichte des menschlichen Geschlechts-
lebens eine gewisse Berechtigung, wie ja anderseits diese naive An-
nahme des Kindes gleichsam dessen eigene Inzestgefühle zu recht-
fertigen sucht.
Es muß anderen Untersuchungen vorbehalten bleiben, dem phy-
logenetischen Entwicklungsgang der Inzestregungen nachzugehen. In
diesem Zusammenhange kann es sich nicht darum handeln ihre Ent-
stehungs- und Entwicklungsgeschichte im Menschengeschlecht aufzu-
zeigen. Wir gehen vielmehr von der durch die Forschungen Freuds
erwiesenen Tatsache der EKistenz dieser Inzestgefühle im unbewußten
Seelenleben aller heutigen Menschen aus und verfolgen ihre Wir-
kungen innerhalb eines eng begrenzten Gebietes. Die Freud sehe
*) Vgl. Rank: Belege zur Rettungsphantasie (Zentralbl. I, 1911, S. 331 ff,).
2) Sexualfragen. Leipzig 1900, S. 45.
3»
)\(\ I. IMc iiulix idncUcn \Viir/.(>lii der Inzcstphantasic.
AulTassuiig' diosos Pmblcins iintcrsclu'idet sich von jeder anderen vor-
nehnilich churli zwei jMerkinale. \\'enn von der „(latten-, Kitern-,
Kinder- nnd (Jeschwisterliebe'" jetzt „immer mehr anerkannt wird,
(la(i die genannten Abarten der Liebe bis zur Freundschaft und
Nächstenliebe ausnahmslos der sexuellen Liebe entsprungen sind" ^),
so könnte das unter geivissen Voraussetzungen als phylogenetische
Hestiltigung der Freudschen Anschauung gelten, ist aber keineswegs
mit ihr selbst zu identifizieren. Freud ist vielmehr auf Grund seiner
psychologischen Forschungen zur Annahme gedrängt worden, daß die
sogenannten Formen der „asexuellen Liebe" auch heute noch in
der individuellen Entwicklung aller ]\Ienschen ur-
sprünglich sexuellen Kegungen entstammen, ja daß sie
überhaupt von sexuellen Empfindungen gespeist werden und ohne un-
bewußte erotische Beimengung gar nicht existieren können. Der
Unterschied zwischen der normalen Verwandtenliebe und einer als
inzestuös aufzufassenden liegt nur in der ursprünglichen Intensität des
sexuellen Urtriebes respektive in dem Grad der Fähigkeit ihn zu sub-
limieren und kulturell zu verarbeiten. Neben dieser Vertiefung des
Problems ist das zweite daraus folgende Merkmal der Freudschen
Auffassung die den Inzestregungen eingeräumte entscheidende Be-
deutung für das Seelenleben der Menschen. Diese Bedeutung kann
man jedoch nur dann voll würdigen, wenn man den durch die psy-
choanalytischen Forschungen aufgedeckten Aveiten Umfang des Inzest-
komplexes berücksichtigt, in den nicht nur alle feineren Beziehungen
der Erotik, sondern auch gewisse daraus entspringende gegensätzliche
Gefühlsregungen (Vaterhaß) einzubeziehen sind. Unter diesen Ge-
sichtspunkten, die eine notwendige Folge unserer psychologischen Ein-
sichten sind, sei unsere Stellungnahme zum Problem der Entwicklungs-
geschichte der Inzestgefühle mit wenigen Strichen gekennzeichnet.
Der Inzestakt selbst scheint nach den früheren Ausführungen
keiner besonderen Erklärung zu bedürfen; er ist die direkte Reali-
sierung einer aus der Kinderzeit lebendig gebliebenen und mächtig
verstärkten inzestuösen Wunschregung innerhalb des erwachsenen
Liebeslebens, und als solche in primitiven Zuständen eine nicht nur
wie Westermarck meint, mögliche, sondern vom rein psychologischen
Standpunkt die selbstverständlichste Art des Geschlechtsverkehrs. Erst
mit dem Begriff der Blutschande, der nur eine Folge höherer Zi-
vilisation, insbesondere der Festigung des Familienlebens sein kann,
beginnen die Rätsel, die Psychologen, Kulturhistoriker und Ethno-
graj)hen in gleicher Weise beschäftigen. Die alte und mit auffallender
Zähigkeit bis zum heutigen Tage festgehaltene Ansicht, daß der Wider-
wille gegen die Blutschande sowie weiterhin deren ausdrückliches
Verbot durch einen natürlichen Trieb zur Gesunderhaltung^ der Art
') P. Näckc: Archiv für Kriminalanthropologie und Kriminalistik. Leipzig
1902, BJ. 20, p. 106.
Der luzest in der Phylogenese, 37
l>ediuo:t sei ^), wird von objektiven Beurteilem des Sachverhalts als
unhaltbar bezeichnet. So kommt M a r c n s e ^) bei kritischer Sichtung
des g;esamten Materials zu folgenden Ergebnissen: ., Erstens, daß der
Widerwille vor der Blutschande wohl kaum ein auf phylogenetischer
Vererbung beruhender, auf das Menschengeschlecht überkommener
Instinkt sein kann, und zweitens, daß ein derartiger Instinkt jeden-
falls nicht durch einen natürlichen Trieb zur Gesunderhaltung der
Art bedingt sein könnte" (S. 143). Ergibt sich die erste Folgerung
aus der Häufigkeit realer Inzestverhältnisse in alter und neuer Zeit
und ihrer bei einzelnen Völkern ganz verschiedenen Wertung in
Brauch, Sitte xmd Recht, so wird die zweite Folgerung nahegelegt
> durch die Erfahrung, daß die Art durch den Sexualverkehr zwischen
nahen Verwandten an und für sich überhaupt gar nicht bedroht zu
werden scheint" (a. a. 0. S. 141). Die zahlreichen, aus allen Zeiten
überlieferten Fälle der Übertretung des luzestverbots sowie die noch
zahlreicheren Fälle, die nicht zu unserer Kenntnis gelangten, ferner die
bei vielen Völkern aller Zeiten erlaubten ja geforderten Verwandten-
ehen soTN^ie deren nicht ungünstig^er Einfluß auf die Kachkommenschaft.
Dinge, die uns im Verlaufe unserer Untersuchung noch beschäftigen
werden, lassen in der Tat eine skeptische Stellung den bisherigen
Theorien gegenüber gerechtfertigt erscheinen. Einen Schritt weiter
zu einer neuen fruchtbaren Auffassung des Problems geht Abraham,
der in einer kleinen, sehr l^eachtens werten Arbeit ..die Stellung der
Verwandtenehe in der Psychologie der Neurosen" '^) präzisiert. Er
zeigt, daß die hergebrachte Lehre, die Ehe unter Blutsverwandten habe
nervöse und psvchische Erkrankungen der Kachkommenschaft zur
Folge, der Kompliziertheit der Verhältnisse nicht genügend Rechnung
trage. „Daß in vielen Familien Inzucht und nervöse oder psychische
Störungen zusammentreffen, kann keinem Zweifel unterliegen. Daraus
folgt aber nicht ohne weiteres, daß beide Erscheinungen in dem ein-
fachen Verhältnis von Ursache und Wirkung zueinander stehen
müssen. Es fragt sieh vielmehr, ob das Vorkommen von Verwandten-
ehen in gewissen Familien nicht seinerseits eine spezifische Ursache
hat. ob nicht gerade in neuropatliischen Familien eine eigentümliche
Veranlagung dazu drängt, daß die Familienmitglieder untereinander
heiraten. '• Und auf Grund gesicherter Ergebnisse aus der Neurosen-
psyehologie nimmt Abraham -für die Fälle, in welchen Verwandte
nur durch individuelle Sxnnpathie zusammengeführt werden, an, daß
die Fähigkeit, die Liebesneigung auf fremde Personen zu übertragen,
*) Vgl. Westermarck („Gattenwahl, Inzucht und Mitgift.- Die neue
Generation. Januar 1908\ der die instinktive Abneigung gegen Blutschande als
Ergebnis der natürlichen Auslese auffaßt. Siehe auch „S e x u a 1 f r a ge n",
S. 40 ff.
-) Zar Kritik des Begriffes und der Tat der Blutschande. Sexualproblenie
März 1908.
"i Jahrbuch f. psychoanalyt. und psychopathol. Forschangen I, 1909.
38 1. I*"' iii(li\ itliicUtii \Viirzclu der liizcstphantasie.
unzureichend i&t, ^viilirend die Zuneigung zu Mitgliedern der eigenen
Familie das normale Mal.! liber&teigt." Gegen dieses Verhalten gewisser
keineswegs nur neurotischer Personen k(jntrastiert auffällig der große
Abscheu der meisten Menschen vor blutschänderischen Verbindungen ^),
ja selbst vor dem Gedanken daran. Dieser stark betonte Widerwille,
an den die Theorie von der phylogenetisch überkommenen Abneigung
gegen den Inzest anknüpft, berechtigt den Psychologen zu einem
Schluß, der dieser, wie es scheint zur Kechtfertigung der Menschheit
erfundenen Theorie direkt widerspricht: daß nämlich die inzestuösen
Impulse und Gedanken ehemals, wie in der ontogenetischen Ent-
wicklung so auch in der Phylogenese, intensiv lustbetont waren
und später der Verdrängung verfielen, die eine AfFektverwandlung
mitbedingt (Traumdeutg. S. 375). Im Gegensatz zu den herrschenden
Theorien muß also mit dem größten Nachdruck darauf verwiesen
werden, daß keineswegs der Widerwille gegen den Inzestakt ein auf
phylogenetischer Grundlage vererbter Instinkt sein kann, daß vielmehr
die positive Inzestneigung ein solcher vererbter Instinkt sein dürfte,
wie die Seelenanalysen der Neurotiker kraß zeigen, die mit ihrer
Unfähigkeit die infantile Libido von den allernächsten Verwandten
abzulösen uns nur ein Stück archaischen Liebeslebens vorführen, dessen
glückliche Überwindung den meisten Menschen nur auf Kosten eines
solchen übertriebenen Absehens möglich geworden ist -)• Hat dieser
vermutlich organisch vorgebildete Verdrängungsprozeß einmal bei der
i\Iehrzahl der Individuen eingesetzt, so schafft er ein Sittengebot, das
die geschlechtliche Verbindung von Blutsverwandten, vornehmlich aus
sozialen und ökonomischen Interessen, verbietet ^). Die Macht dieses
Gebots beschleunigt und befestigt dann bei den im Entwicklungs-
prozeß zurückgebliebenen Individuen sowie in späteren Kulturperioden
diese aus natürlichen Entwicklungsgesetzen eingeleitete Verdrängung
auf künstliche W^eise oder stempelt beim Scheitern eines solchen Ver-
suches diese Individuen zu geistig Minderwertigen und Verbrechern.
Die phylogenetisch überkommenen Ansätze der Inzestneigung
erhalten natürlich erst durch die jeweilige individuelle Entwicklung
ihr eigentümliches Gepräge. Sie können sich bei entsprechender kon-
stitutioneller Betonung und späterer Verstärkung, die ihnen eine Intensiv-
erhaltung bis in die Zeit der Reife ermöglicht, in wirklichen Hand-
lungen äußern, die unsere Kultur als Perversionen und Verbrechen
qualifiziert, während sie bei normaler Unterdrückung und anderweitiger
psychischer Verarbeitung unbewußt werden, zeitweilig im Traumleben
wieder auftauchend. Erweist sich aber einer besonders intensiven Be-
') Weetermarck (Sexualfraf^en, S. 40): „Augensclieiulicb ist der Abscheu vor
der Blutschande fast der ganzen Menschheit gemein."
*j Ähnlich konnte Freud die auffällige „Inzestscheu" mancher wilden Stilinme
als Abwehrausdruck auffassen ('^Tmago", Zeitschr. f. Anwendung der Psa. auf die
GeisteHwissenscbaften, Heft 1, Milrz 1912).
^j Freud: Sexualtheorie, S. 6G.
Die individuellen Ausgangsmöglichkeiten. 39
tonung und frühzeitigen Fixierung gegenüber die spätere Verdrängung
als mißglückt oder nur teilweise haltbar, so wird der fortdauernde
Kampf dieser Regungen gegen ihre Abwehrimpulse zu schweren
Störungen der ps^^chosexuellen Entwicklung Veranlassung geben,
während sie unter besonders günstigen Ausgleichsbedingungen einer
unzureichenden Verdrängung, die zur Sublimierung führen, zu
Leistungen befiihigt werden, welche wir als die höchsten Schöpfungen
des Menschengeistes bewundern ^).
^) Coheu (Die dichterische Phantasie und der Mechanismus des Bewußt-
seins. Zeitschr. f. Völkerpsychologie und Sprachw. Bd. G, 18G9, S. 194): „Dieser
Gedanke, daß ein gemeinsames Gesetz für alle Gedankenbilduugen der Menschen
vorhanden sein müsse, von dem unmittelbarsten Ausdruck der natürlichen Empfindung
des Idioten bis zur hochentwickelten Darstellung der tiefsten Gedanken bei Denkern
und Dichtern, dieser Gedanke hat als Ahnung zu allen Zeiten die Menschen
gestreift."
II.
Typen des Inzestdramas.
(Ödipus. — Hamlet. — Don Carlos.)
Die Mechaiiismen des dichterischen Schaffens.
.,Dio Genesis eines Kunstwerkes ist die
Genesis der Kunst, und wer zum Beispiel
wissen möchte, wie der menschliche Geist
überhaupt zur Tragödie kam, der würde Be-
lehrung darüber empfangen, wenn Shake-
speare uns gesagt hätte, wie er zum Hamlet
oder zum Lear kam." Hebbel.
Das griechische Altertum hat uns in seiner naiven Anschauungs-
weise einen Sagenstoff überliefert, der in den mythischen Bildern von
der Tötung des Vaters und dem Liebesvorkehr mit der Mutter unver-
kennbar die inzestuösen Wunsehregungen des Kindes in krasser
Deutlichkeit verwirklicht zeigt. Der Inhalt dieses IMythus weist eine
so auffällige Übereinstimmung mit den typischen Inzestträumen auf,
die heute noch viele Menschen haben, daß man zu der unabweisbaren
Annahme gedrängt wird, es seien nicht nur dieselben seelischen Mächte,
die den Traum hervorbringen, als Schöpfer des Älythus anzusehen,
sondern auch die seelischen Vorgänge bei diesen zwei Produktionen
als eng verwandte anzuerkennen. ^) Auf Grund dieser IMcenntnis ist
es Freud gelungen, im Zusammenhang der Traumdeutung die psycho-
logische Wurzel dieses ]\Iythus, der Ö d i p u s - S a g e, aufzudecken : „Die
Ödipu-Fsabel ist die Reaktion der Phantasie auf die beiden typischen
Träume (vom Tode des Vaters und vom geschlechtlichen Verkehr
mit der jMutter) und wie die Träume vom ErAvachsenen mit Ab-
lehnungsgefühleu erlebt werden, so muß die Sage Schreck und Selbst-
bestrafung in ihren Inhalt mit aufnehmen."^) In einer späteren Kultur-
') Nälieres darüber findet mau bei Abraham: Traum und Mvthos (Heft 4
der von Prof. Freud herausgegebenen „Hchriften zur angewandten Seelenkunde").
Wien und Leipzig l'.tOO und liank: „Der Mythus von der Geburt des Helden,
ebenda, Heft ü, 1!K)9.
-J Die zum < idipusproblem hier angeführten Darlegungen Freuds sind den
Seiten 17C u. ff. der .,Tra u mde u t u ng" (1000) entnommen (2. Auflage, lOO'.l,
S. 185 u. ff.).
Sophokles' „König Ödipus". 41
periode, wann diese kindlichen Liebesphantasien in der Psyche des
mythenbildenden Volkes untergegangen und nur in wenigen Individuen,
darunter auch den Künstlern, noch lebendig sind, greift der Dichter,
von mächtigen unbewußten Erinnerungen gedrängt, nach dem Sagen-
stoff, um ihn nachbildend aus seinen eigenen Mitteln von neuem zu
gestalten und sich auf diese Weise sowohl von den Befriedigung hei-
schenden Wunschregungen, als auch von den sie begleitenden peinlichen
Abwehrempfindungen, kurz von seinen tiefsten seelischen Konflikten
zu befreien. Eine solch innige, dem Dichter jedoch niemals bewußte
Beziehung der sein künstlerisches Interesse fesselnden Stoffe zu dem
Inhalt seiner verborgensten Phantasien ^) dürfen wir schon hier als
Ergebnis der folgenden Detailuntersuchungen vorwegnehmen, um uns
die auffällige Bevorzugung zu erklären, deren sich das Inzestmotiv
bei den bedeutendsten Dichtern aller Zeiten zu erfreuen hatte. Das
regelmäßige Vorkommen der kindlichen Inzestphantasien, ihr sehr
bald als anstößig empfundener Inhalt, der zu ihrer intensiven Ver-
drängung führt und schließlich die mächtigen Nachwirkungen, die sie
aus dem Unbewußten heraus auf das Gefühls- und Phantasieleben des
Erwachsenen ausüben, lassen uns die allgemeingültige dramatische
Wirksamkeit des Inzestthemas, sowie seine häufige dichterische Be-
arbeitung begreiflich erscheinen. In wie entscheidendem Sinne und
in welcher Weise diese in der Kindheit aktuell gewesenen und später
unzureichend verdrängten erotischen Phantasmen die dichterische
Stoffwahl und besonders die Gestaltung des gewählten Themas beein-
flussen, läßt sich sehr instruktiv an einer summarischen Vergleichung
verschiedener, besonders charakteristischer Darstellungsformen des
nämlichen Grundthemas zeigen. Eine solche Betrachtung führt nicht
nur zur Einsicht in einige wesentliche Vorgänge des dichterischen
Schöpfungsaktes, sondern auch zur Erkenntnis, daß diese jMechanismen
im Laufe der kulturellen Entwicklung gewissen gesetzmäßigen Modi-
fikationen unterliegen, die nur auf Grund einer stetig fortschreitenden
und sich im Seelenlel)en der Menschheit immer intensiver durch-
setzenden Verdrängung der vorzeitigen erotischen Trieb- und Phantasie-
betätigung verständlich wird. Entsprechend diesem seelischen Ver-
drängungsprinzip tritt in der dramatischen Gestaltung des Inzestthemas,
die uns im „König Ödipus" des attischen Tragikers Sophokles
überliefert ist, die erotische Wunscherfüllung noch unentstellt zu Tage.
Um nun ein typisches Beispiel für die Wirkung der fortschreitenden
Verdrängung zu geben, sei es gestattet, dieses aus dem naiven Mythen-
stoff geschöpfte Inzestdrama in übersichtlichem Zusammenhang mit
zwei anderen dramatischen Schöpfungen zu betrachten, die weit aus-
einander liegenden Kulturj^erioden angehören, aber wie sich zeigen
^) Siehe Freud: „Der Dichter und das Phantasieren" (Sammlung klei-
ner Schriften zur Neurosenlehre, 2. Folge, Wien und Leipzig 1909, S. 197
u, ff.).
42 11. Typen di-s Inzestdramas.
wird, der gloichcu uubewußten Quelle im Seelenleben ihrer Dichter
ents}>riino^en sind.
Die Sa^e, der Sophokles bei seiner dramatischen Schöpfung
ziemlich treu folgte, erzählt nun,') daß Odipus, der Sohn des Laios,
des Königs von Theben und seiner (iemahlin .lokaste, sofort nach der
Geburt ausgesetzt wurde, weil ein Orakel dem nach Kindersegen ver-
langenden Vater verkündet hatte, daß ihm bestimmt sei, von einem
S)hn getötet zu werden. Der zur Aussetzung verurteilte Säugling
wird von Hirten gerettet und wächst als Königssohn an einem fremden
Hufe auf. bis er, seiner Herkunft unsicher, das Orakel darU})er be-
fragt und den Hat erhält, die Heimat zu meiden, weil er der Mörder
seines Vaters und der Ehegemahl seiner Mutter werden
müßte. Auf dem Wege von seiner vermeintlichen Heimat weg, trifft
er mit König Laios, seinem Vater, zusammen, den er nicht kennt und
erschlägt ihn im Streite. Dann kommt er vor Theben, löst dort das
Kätsel der Si)hinx, die der Stadt Verderben bringt und wird zum
Danke dafür von den Thebanern mit dem für den Befreier der Stadt
ausgesetzten Lohn beschenkt : er wird zum König gemacht und erhält
die Hand Jokastes, seiner Mutter. Lange Zeit regiert er geehrt und
in Frieden und zeugt mit der ihm unbekannten Mutter zwei Söhne
und zwei Töchter. Da bricht eine Pest in der Stadt aus und die
Thebaner. die das Orakel um ein Befreiungsmittel von der Seuche
befragen, erhalten durch abgesandte B(jten den Bescheid, die Pest
werde aufhören, sobald der Mörder des Laios aus dem Lande ver-
trieben sein werde. — jMit der Erwartung dieser Boten beginnt das Drama
des Sophokles. „Die Handlung des Stückes besteht nun, nach Freud,
in nichts anderem, als in der schrittweise gesteigerten und kunstvoll ver-
zögerten Enthüllung — der Arbeit einer Psychoanalyse vergleichbar
— daß Odipus selbst der i\Iörder des Laios, aber auch der Sohn des
Ermordeten und der Jokaste ist. Durch seine unwissentlich verübten
Greuel erschüttert, blendet sich Odipus und verläßt die Heimat . . .
Sein Schicksal, heißt es in der Traumdeutung weiter, ergreift uns nur
darum, weil es auch das unserige hätte werden können . . . Uns
allen vielleicht war es beschieden, die erste sexuelle Regung auf die
Mutter, den ersten Haß und gewalttägigeu Wunsch gegen den Vater
zu richten; unsere Träume überzeugen uns dav(jn. König Odipus,
der seineu Vater Laios erschlagen und seine IMutter Jokaste geheiratet
hat, ist nur die Wunscherfüllung unserer Kindheit . . . Vor der
Person aber, an welcher sich jener urzeitliche Kindheitswunsch er-
füllt hat, schaudern wir zurück mit dem ganzen Betrage der Ver-
drängung, welche diese Wünsche in unserem Innern seither erlitten
haben" (1. c, S. 182j.
Zwei .lahrtausende später liefert dieses allgemein menschliche
Thema, allerdings in gänzlich veränderter Gestaltung, wieder einem
') Vgl. in lioschers „aasführlichem Lexikon der griechischen und römi-
schen Mythologie" den AbFohnitt über ÖdipuB.
Hamlet. — Don Carlos. 43
der größten Dichter den Stoff zu einem Drama : es ist Shakespeares
Hamlet. — Auch den Schlüssel zur einzig richtigen Deutung dieses
vielkomuientierten Werkes hat Freud in der Traumdeutung
(S. 183, Anmerkung) gegeben: „Hamlet kann alles — [er stößt
in rasch auffahrender Leidenschaft den Lauscher hinter der Tapete
nieder, schickt skrupellos seine beiden Freunde in den ihm
selbst zugedachten Tod] — nur nicht die Eache an dem Mann voll-
ziehen, der seinen Vater beseitigt und bei seiner Mutter
dessen Stelle eingenommen hat, an dem Mann, der ihm
die Realisierung seiner verdrängten Kinderwünsche
zeigt. Der Abscheu, der ihn zur Rache drängen sollte, ersetzt sich
so bei ihm durch Selbstvorwürfe, durch GeAvissensskrupel, die ihm
vorhalten, daß er, wörtlich verstanden, selbst nicht besser sei, als der
von ihm zu strafende Sünder. Ich habe dabei ins Bewußtsein über-
setzt, was in der Seele des Helden unbewußt bleiben muß." Die Ver-
wandtschaft der Hamlet-Fabel mit dem Ödipus-Thema ist nach dieser
Deutung offenkundig; doch beweist schon der Umstand, daß es hier
überhaupt einer solchen Deutung bedarf, die Einwirkung mächtiger
Gegenregungen einer starken Verdrängungstendenz. „In der ver-
änderten Behandlung des nämlichen Stoffes offenbart sich der ganze
Unterschied im Seelenleben der beiden weit auseinander liegen-
den Kulturperioden, das säkulare Fortschreiten der Verdrängung im
Gemütsleben der Menschheit. Im Ödipus wird die zu Grunde liegende
Wuuschphantasie des Kindes wie im Traum ans Licht gezogen und
realisiert ; im Hamlet bleibt sie verdrängt und wir erfahren von ihrer
Existenz — dem Sachverhalt bei einer Neurose ähnlich — nur durch
die von ihr ausgeheuden Hemmungswirkungen'' (Freud a. a. 0.).
Und wieder taucht, nach zwei Jahrhunderten, dieses typische
Motiv in Schillers Don Carlos auf; und auch hier wieder
zeigt sich in der Art der Behandlung des Stoffes die wachsende
Sexualverdrängung im Seelenleben der Menschen. Während nämlich
im Ödipus die Inzestphautasie realisiert erscheint, der Sohn also die
— ihm allerdings unbekannte — Mutter in Liebe umfängt und im
Hamlet infolge der fortgeschrittenen Verdrängung nur noch die Revers-
seite dieser Liebesueigung zur Mutter, der eifersüchtige Haß, zum
Vorschein kommt, geht im Carlos die Ablehnung dieses Wunsches
schon so weit, daß sfar nicht mehr die leibliche Mutter vom Sohne
begehrt wird, sondern seine Stiefmutter: eine Frau, die für den
Sohn nur den Namen „Mutter" führt, also keine BlutsverAvandte aber
doch die Gattin seines leiblichen Vaters ist. Und während im 0di})us
schon der Umstand, daß der Sohn seine Mutter für eine Fremde
hält, den Liebesverkehr ermöglicht, bleibt er im Carlos, trotzdem
die Mutter eine Fremde ist, also trotz der Beseitigung des an-
stößigen Hindernisses unmöglich, denn die inneren Widerstände da-
gegen, die Abwehrregungen des Dichters, sind ^u mächtig geworden.
Wie also bei Sophokles die Blutschande zwischen Mutter und Sohn
44 11. 'rvpcn lies Inzcstilr.'imas
<i^leiehs.-\iu unbtnvußt jj^crechtfcrtii^t wird, indem der Wunsch nach
Kealisicriin«]^ der luzostphantasic die Erkennung des verwandtschaft-
liehen Verhältuisses hinausschiebt, so bewirkt bei Schiller die Ab-
w e h r der verwerflichen Neigunj^: zur Mutter die Milderun«^ zum Stief-
verhältuis.
Noch deutlicher offenbart sich in der verschiedenen Behanllnug
des Verhältnisses zum Vater das Fortschreiten in der Verdrängungslinie.
Im Ödipus stellen sich dem Durchbruch der erotischen Leidenschaft
des Sohnes für die Mutter nur geringe innere Hemmungen entgegen ;
das äußere der Realisierung seiner Liebesphantasie im Wege stehende
Hindernis räumt der Sohn unbedenklich hinweg. Er hat, zu Beginn
der Tragödie, nicht nur seinen Vater schon vor langer Zeit getötet,
sondern auch jede Erinnerung daran verloren (verdrängt), wie er ja
infolge der Abwehr des Vatermordimpulses seinen Vater für einen
Fremden hält. Im Hamlet dagegen ist der Vater erst kurze Zeit tot
und die Erinnerung an ihn ist im Sohne so übermächtig noch
lebendig, daß sie sich als „Geist" zwischen Mutter und Sohn stellt
(III, 4). Wie jedoch Hamlet die Mutter nicht besitzt, so hat er auch
den Vater nicht selbst getötet; er läßt diese beiden Wunschregungen
— gleichsam als Kompromiß zwischen ihrem ungestümen Verlangen
und den sie hemmenden mächtigen Abwehrregungen — vom „Oheim"
realisieren. Aber ähnlich wie im Don Carlos die erotische Neigung
zur leiblichen Mutter sich verbirgt hinter der Verliebtheit in eine
Frau, die gleichsam nur zur Hälfte die Älutter des Sohnes ist (als
Gattin des Vaters), zum anderen Teil jedoch seine Geliebte (seine
frühere Braut), so verschanzt sich im Hamlet hinter dem berechtigten
Haß gegen den „Oheim- Vater" (.,uncle-father" II, 2) die gehässige
Eifersucht auf den leiblichen Vater. Es läßt sich an der Dichtung
selbst die Probe darauf machen, daß der mächtige Eifersucht- und
Haßaffekt Hamlets eigentlich dem leiblichen Vater gilt und daß seine
Ableitung auf die Ersatzperson des „Oheims" nur zur Verhüllung und
Rechtfertigimg dieser verwerflichen Regung dient. Es bedarf nämlich
nur einer, zu analytischen Zwecken erlaubten Ausschaltung der
Geisterepis(jden aus dem dramatischen Gefüge, um uns das zu Grunde
liegende Schema des wegen seiner A'^erliebtheit in die Mutter auf den
Vater eifersüchtigen Sohnes erkennen zu lassen. In diesem Schema
würde König Claudius natürlich als der leibliche Vater auf-
treten, gegen den sich der Haß des Sohnes richtet. Diese Offenheit
widerstrebt aber der mächtigen Verdrängungstendenz des Dichters
und darum wird der gehaßte Nebenbuhler um die Neigung der IMutter
zum Stiefvater gemildert, Avelcher der Stiefmutter im Don Carlos
entspricht. In diesem Sinne ist König Claudius gewissermaßen auch
zur Hälfte Hamlets Vater und als solcher sein Nebenbuhler und Feind;
zur anderen Hälfte dagegen, als Mörder des Vaters und als dessen
Stellvertreter bei der Mutter, ist er der verkörperte Wunsch Hamlets.
Während also bei Sophokles der Sohn den Vat<;r wirklich tötet, er-
Die säkulare Verdrängnng. 45
sclieint bei Shakespeare der Vater gleichsam halbtot (als „Geist"):
das heißt, es ist nur das mächtige unbeAvußte Verlangen des Suhnes,
das ihn tot wünscht imd auch so erscheinen läßt, während er doch
versteckt hinter der Maske des Stiefvaters lebt und der Sohn ihn nur
in dieser Verhüllung — ähnlich wie Ödipus den Vater in der Un-
kenntlichkeit — töten kann. Bei Schiller endlich lebt der Vater wirklich
noch und stellt sich leibhaftig zwischen die Liebe von Mutter und
Sohn (Don Carlos, letzte Szene: „Der König steht zwischen ihnen").
König Ödipus und Don Carlos stellen also, da sie als
wirksame und hochgeschätzte Kunstwerke zugleich mit dem Innen-
leben ihrer Dichter auch das geheimste Empfinden ihrer Zeit ver-
körpern, zwei Pole im Verdrängungsprozeß des Seelenlebens dar. Im
Ödipus ist der leibliche Vater schon lange getötet und vergessen,
während die geliebte Mutter mit dem unerkannten Sohn in ehelicher
Gemeinschaft lebt: hier finden also noch beide Kinderwlinsche des
Sohnes in vollem Umfange, ja. in den Dimensionen des erwachsenen
Liebeslebens, ihre Erfüllung. In Carlos dagegen bleiben diese beiden
Wünsche nicht nur unerfüllt, sondern die dichterische Darstellung be-
wegt sich in übertriebenen Reaktionen darauf, welche wie Schutz-
maßregeln gegen die nunmehr gefürchtete Wunscherfüllung anmuten:
die leibliche Mutter ist längst tot (sie starb bei der Geburt des Sohnes)
und der eigene Vater steht dem Sohn a priori als erbitterter Feind
und mißtrauischer Nebenbuhler gegenüber: so übermächtig ist die
innere Abwehr dieser Wunschregungen nunmehr geworden. Wir er-
kennen so im Stiefmutter- Thema ebenso wie im Motiv des
übertriebenen Hasses gegen den Sohn („Don Carlos") zwei
Verdrängungsformen der ursprünglich positiven Inzestphantasie
(„Ödipus"), deren eine uns die fortschreitende Verdrängung des ver-
pönten Inzestwunsches, aber auch einen Ausweg zu seiner möglichen
Realisierung veranschaulicht, während die andere uns die Richtung
dieses Verdrängungsprozesses zeigt. Dieser zielt dahin, zunächst die
verwerflichen Haßimpulse des Sohnes gegen den Vater zu hemmen,
im weiteren Verlaufe aber sie im Wege einer ausgleichenden Ge-
rechtigkeit als Strafe des Vaters gegen den Sohn selbst zu wenden
(Don Carlos stirbt auf Befehl seines Vaters).
Ist so der Carlos-Stoff in Schillers Darstellung zur Antithese der
Ödipus- Fabel geworden, so finden wir imHamletShakespeares den
Wendepunkt dieses Prozesses. Die Verdrängung ist hier gleichsam
erst zur Hälfte durchgeführt und dementsprechend findet nur noch
einer der Wünsche, der vom Tode das Vaters, wenigstens teilweise
Erfüllung. Die erotische Neigung zur Mutter ist fast völlig zurück-
gedrängt und durch die gegenteiligen Empfindungen verdeckt, was
sich deutlich in Hamlets Sexualablehnung (Ophelia gegenüber) äußert.
Die ursprüngliche Neigung zur Mutter schlägt aber noch in ver-
einzelten Andeutungen durch ; besonders in der schon herangezogenen
großen Szene (4) des dritten Aktes, wo Hamlet seiner Mutter heftige
40 II. Typen des riizcstdranins.
VdrwürfV iiincht, aus denen deutlicli die Kif'crsiielit des Versehnuihten
klini::t. So aus seinen Abseliicdsworteu an die IMutter, in denen er
sie ermahnt: ^Seid zur Naelit i-nllialt^am ! . . . (Jelit mclit in meines
Oheims |(lStief-) Vaters] Bett." Bezeichnend ist für diese Auffassung,
daß seine Vorwürfe fast nur ihre übereilt geschlossene zweite Elie')
und nicht ihre vermutliche Mitschuld oder zustimmende Duldunp^ der
]\h)rdtat betreten. Es mutet fast so an, als sei er der jMutter bloß
g^ram, weil sie ihren eheliehen Pflichten nachkomme und dadurch
gleichsam den Sohn seiner unbewußten Liebeshoftnung auf sie beraube.
Wie die Neigung zur Mutter, so kommt auch der Wunsch nach Be-
seitigung des Vaters im Hamlet nicht mehr so naiv zum Ausdruck,
wie im Odipus. Erst hinter einer durch die mächtigen Abwehr-
regungen geschaffenen doppelten Verhüllung kann er Befriedigung
finden. Der Dichter läßt den Mord des alten Königs durch dessen
Bruder Claudius-) vollziehen und wälzt so den ])einigenden Impuls
des Vatermordes scheinbar von der Seele des Sohnes ab. Aber es
wendet sich damit nur der eifersüchtige Haß des Sohnes, der eigentlich
dem Vater gilt, in seiner ganzen Wucht auf dessen Stellvertreter, den
Stiefvater. An dieser Zwischenperson kann sich die feindselige Ge-
sinnung des Sohnes nicht nur offener äußern, sie wird sogar durch
das auf diesen Strohmann abgewälzte Verbrechen gerechtfertigt, ja
noch mehr, durch die Pflicht der Vaterrache aus edlen Gefühlen mo-
tiviert. Die Abwehr des unverträglichen Vaterhasses hat also hier zu
einer Umwertung dieser Empfindung geführt, die wir etwa als ge-
lungene Sublimierung bezeichnen könnten, wo sie nicht in Neurose
umgeschlagen ist : der ursprünglich auf den Vater gerichtete Haßimpuls
wird auf dessen Mörder, den Stiefvater, übertragen und die gehässige
Feindschaft gegen diesen läßt der Dichter einer überschwenglichen
Liebe zum Vater entspringen, die glühend nach Rache verlangt.
Aber auch an dieser Z-vvischenperson ist der Sohn nicht im stände, den
Mord zu vollstrecken, weil er in ihr nach Freuds Lösung des
Hamlets-Problems die Verkörperung seiner eigenen unlustbetonten
Wunschregungen sehen muß. Anderseits aber kann der Sohn die
Rache an dem Mörder des Vaters, an seinem Oheim und Stiefvater,
deswegen nicht vollziehen, weil dieser für ihn nur eine zweite Auflage
des Vaters darstellt. Es drängt sich hier das Bild der Hydra auf: an
Stelle des aus dem Wege geräumten Vaters taucht sein abgeblaßtes
Ebenbild (vgl. den Geist) auf, das sich im Bruder des Vaters zu einem
'j Eine ähnliche unbewußte Eifersucht auf den zweiten Galten, der nach dem
Tode des ersten die vom Kind so lang ersehnte und endlich freigewordene Stelle
einnimmt, dürfte der tiefste Grund des so regelmäßig feindseligen Verhältnisses zu
den Stiefeltern sein.
-) Durch diese verwandtschaftliche Beziehung erscheint Ktinig Claudius noch
deutlicher als zweiter verblaßter Abklatsch des Vaters : er ist nicht nur der Stiefvater
Hamlets, sondern auch dessen Oheim, also ein Blutsverwandter, wieder leibliche Vater.
Aber auch der Ersatz des Vatermordes durch den Brudermord ist, wie im zweiten
Abschnitt ausgeführt werden soll, kein zufälliger.
Die dichterischen Mechanismen. 47
neuen Vater (Stiefvater) verkörpert, d. h. zu einem Mann, der auf
die jMutter die gleichen Ansprüche hat wie der Vater. Es ist einer-
seits so, als hätte sich mit der Tötung des alten Königs für den Sohn
nichts geändert, anderseits als wäre das Geschehene überflüssig, zweck-
los gewesen, denn sowohl der Gedanke an den toten Vater (den Geist),
als auch der noch lebende Vater hindern hier die Liebesbeziehung
des Sohnes, die im Ödipus durch die naive Beseitigung des Vaters
ermöglicht wird. Wie im Hamlet der ganze zum Inzestkomplex ge-
hörige Affekt auf den Wunsch nach Beseitigung der Vaters konzentriert
ist, zeigt ein wenig beachtetes Detail, das gleichsam wieder einen ver-
steckten Vatermord darstellt. Wie Hamlet den Mordimpuls vom Vater
auf den Stiefvater verschoben hat, so richtet er ihn nun vom Oheim,
in dem er wieder nur das Ebenbild des Vaters sieht, auf Polonius,
der sich zwischen ihn und die ]\Iutt6r zu drängen versucht, wie der
Vater. Aber auch diese dritte, nicht mehr blutsverwandte Verkörperung
des Vaters, vermag Hamlet nur in Unkenntnis ihrer wahren Bedeutung
und hinter einer angenommenen Gestalt zu töten. Daß der unabsicht-
liche Totschlag des hinter der Tapete des Schlafgemachs verborgenen
Lauschers für Hamlet die Bedeutung eines Vatermordes hat, verrät
sich sogleich nach der Tat in seiner gelassenen Frage: „Ist das der
König V'' (der Vater). So schlägt auch hier wieder nur der mächtige
Haß gegen den Nebenbuhler bei seiner königlichen Mutter durch. Die
Erkenntnis, daß er in seiner Verblendung den unschuldigen Polonius
getötet habe, macht auch diese verkappte Befriedigung seines eifer-
süchtigen Nebenbuhlerhasses wirkungslos und läßt den Haßaffekt wieder
in voller Stärke aufflammen. Hamlet durchschaut gleichsam unbewußt
den Selbstbetrug, der in solchen Ersetzungen des Vaters durch andere
Personen (Claudius, Polonius) liegt : der „Geist des ermordeten Vaters"
plagt ihn noch so lange, bis er schließlich offen und mit eigener Hand
den Gatten seiner Mutter, also den (Stief-) Vater, wirklich tötet. Da-
mit vernichtet er aber zugleich in der Gestalt des Oheims die Ver-
körperung seiner eigenen Wünsche, die auf Beseitigung des Vaters
und Besitzergreifung der Mutter gerichtet sind : er hat also nichts mehr
zu wünschen und „der Rest ist Schweigen'".
An der Mehrseitigkeit dieses Deutungs Versuches, der im Verlaufe
unserer Untersuchung an den entscheidenden Punkten noch gestützt
werden soll, wird niemand Anstoß nehmen, der durch das Studium
unbewußter Seelenvorgänge gegen eine Unter Schätzung der Kompliziert-
heit und Bedeutsamkeit auch des scheinbar selbstverständlichsten psy-
chischen Geschehens gefeit ist. Er wird vielmehr die Deutung im
Detail höchst unvollständig finden, dagegen in den Grundzügen
eine so verblüffende Ähnlichkeit der dichterischen Schöpfung mit den
Gebilden der Traumarbeit und den in ihrer Art künstlerisch aufge-
bauten Symptomen der Ps3'choneurose erkennen, daß ihm die innige
Verwandtschaft der Triebkräfte und selbst der Mechanismen dieser
Seelentä,tigkeiten über jeden Zweifel feststehen wird. Es soll jedoch
4>< II. 'J'vjX'n tk's Inzcstdramas.
mit (liosein vurl;iiiH<joii IlinwiMs auf di»^ W'.rwaiultschal't der diclitcrischen
l'n>dukti()iuMi mit den («childeii der 'J'raiimarhcit und den Symptitmen
der Psvehuneuruse keineswc^^s behauptet werden, da(j der Künstler ein
Keurotiker sei, wiis ja auch unseren theoretischen Anschauungen wider-
spräche, sondern daß er dem Neurotiker, wie es die Wirklichkeit nur
zu oft zeigt, in psychologischer Beziehung sehr nahe steht, was unseren
\'oraussetzungen und Erwartungen durchaus entspricht. Denn es walten
im Künstler keine überirdischen ]\[ächte, seine Schöpfungen sind viel-
melir aufs innigste verwandt mit den Produktionen des Neurotikers,
aber auch mit den i)sychischen Leistungen des Kormalen, zu denen
in erster Linie der Traum gehört, zu deren Erforschung wir aber weder
eine Veranlassung noch einen Zugang gehabt hätten, wenn nicht die
Leiden der Gemütskranken, mit ihrer Verschärfung und Verdeutlichung
normalen Empfindens, uns beides geboten hätten. Die Grenzen aber
lassen sich liier, wie überall in der Natur, nicht scharf ziehen ; auch sind
die Mischformen so häufig und mannigfaltig, daß eine solche Unter-
scheidung nur theoretische Bedeutung beans])ruchen konnte. Praktisch
wird der Dichter, wie er ja gewiß in normaler Weise träumt, auch
ein gutes Stück neurotischer Eigenheiten an sich haben, die noch
näher charakterisiert werden sollen. Das entscheidende Moment wird
aber in feinen graduellen Differenzierungen und nicht in prinzijüellen
Gegensätzen zu suchen sein.*)
Ein Versuch, diese vorläufig noch schwankende psychologische
Stellung des Dichters zwischen dem Träumer und dem Neurotiker
näher zu kennzeichnen und schärfer zu bestimmen scheint zunächst
das gegenteilige Ergebnis zu haben : es verwischen sich die Grenzen
zwischen den normalen, pathologischen und höherwertigen Seelen-
vorgängen vollends. Vor allem sind es zwei von Freud in der
„Traumdeutung" aufgedeckte und bei der Lösung neurotischer
Symptome praktisch erwiesene Mechanismen des seelischen Geschehens
überhaupt,^) die die künstlerische Seelentätigkeit vornehmlich zu charak-
terisieren scheinen: die Mechanismen der Verdrängung und
der Verdichtung. Wir haben uns bisher mit absichtlicher Ver-
meidung dieser Termini^) einer mehr bildlichen Ausdrucksweise be-
dient, welche sich dem dichterischen Empfinden anzupassen suchte;
wir brauchen diese Gleichnisse aber nur in die Sprache unserer psy-
') Vpl, zu diesem Problem Rank; Der Künstler. — St ekel (Dichtung und
Neurose, Wiesbaden 1909j betont den pathologischen Charakter des Dichters, der
sich nach seiner Meinung gar nicht vom Neurotiker unterscheidet fa. a. O. S. 5).
') Vgl. Freud: Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten, 1905, 2. Aufl.
1912 und Psychopathologie des Alltagslebens, 4. Aufl., Berlin 1912.
^) Der kulturelle Verdrängungsprozeß ist nicht zu verwechseln mit dem indi-
viduellen Verdrängungsmechanismu».
Die Mechanismen der Verdrängung und Verdichtung, 49
chologischen Erkenntnis zu übersetzen, um den wesentlichen Anteil
dieser Mechanismen am dichterischen Schaffen zu veranschaulichen.
Der Gegensatz von „blutsverwandten" und „fremden" Personen, mit
dem wir bei der psychologischen Deutung einzelner Gestalten schein-
bar ein bloßes Wortspiel trieben, ist nichts anderes als eine bildliche
Darstellung des Verdrängungsvorganges bei der dichterischen Ver-
arbeitung der Inzestregungen. Auch die normaler Weise erfolgende
Verdrängung der erotisch betonten Neigung des Kindes zur Mutter
läßt sich nicht besser veranschaulichen, als wenn man sich bewußt
des intuitiven dichterischen Bildes bedient: die Mutter muß für den
verliebten Sohn in erotischer Beziehung zu einer Fremden werden
(Ödipus, Carlos) und der Sohn muß lernen, seine erotischen Gefühle
fremden Frauen zuzuwenden, hinter denen allerdings, wie die Dichter
unbefangen verraten, das Bild der Mutter steht. Die dichterische
Darstellung zeigt uns diesen Verdrängungsmechanismus gleichsam
in Tätigkeit, wir erleben sozusagen die Verwandlung der Bluts-
verwandten in fremde Personen mit, erkennen aber auch, wie im un-
verhüllten Inzesttraum diese Verdrängung wieder aufgehoben erscheint
und ahnen, daß ihr völliges Mißglücken zur Neurose führen Avird.^)
Aus der gesteigerten Verdrängung folgt notwendig ein zweiter
seelischer Vorgang, dessen Kenntnis von der größten Bedeutung für
das Verständnis der dichterischen Produktion ist. Es entspricht längst
bekannten Gesetzen der Bewußtseinspsychologie, daß verwandte sowie
auch gegensätzliche Gedanken und Vorstellungsreihen enge Assoziationen
eingehen. Für die unbewußten Seelenvorgänge scheint nun ein ähn-
liches Gesetz zu gelten^) : die ins Unbewußte verdrängten Vorstellungen
werden von gleichsinnigen zur Verstärkung und von gegensätzlichen
zur Vereinigung angezogen und verschmelzen mit ihnen zu neuen
Mischverbindungen. Daß dieser Vorgang der Verdichtung un-
bewußter Vorstellungen einen wesentlichen Anteil au der dramatischen
Schöpfung hat, läßt sich bei einer Vergleichung mit dem uns vertraut
gewordenen Traumleben unschwer erkennen. Auch zur vorläufigen
Charakterisierung dieser Seelentätigkeit genügt es, wenn wir das
Gleichnis, das sich uns bei der Analyse der hinter den dichterischen
Gestalten wirksamen Gefühlsregungen aufdrängte, in bewußte psycho-
logische Erkennntis umsetzen. Wir gewannen den Eindruck, daß
einzelne dichterische Gestalten (besonders die Stiefmutter im Don
Carlos und der Stiefvater im Hamlet) ein Kompromißergebnis ver-
schiedener — vornehmlich zweier meist gegensätzlicher — Gedanken-
züge darstellen. Wir gaben dieser Tatsache gleichnisweise Ausdruck,
indem wir meinten, die Person stelle zur einen Hälfte etwas anderes
dar als zum andern Teil. Diese Einsicht setzt voraus, daß die Person
^) Vgl. die Analyse der Phobie eines 5jähr. Knaben im Jahrbuch f. psyclio-
analyt. u. psychopatholog. Forschungen I, 1.
^) Vielmehr erseheinen z. B. die bewußten Kontrast-Assozialionen nur als
Spiegelung der im Unbewußten miteinander gepaarton Gegensätze.
Rank. Das Iiizestmotiv, 4
p)0 TT. Typen dos Iiizcstdranias.
duivli ZusmuiK'ul"ü<:^on und liioinaiulerflieiJcn verschiedener Gedunkcn
und IMiantasiehilder entstanden sei. JJieseu Voro^anj^ hat Freud aber
l>ei der Traum- und Witzbilduuf^ als Verdielitun<i^ l)esc'hriel)en und
aueli seine Beteili<j^ungf an der Schafl'unf^ der jisychoneurotischen
Svniptome naeliji^ewiesen. die nach Freuds Ilntersuchung^en regel-
inäDig der Konipromißausdruck zwischen zwei gegensätzlichen Seelen-
strümungen darstellen (Traumdeutung, 2., Aufl. »S. 351).
Sind wir bei unseren bisherigen Bemühungen, dem Verständnis
der dichterischen Seelentätigkeit näherzukommen, lediglich .'fuf eine
besondere "S'erwertung der Mechanismen gestoßen, deren glattes Funk-
tionieren das normale seelische Geschehen gewährleistet, wälirend ihr
zeitweiliges Versagen die psychoneurotischen Störungen veranlaßt, so
iührt eine weitere Vertiefung in das Wesen des dichterischen Schöp-
i'ungsaktes zur Einsicht in Mechanismen, die gleichfalls von den be-
wußten Seelenvorgängen in charakteristischer Weise abweichen, wenn
sie auch nicht ausschließlich der dichterischen Tätigkeit zu eigen sind,
s(jndern daneben gewisse pathologische \^jrgänge beherrschen. Wir
haben bisher die dramatischen Schöpfungen gemäß unseren psycholo-
gischen Voraussetzungen vom egozentrischen Standpunkt des Dichters,
also aus dem Gefühlsleben des Kindes heraus betrachtet, indem wir
den Dichter stillschw^eigend mit seinem Helden identifizierten. Dieses
Verfahren, das durch die Ergebnisse der vorstehenden Betrachtungen
seine besondere Berechtigung erhielt, gewährt uns in seiner konse-
quenten Durchführung neue Einsichten in das Geheimnis der drama-
tischen Schöpfung. Es ist ohne weiters zu erkennen, daß die gesetz-
mäßige Wandlung im Verhalten der Eltern, wie wir sie in unseren
drei Musterdramen aufzeigen konnten, weder einer Wirklichkeits-
schilderung entsprechen kann noch die stoffliche Überlieferung getreu
wiedergibt. Man gewinnt vielmehr den Eindruck, daß sich in den
behandelten Dramen das Verhalten der Eltern je nach dem seelischen
Bedürfnis des Dichterhelden verschärft oder mildert. Der Dichter
kann die tendenziöse Gestaltung dieses Verhältnisses nur intuitiv aus
seinen unbewußten Kindheitseindrückeu und seinem danach gestalteten
Empfindungs- und Phantasieleben schöpfen; er übertreibt es von seinem
egozentrischen Standpunkt, um seine eigenen Gefühle den Eltern ge-
genüber zu rechtfertigen und zu befriedigen oder sie im Sinne der
Verdrängung zu verdammen und sich dafür zu strafen. Diese ten-
denziöse Gestaltung der dramatischen Personen, die das Wesen der
Charakterisierungskunst des Dichters ausmacht, gewinnt ungeahnte
psychologische Bedeutung, wenn man eine naheliegende und doch
bisher unverwertete Einsicht heranzieht. Man hat nämlich bis-
her bei der kritischen Beurteilung dramatischer Dichtungen und
ihrer Schöpfer vielleicht am meisten dadurch gefehlt, daß man die
auftretenden Personen, da sie der dichterischen Phantasie und noch
viel mehr dem Zuschauer sich als leibhaftige IMenschen darstellen,
auch wie wirkliche ]\Ienschen betrachtet und ihre Handlungsweise nach
Halluzinatorische Wahrnehmting von Grefühlsregungen. 51
dem ]\[aßstab des praktischen Lebens eingeschätzt hat. ^) Bedenkt man
dagegen, daß die dramatischen Personen, wie am Verhalten der
Eltern in unseren drei Musterdramen gezeigt werden konnte, gleich-
sam als psychisches Gegenspiel einzelner seelischer Regungen des
Dichters aufzufassen sind. -) so gewinnt man für die Beurteilung des
Künstlers und seiner Schöpfung eine neue Grundlage. Dieser persön-
liche Anteil eigener seelischer Regungen des Dichters an der Ge-
staltung und Belebung der dramatischen Personen läßt auch sein
scheinbar willkürliches Schalten mit historischen Überlieferungen be-
greiflich erscheinen, die dem Dichter gleichsam nur als Formen dienen,
in die er den Widerstreit seines Gefühlslebens ergießen kann. So kann
es kommen, daß die Handlungsweise einer dramatischen Person vom
^) In wie eigenartiger und fast hallazinatorisclier Deutlichkeit die großen
Dichter ihre Phantasiegestalten verwirklicht sehen, kann man aus vereinzelten Äuße-
rungen der Künstler über die Art ihres Schaffens entnehmen. So äußert sich Ibsen
(Nachgel. Schriften, Berlin 1909) im Jahre 1888 gelegentlich der Arbeit an der -Frau
vom Meere": „Bevor ich ein Wort niederschreibe, muß ich meinen Menschen durch
und durch in meiner Gewalt haben, ich muß ihn bis in die letzte Falte der Seele
sehen . . . Auch äußerlich muß ich ihn vor mir haben, bis auf den letzten Knopf,
wie er geht und steht, wie er sich benimmt, welchen Klang seine Stimme hat. Dann
laß ichs nimmer los, bis sich sein Schicksal erfüllt hat." — In einem ähnlichen
Sinne schildert Kichard Wagner (Gesam. Sehr., Band 10, S. 172) in der Form eines
Eatschlages ,über das Opemdichten und Komponieren im Besonderen" seinen Ver-
kehr mit den Gestalten seiner Einbildungskraft: „Er sehe sich nun z. B. die eine
Person, die ihn gerade heute am nächsten angeht, recht genau an . . .Er stelle sie
sich in ein Dämmerlicht, da er nur den Blick ihrer Augen gewahrt: sprechen diese
zu ihm, so gerät die Gestalt selbst jetzt wohl auch in eine Bewegung, die ihn
vielleicht sogar erschreckt; . . . endlich erbeben ihre Lippen, sie üfFnet den Mund
und eine Geisterstimme sagt ihm etwas ganz Wirkliches, durchaus Faßliches, aber
auch .so Unerhörtes, so daß — er darüber aus dem Traum erwacht. Alles ist ver-
schwunden: in dem geistigen Gehör tönt es ihm fort: er hat einen Einfall gehabt
. . . von jeuer merkwürdigen Gestalt in jenem wunderlichen Augenblick der Ent-
rücktheit ihm überliefert und zu eigen gegeben." — Fast mit denselben Worten
nennt Jean Paul (cit. nach Behaghel, S. 16) den echten Dichter beim Schreiben
„nur den Zuhörer, nicht den Sprachlehrer seiner Charaktere; er schaut sie
lebendig an und dann hört er sie.'' — „Ich sehe Gestalten," heißt es bei Hebbel
(cit. Behaghel, S. 16). „mehr oder weniger hell beleuchtet, sei es nun im Dämmer-
licht meiner Phantasie oder der Geschichte und es reizt mich, sie festzuhalten, wie
der Maler; Kopf nach Kopf tritt hervor und alles übrige findet sich hinzu, wenn ich
es brauche." — Fast genau so lautet der Bericht bei Otto Ludwig (Behaghel,
S. 16): „dann seh ich Gestalten, eine oder mehrere in irgend einer Stellung und
Gebärdung für sich oder gegeneinander , . . Bald nach vorwärts, bald nach dem
Ende zu von der zuerst gesehenen Situation aus, schießen immer neue plastisch-
mimische Gestalten und Gruppen auf. bis ich das ganze Stück in allen seinen Szenen
habe." Und von einem Einzelfalle heißt es : „Das ganze zeigte sich in einer neuen
Gestalt und immer in solcher Lebendigkeit, daß ich die Menschen neben mir am
Bette sitzen sah." Weitere Beispiele bei Behaghel, Anmkg. 94.
2) Schiller (Brief vom 14. April 1783): „Alle Geburten unserer Phantasie
wären also zuletzt nur Wir selbst."
Goethe (bei Eckermann I. 39): „Charaktere und Ansichten lösen sich als
Seiten des Dichters von ihm ab.'"
Vgl. dazu Jung (Journal f. Psychol. u. Neurol. VIII. 1908, Heft 1/2): „In
den Träumen sieht man deutlich, wie die Personen innere Gefühle darstellen."
Ö2 II. Typen des Tiizcstdramas.
realen St.-mdpunkt «i^anz unl)0<;reii"lic'li, ja seihst uninöf^lich erscheint,
wiihrend sie psyehdloj^iseli hetraclitct cini'n guten Sinn und ihre. voU-
koniniene Berechtigung hat. ') Die extremsten Formen dieser tenden-
ziösen Charakterisierung zeigen uns einen weiteren ebenfalls hoch-
ln'deutsameb ^lechanismus der dichterischen Gestaltungskraft an der
Arbeit, welcher in der Weise wirkt, daß gewisse seelische Kegungen
des Dichters nach außen projiziert und als handelnde Personen ver-
körpert werden, die dem Dichterhelden als äußerer Antrieb oder
Hemmung dienen. Wir merken sogleich, daß dieser Projektions-
mechanismus, der in der Folge an unseren jMusterdraraen erläutert
werden soll, in einer gewissen Gegensätzlichkeit zum Verdrängungs-
mechanismus steht. W^ie durch die Verdrängung einzelne seelische
Komplexe gleichsam innerlich erledigt, im Unbewußten verarbeitet
werden sollen, so linden diese Komplexe durch den Projektionsvorgang
eine äußerliche Abfuhr. Während aber die Verdrängung sozusagen
die automatische Verurteilung eines Gedankens darstellt, soll die
Projektion in der Regel eine Art Rechtfertigung desselben ermög-
lichen. -)
Wie nun aus der gleichsam im Unbewußten fortgesetzten Ver-
drängung eine Verdichtung der verdrängten Komplexe folgt, so ergibt
sich aus der gleichsam außen weiter fortgeführten Projektion eine
Spaltung der als handelnde Personen verkörperten seelischen Re-
gungen in ihre — meist gegensätzlichen — Elemente. Auch hier
wieder fällt uns auf, daß diese Spaltung wie ein Gegensatz, wie eine
Aufhebung der Verdichtung erscheint, da bei diesem seelischen Vor-
gang gleichsam die ursprünglich verdichteten Kom})lexe wieder in
ihre p]lemente auseinanderfallen. Wir dürfen hier zur Verdeutlichung
auf die einleitende Analyse zurückgreifen, in der wir uns des Bildes
bedienten, gewisse dramatische Personen stellten zur Hälfte dies, zur
anderen Hälfte etwas Gegensätzliches dar. Wie diese beiden Bedeu-
tungen in des Dichters Unbewußtem derselben Person gelten (Ambi-
valenz), sich also trotz ihrer Gegensätzlichkeit zur einheitlichen Ge-
stalt verdichten, so werden sie bei ihrer Projektion nach außen und
der Verkörperung als handelnde Personen in ihre ursprüngliche Selb-
ständigkeit zerlegt. So erkennen wir in den beiden Vätern der Ödipus-
Fabel (Laios und Polybos) wie der Hamlet-Sage (der alte König und
Claudius) derartig selbständig gewordene Abspaltungen von der ur-
sprünglich einheitlichen, aus verschiedenen Einstellungen des Sohnes
verdichteten Vatergestalt: der erhabene unantastbare Vater, wie er
dem bewundernden Kinde erscheint, wird dem tödlich gehaßten Vater,
'; Vgl. Freud.s: Formulierungen über die zwei Prinzipien des psychischen
Geschehens (Jahrl). f. Psa. III, 1911).
^) Das klassische kulturhistorische Beispiel für diesen Mechanismns und seine
Verwertung ist die mittelalterliche Ausgestaltung der Teufelsfigur, die eine Ver-
kiirperung aller hüsen, vorwerfliclien Triebe darstellt und den Durchbruch derselben
beim Mi;n8chen durch den Hinweis auf die „liesessenheit" zu rechtfertigen weiß.
Die Mechanismen der Projektioa und Spaltung. 53
wie er dem eifersüchtigen Jüngling erscheint, gegenübergestellt. Man
sieht hier deutlich, wie diese Spaltung die hemmungslose Befriedigung
der verpönten Regung ermöglicht. Im „Mythus von der Geburt des
Helden" ist gezeigt, daß dieser Mechanismus der Projektion und Spaltung
(Auseinanderlegung) die mythische Phantasietätigkeit vornehmlich
charakterisiert, aber auch den Seelenzustand gewisser Geisteskranker
beherrscht. Die Projizierung eigener seelischer Wahrnehmungen nach
außen spielt, wie vereinzelte Analysen gezeigt haben, bei den Wahn-
bildungen der Paranoiker die größte Eolle, ^) während die Spaltung
vereinheitlichter Vorstellungskomplexe in ihre Elemente nach einer
Andeutung Freuds dem geistigen Zerfall bei der Dementia praecox
zu Grunde liegt.-] Während also die dichterischen Mechanismen der
Verdrängung und der Verdichtung das normale seelische Geschehen
ebenso bestimmen wie die neurotische Symptombildung, charakteri-
sieren die dichterischen Mechanismen der Projektion und der Spaltung
vornehmlich das psychotische Krankheitsbild. Wir sind nun in der
Lage unsere Formel für die psychische Eigenart des Dichters, von dem
wir sagten, er stehe in psychologischer Beziehung zwischen dem normalen
Träumer und dem Psychopathen, dahin zu ergänzen, daß die dichterische
Produktion zunächst eine Verwendung zweier normaler Traummechanis-
men und zweier pathologischer Mechanismen erkennen läßt. Wir ver-
stehen aber auch, warum sie sich dieser gewissermaßen gegensätzlichen
Mechanismen bedienen muß. Die beiden Traummechanismen bereiten
gleichsam innerlich das Material vor, bearbeiten es in der eigentümlichen
Weise, die uns in der Neurose verwirrt, am Traum befremdet, im
Alltagsleben ärgert, die wir am Witz belachen und in der Dichtung
bewundern. Die beiden anderen IMechanismen machen aber das
eigentliche Wesen der dichterischen Gestaltungskraft aus, indem sie
das innerlich so bearbeitete Material nach außen werfen und es auf
diese Weise einerseits psychisch erledigen, anderseits sozial verwertbar
machen. Im Gegensatz dazu steht der sozusagen unsoziale Träumer,
dessen „Projektionen" sich in seinem Innern abspielen und auf der
anderen Seite der antisoziale Paranoiker, der sie mit der Realität ver-
wechselt. Dieser Gegensatz läßt sich jedoch praktisch nicht so scharf
festhalten, da wir auch beim Dichter eine Art innerer Traumarbeit
als Vorstufe annehmen müssen, sowie anderseits unsere Anerkennung
seiner Leistung mit seiner Fähigkeit wächst, uns eine zweite Realität
vorzutäuschen. Diese Aufgabe gelingt weitaus am besten dem darin noch
durch den Schauspieler unterstützten Dramatiker, der ja - — fast wie der
Paranoiker — seine inneren Regungen als handelnde Personen verkörpert
*) Vgl. Freud: Psychoanalytische Bemerkungen über einen autobiographisch
beschriebenen Fall von Paranoia. Jahrb. III, 1911. Der im Seelenleben allgemein
wirksame Projektionsmechanismus wird nach Freud in der Paranoia mit Vorliebe
zur Darstellung der Afl'ektverwandlung benützt. Über die Projektion vgl. man auch
Ferenczi: latrojektion und Übertragung (Jahrb. I, 1909. bes. S. 429 f.)
-') Vgl. auch Jung: Zur Psychologie der Dementia juaecox. Halle 1907.
54 II. Tvj)C'ii des Inzostdramas.
agieren sieht uiul sj)reehen lälit und (hin darum auch vor allem eine
besondere Filhifj^keit zur psyehischiMi I'rojekticm vor den Dichtern
auszeichnet, die sich zur Mitteilung der befreienden Gestaltung-
ihrer Phantasien anderer Formen bedienen. So ist die spezifische
Fähigkeit des Dramatikers der mythenbildenden Phantasietätigkeit aufs
innigste verwandt und darum die Übernahme mythisch überlieferter
Stoffe als Vorstufe der dramatischen Handlung so häufig (vgl. Odipus,
Hamlet). Der Dichter hat dabei nur den von einer psychisch gleich
einirestellten ]\Iehrheit im Laufe von Generationen einheitlich aus-
gestalteten Mythus (etwa die Odipus-Fabel) nur nach seinem persön-
lichen (Inzest-)Komplex zu modifizieren und findet darin, ebenso wie
das mythenbildende Volk, die Rechtfertigung seiner eigenen, ihn be-
drückenden Gefühlseinstellung. Während aber die Mythenbildner den
Stoff nach einer Richtung beständig simplifizieren, muß der persön-
liche Dichter, wenn er seine individuelle Komplexgestaltung zum Aus-
druck bringen will, den Stoff wieder nach den ihm ursprünglich
innewohnenden verschiedenen Seiten diffundieren lassen. Man könnte
den Mythus mit einem durch das beständige Fortschleppen und Be-
arbeiten abgeschliffenen Bachkiesel, die dramatisch dargestellte Stoff-
masse mit einem sogleich erstarrten Eruptivgestein vergleichen. Dem-
entsprechend erhält der Mythus seine eigentliche Gestalt erst durch
einen lange fortdauernden Modelungsvorgang, während man umgekehrt
der dichterischen Produktion gegenüber bemüht ist, die ursprüngliche
Gestalt so rein und unangetastet wie möglich zu erhalten. Inwieweit
in den verschiedenen Dichtungsgattungen (einschließlich der Mythen-
und Märchengestaltung) einzelne spezielle psychische Mechanismen
v(jrherrschen und wie weit eine gewisse Veranlagung im Verein mit
psychischen Fähigkeiten und Schicksalen den Künstler zur Bevor-
zugung bestimmter Formen veranlaßt oder nötigt, kann hier nicht
näher untersucht werden. Wir haben es hier vorwiegend mit den
unseren nächtlichen Traumproduktionen und gewissen Gebilden und
Vorgängen der Geisteskrankheit am nächsten stehenden dramatischen
Schöpfungen zu tun. In dem allmählichen Entwicklungsprozeß dieser
spezifisch dramatischen Fähigkeiten läßt sich aber ein deutliches Hin-
neigen des ursprünglichen, im Mythus noch deutlich durchschimmern-
den mehr traumhaften Charakters der dichterischen Produktionen zu
immer deutlicherer neurotischer Gestaltung nicht verkennen. Ahnt
uns so ein Zusammenhang dieses Entwicklungsprozesses mit dem fort-
schreitenden Prozeß der säkularen Verdrängung, so wollen Avir doch
zunächst diesen Entwicklungsgang der dramatischen Gestaltungsfähig-
keit an unseren drei Mu&terdramen verfolgen, ehe wir eine Synthese
wagen.
Der traumhafte Ursprung der Ödipus-Fabel. 55
Wir sind bei unserer Untersuchung von den Inzest- Träumen
ausgegangen und haben die dramatische Gestaltung einzelner typischer
Motive als eine Art sublimerer Äußerung derselben infantilen Gefühls-
regungen erkannt, welche diesen Traumerscheinungen zu Grunde
liegen. Daß diese künstlerische Verarbeitung der Inzestregungen vom
psychologischen Standpunkt wirklich als ein fortgesetzter Verdrängungs-
prozeß der träum bildenden Mächte aufgefaßt werden darf, bestätigen
uns die Dichter selbst, diese tiefsten unbewußten Seelenkenner, indem
sie diesem von ihnen Avohlgefühlten Zusammenhang sehr häufig Aus-
druck verleihen. Fast in allen Inzestdichtungen lassen sich mehr oder
minder deutliche Nachklänge jenes traumhaften Ursprungs sowie immer
unverkennbarere Anzeichen für den Fortschritt des Verdrängungs-
lebens in der Kichtung zur Neurose wahrnehmen. Freud beruft sich
auch bei seiner Deutung der d i p u s-Fabel (a. a. 0. S. 182) auf diese
Tatsache: ,,Daß die Sage von Ödipus einem uralten Traumstoff ent-
sprossen ist, welcher jene peinliche Störung des Verhältnisses zu den
Eltern durch die ersten Regungen der Sexualität zum Inhalt hat, dafür
findet sich im Text der Sophokleischen Tragödie selbst ein nicht miß-
zuverstehender Hinweis. Jokaste tröstet den noch nicht aufgeklärten,
aber durch die Erinnerung des Orakelspruches besorgt gemachten
Ödipus durch die Erwähnung eines Traumes, den ja so viele Menschen
träumen, ohne daß er, meint sie, etwas bedeute :
„Denn viele Menschen sahen auch in Träumen schon
Sich zugesellt der Mutter. Doch wer alles dies
Für nichtig achtet, trägt die Last des Lebens leicht."
Auch im Hamlet ist von Träumen die Rede. Aber ihr Inhalt
wird nicht mehr so unbefangen erzählt wie im Ödipus, sondern Hamlet
seufzt: „Wenn ich nur keine schHmmen Träume hätte" (II, 2). Auch
er versucht noch den Inhalt dieser Träume leicht za nehmen, abzu-
wehren, und sie für bedeutungslos zu halten: „Ein Traum selbst ist
nur ein Schatten". Carlos dagegen drücken sie schwer:
„Wie Furien des Abgrunds folgen mir
Die schauerlichsten Träume"'.
Ihn tröstet auch nicht mehr die. Mutter — wie den Ödipus —
mit der Bedeutungslosigkeit dieser Träume, sondern sie macht „klar
und helle", was Carlos „ewig, ewig dunkel bleiben sollte" (I, 5). Sie
malt ihm die Realisierung seiner Traumwünsche mit der ganzen Wucht
ihrer moralischen Abwehr aus :
„Auf mich, auf Ihre Mutter hoffen Sie?
(Sie sieht ihn lange und durchdringend an — dann mit Würde und Ernst :)
Warum nicht? 0, der neuerwählte König
Kann mehr als das — — — — — — — — — — —
— — — — .— — — — — — — — kann sogar —
;")(> II. 'IViKui di's lii/A'stdranias.
Wer liiiidcit ihn? — die Mumie des Toten
Aus ilirer Kulie zu Escnrial
Hervor aus Lieht der Soune reißen, seinen
Entweihten S t a u h in d i (^ vier Winde; s t r e u n, ')
Und dann zuletzt, um würdifj zu vollenden —
Carlos: Um Gotteswillen, reden Sie nicht aus.
Königin: Zuletzt noch mit der Mutter sicli ver-
m ä h le n.
Carlos: \' e r f 1 u c h t e r S o h n !
Vergleicht man diese fast neurotische, versteckt mit dem Ge-
danken des \^atermords und der Stellvertretunf^ des Vaters bei der
^lutter spielende Phantasie mit der naiven Traumerzählung der Jokaste,
so kann man daran am besten das Fortschreiten der Verdrängung,
den Zug zur Neurose, erkennen. Dieser charakteristische Unterschied
läßt sich auch in der ganzen Anlage und Durcliführung der Dramen
nachweisen.
Schon im König Ödipus, dieser fast noch ganz traumhaft-
naiven Darstellung des Inzestthemas, findet sich der Ansatz zu dem
Hinausprojizieren innerer seelischer Vorgänge und ihrer Verkörperung
als selbständig handelnde Personen. Die KoUe, die im Drama des
Sophokles dem blinden Scher Tereisias zufällt, sowie die ganze Art
seiner widerstrebend gema(;hten und von Ödipus anfangs mit Ent-
rüstung zurückgewiesenen Eröffnungen erwecken den Eindruck, daß
auch der Dichter in dieser mythisch überlieferten Gestalt nur eine
Verkörperung der dem Helden unbewußten Kindheitsregungen dar-
stellte, die allmählich imter heftigem Widerstand in ihm bewußt
werden.
Noch deutlicher ist im Drama Shakespeares der Projektions-
meehanismus an der Arbeit zu sehen und in der Gestalt des Geistes
von Hamlets Vater ist sogar der Schlüssel zu seiner Deutung in
unserem Sinne gegeben. Man hat den Dichter für naiv genug ge-
halten, um iiim den Glauben an Geistererscheinungen zusprechen zu
können. Und doch deutet er selbst seine unzweifelhafte Überlegenheit
diesem Aberglaulien gegenüber darin an, daß er den Geist von Hamlets
Vater mit feinem psychologischen Verständnis als Verkörperung einer
inneren Stimme des Sohnes aufftißt, -) die ihn dazu drängt, den Stief-
'; Noch deutlicher im ersten Entwurf in der Thalia (I, 5):
„Auf Ihres Vaters Leichnam, auf den Trümmern
des Allerheiligsten gedenken Sie
in meinen Arm zu eilen — . . . . "
-) Hamlet sieht den Geist des verstorbenen Vaters „in seines Geistes Auge"
und auch die Königin, der sich der Geist nicht oiVenbart, sucht den Sohn mit der
Versicherung zu lieruhigen: „Dies ist nur Eures Hirnes AuHgel)urt". Bloß das gemeine
Volk, welches hier durch die Soldaten rej)räsentiert wird, gibt der Gei.stererscheiuung
reales Leben inid eine abergläubische Auslegung.
Ähnlich schreibt Fr. V i s c li e r über lianciiios Geist in Shakespeares Macbeth
Tn Altes und Neues'^, 1. H. S. 200 f.) : „Olt Shakespeare an Geister glaubte, wissen
Der halluzinatorische Charakter des Geistes im „Hamlet''. 57
vater — oder wie wir auf Grund unserer Deutung korrigieren dürfen,
den Vater — aus dem Wege zu räumen. Die heftige Abwehr dieses
verwerflichen Impulses sowie das Bedürfnis nach seiner objektiven
Motivierung und Rechtfertigung bewirkt dessen Projektion nach außen
und die Verkörperung als äußerer Antrieb. Diese Verkörperung einer
unverträglichen Regung als außenstehende Person ist im JSamlet
kompliziert durch das verstärkte Bedürfnis nach einer weiteren Recht-
fertigung der das Gemüt des Sohnes auch in dieser verhüllten Form
noch bedrückenden feindseligen Gedanken gegen den Vater. Es wird
darum die vorhin angedeutete Verschiebung des Mordimpulses auf den
„Oheim" vorgenommen, so daß es nun der Geist des ermordeten
Vaters selbst ist, der den Sohn zur Tötung des Gatten seiner Mutter
(des Stiefvaters) antreibt. Einer so komplizierten Rechtfertigungs-
phantasie ist aber der dichterische Projektionsmechanismus gleichsam
nicht gewachsen : die Abwehr gelingt nicht völlig und die Personifi-
zierung bleibt gleichsam auf halbem Wege stecken. Statt einer Ge-
stalt von Fleisch und Blut, kommt nur ein „Geist" zu stände, der den
Rachegedanken im Sohne anfacht. Dieses Versagen der dichterischen
Projektionsarbeit gestattet uns aber, sozusagen durch das Phantom
hindurch, einen tieferen Einblick in die komplizierten Seelenvorgänge
des Dichters. Wir erkennen im Geist von Hamlets Vater die Ver-
körperung von Hamlets Haß gegen den Nebenbuhler bei seiner Mutter,
in einer besonderen Verdrängungsform, welche sowohl den Wunsch
nach dem Tode des Vaters durch seine Erscheinung als Geist de-
monstriert, zugleich aber diese verwerfliche Phantasie sanktioniert
durch Zugrundelegung des edlen Motivs der Vater r ac he.^) So kann
sich die eifersüchtige Abneigung gegen den eigenen Vater leicht verber-
gen hinter dem wohlmotivierten Vergeltungsbedürfnis gegen den Stiefvater
und es liegt ganz im Sinne unserer Deutung, wenn Shakespeare die-
sen Haß des Sohnes gegen den bevorzugten Konkurrenten um die Neigung
der Mutter einer überschwenglichen Liebe zum Vater entspringen läßt.
Solche überschwengliche Affekte lassen, nach gesicherten Ergebnissen
der Neurosenpsychologie, den Verdacht berechtigt erscheinen, daß sie
eine Reaktion auf die ursprünglich gegenteilige, Avegen ihrer Uner-
träglichkeit verdrängte Empfindung darstellen. Wäre die normale
Liebe zum Vater und das daraus entspringende edle Bedürfnis nach
wir nicht; einerseits ist er wahrscheiulich, da zu seiner Zeit alle Welt daran glaubte,
mindestens als Kind muß er alles Grauen au sich erlebt haben, das aus dem vollen
Glauben fließt, anderseits halte ein Dichter, der noch ganz dick in diesem Glauben
steckte, denselben schwei-lich zu einem so erschütternd wahren Bilde des Gewissens
zu gestalten vermocht." Die auffällige Vorliebe Shakespeares für die Geister-
erscheinung llingemordeter werden wir auch anderwärts (Richard III., Macbeth,
Caesar) auf die Unsterblichkeit seines infantilen Vaterkomplexes zurückführen können
(vgl. Kap. VIj.
^) Mit der Hamlet-Sage verwandte Mythen, in denen eine ähnlich molivierte
Vatenache nachzuweisen i.at, findet man im „M ythias von der Geburt des
Helden", S. 7G f.
r>S II. Typen des liizestilramas.
der Kaclu' an seinem ]\Iür(ler bei Hamlet das ursprUnj^lich treibende
^Itinu'nt, Avie mau bis jetzt allgemein angenommen hat, so bliebe das
Verhalten des Helden eben nach wie vor unverstiindlich ; es ist nicht
zu bogreilen, was Hamlets berechtigten l^acheimpuls in der Aktion
hemmen könnte, wenn man nicht annimmt, daß verdrängte Gegen-
regungen in dem angedeuteten Sinne wirksjim sind. Aber auch ein-
zelne bedeutsame Züge verlieren ihren eigentlichen Sinn, wenn man
sich dieser psychologisch durchaus berechtigten Auffassung verschließt.
So erscheint es nicht völlig motiviert, daß Hamlet die Erscheinung
des Geistes seines ermordeten Vaters, auf die er ja vorbereitet ist,
doch entsetzt mit den Worten abwehrt: „Engel und Boten Gottes steht
uns bei! . • " (I, 4). Dieser Affekt erscheint jedoch angemessen,
wenn mau den hinter dem edlen Motiv verborgenen gehässigen Ge-
dankenzug berücksichtigt und die Erscheinung des Geistes weniger
als Ansporn zur Kache wie als Auftauchen, als Bewußtwerden des
unerträglichen Vaterhaßkomplexes auffaßt.
In Schillers Don Carlos endlich treten, des Dichters ge-
steigertem inneren Konflikt entsprechend, der an die „Bewußtseins-
spaltung" der Psychotiker erinnert, die Hauptpersonen, den beiden
gegens:itzlichen Vorstellungsinhalten und Gefühlsregungen des Dichters
gemäß, als Absjialtungen auf. ^) Carlos und Posa repräsentieren die „zwei
Seelen" in Schillers Brust: der tugendhafte, der Mutter gegenüber
asexuelle Sohn, die verkörperte Ablehnung des Inzestgefühls, ist
Posa; der liebende, begehrende, der Mutter gegenüber leidenschaftlich
erotisch emptindende Sohn ist in Carlos personiflziert.-) Dieser Spaltung
entspricht eine analoge bei der Mutter: ihre mütterlichen, asexuellen
Regungen sind personiflziert in der hohen reinen Königin (Eboli:
*) Vgl. dazu die in der Feststellung der Tatsachen an.sgezeichnete Arbeit von
Alfred Gercke: Die Entstehung des Don Carlos (Deutsche Rundschau, 1905, Heft 7
und 8), der auch den Zwiespalt hervorhebt, aber nur die verschiedenen Zeiten ent-
stammende Ausarbeitung der einzelnen Teile des Dramas dafür verantwortlich macht :
„So erhalten seine sämtlichen Hauptfiguren et« a.s Zwiespältiges in der Charakter-
zeichnuDg." — „Ein ähnlicher Dualismus zieht sich durch die Handlung hin-
durch." — „In Einzelheiten läßt sich ein gleicher Zwiespalt beobachten" (Heft 7,
S. 63) Auch für Posa und Carlos macht Gercke das Gleiche geltend: „So treten
zwei Seiten der Dichterseele in die Erscheinung" (S. 78). Und dann: „Auch das
Zwiespältige des „Don Carlos" tritt uns deutlich als Zwiespalt schon in der Seele
des jugendlichen Dichters entgegen" (S. G8).
Vgl. auch Otto Lud w ig (Studien H, 415): „Goethe zerlegt oft einen Menschen
in zwei poetische Gestalten, Faust-Mephisto, Clavigo-Carlos." Über diese Abspaltung
von Personen oder ihrer Eigenschaften und deren selbständige V'erkörperung als
typische Arbeitsweise der produktiven Phantasietätigkeit sehe man die Ausführungen
im „Mythus von der Geburt dos Helden" nach (S. 75 u. H".).
'-') „Erst im Verein mit Carlos umfaßt Posa Schillers ganzes Wesen, die wilde
Leidenschaft des einen ist der Ausdruck der sinnlichen Seite, die erhabene Begeisterung
des anderen der Ausdruck der stoischen Seite seiner Natur. . . . Diese Gestalt hat
Schiller nicht nach der Natar gezeichnet; nicht von außen ist sie ihm gekommen,
sondern tief aus seinem Innern hat er sie heraufgeholt" (Minor, Schiller II, S. 5G1).
Pie neurotische „Spaltung" im „Don Carlos". 59
„beim Himmel diese Heilige empfindet!"), während ihre Leiden-
schaft für den Sohn in der Eboli verkörpert ist. Die Prinzessin Eboli
ist dadurch deutlich als „Mutter" charakterisiert, daß sie sich dem
König- Vater hingibt (während Elisabeth, die reine Mutter, sich ihm
verweigert; ^) sie wird aber damit zugleich zur Dirne gestempelt und
so erscheint auch hier die in Hamlets Verhältnis zu Gertrude ange-
deutete Auffassung wieder, daß die Hingabe an den Vater die Mutter
in den Augen des verliebten Sohnes erniedrigt. Auf der anderen
Seite muß natürlich dem erfolglos liebenden Sohn die Mutter in solcher
Erhabenheit und unnahbarer Reine erscheinen, daß er es nicht wagt,
sie mit dem Geschlechtsgenuß, nicht einmal mit dem ehelichen, in
Verbindung zu bringen, sondern in ihr eine Heilige erblickt. Diese
scheinbar so widerspruchsvolle und zwiespältige Auffassung der Mutter
hat Freud-) als Nachklang des kindlichen Verhältnisses zu den
Eltern in den Phantasien gesund gebliebener sowie neurotisch gewor-
dener Menschen häufig gefunden und wie sich zeigen Avird ist diese
Auffassung- auch in den dichterischen Phantasien die regelmäßige. So
ist auch im Hamlet die Mutter einerseits als verabscheuungswUrdige
Buhlerin dargestellt (Gertrude), während ihr die jungfräulich reine
Ophelia in keuscher Unnahbarkeit gegenübersteht. Der Muttercharakter
der Ophelia ist wieder darin angedeutet, daß Hamlet ihren Vater,
den er durch die Tapete hindurch ersticht, mit seinem Vater ver-
wechselt, identifiziert (Hamlet: „Ist das der König?"), sowie darin,
daß er Ophelia selbst mit seiner Mutter Gertrude identifiziert, ^) indem
er beiden dasselbe sagt: „Geh in ein Kloster. Warum solltest du
Sünder zur Welt bringen?" zu Ophelia, und „seid zur Nacht enthalt-
sam, geht nicht in meines Oheims Bett" zu (jertrude. Auf Grund
dieser teilweisen Rückprojizierung einzelner handelnder Personen als
seelische Regungen in das Innere des Dichters verstehen wir das sonst
rätselhafte Verhalten Hamlets der Ophelia gegenüber, ebenso wie das
ähnlich unentschiedene Benehmen des Prinzen Carlos in seinem Doppel-
verhältnis zur Königin und der Prinzessin Eboli als Ausdruck eines
ständigen Kampfes zwischen der inzestuösen Neigung zur Mutter und
ihrer Abwehr. Es zeigt sich hier deutlich, daß die bewußten dichte-
rischen Kontrastfiguren (vgl. später Laertes) unbewußten Konflikten
entsprechen.
^) Vgl. den Verdacht der Eboli (II, 9), daß die Königin sich darum dem Ge-
mahl verweigere, weil sie den Sohn erhört habe :
„Zu schwelgen, wo unerhijrt der glänzendste Monarch
der Erde schmachtet."
Nicht unwesentlich für unsere Auffassung ist die Tatsache, daß diese Gestaltung der
Eboli als eine Seite des mütterlichen Sexualcharakters Schillers eigenste Schöpfung
ist; in seiner Quelle bei St. Kcal ist sie mit Kui Gomez verheiratet, den sie nach
Schillers Darstellung (I, 3) aus Liebe zum l'rinzen Carlos wiederholt ausschlägt.
^) Über einen besonderen Typus der Objektwahl beim Manne (1. c).
') Vgl. die Bemerkung von Brandes (Shakespeare), der Sinn von Hamlets
geheimnisvollen Reden an Ophelia sei: du bist wie meine Mutter; auch du
hättest handeln können wie sie.
()0 II. Tvpon <l('s Iii/csttlranias.
Bei einer derartigen, durcli die jtsychologisclie Erkenntnis des
diehterischcn Sehü])fun<^saktes gegebenen Auffassung erklärt sich aber
nicht nur manche sonst unverständliche Handlungsweise der dramati-
schen Gestalten, sondern es enthüllt sich uns auch ein Stück des Ge-
luMmnisses der dramatischen Form. So erkennen "vvir im Don
Carlos Schillers, mit seiner Aufeinanderfolge von Dialogen, den nach
außen projizierten Widerstreit einzelner seelischer Strömungen, die
dem Inzestkomplex angehören. Diese Projektion des jeweiligen seeli-
schen Zustandes in die wechselnde Szene hat die größte Ähnlichkeit
mit der Art, wie der Paranoiker seine inneren Veränderungen nach
außen wirft.') Man könnte in diesem Sinne auf dem Wege der Rück-
]>rüjektion jede Szene in die ihr entsprechende psychische Verfassung
des Dichters auflösen und so hinter dem Fleisch und Blut des Kunst-
werks dessen psychologisches Gerippe aufzeigen. Die sehr instruk-
tive Verfolgung dieser Zusammenhänge muß vorläufig dem mitarbei-
tenden Leser überlassen bleiben, der auch selbst ihre natürlichen
Grenzen jeweils finden wird. Es sei hier nur zur Orientierung in
der Fülle der Personen auf die verschiedenen Abspaltungsgestalten
des Vaters im D(jn Carlos hingewiesen.-) Seine Härte und rücksichts-
lose Strenge, den Haß gegen seinen Sohn, symbolisiert Herzog Alba
(König: „Und weiß ich nicht, daß Alba Rache brütet"), während
Domingo seinen Zweifel, den eifersüchtigen Verdacht, ausdrückt.
In Philip]) selbst (man beachte den Namenwechsel „Philipp" und
„König" bei Schiller) ist die rein sexuelle Beziehung des Vaters zur
Mutter (Königin) verkörpert:
„Für meine Völker kann mein Schwert mir haften
Und — Herzug Alba •, dieses Auge nur
Für meines Weibes li i e b e.
Was der König hat,
Gehört dem Glück — Elisabeth dem Philipp.
Hier ist die Stelle, wo ich sterblich bin."
Im Grafen Lerma endlich sind die väterlichen, milden Regun-
gen gegen den Sohn personifiziert. So reduzieren sich also die auf-
tretenden Personen bei einer solchen psychologischen Betrachtungs-
weise zunächst auf drei : den Dichter-Helden und seine Eltern, in ihrem
*) Auch sonst steht der Paranoiker mit der schöpferischen Umarbeitung seiner
Innenwelt und ihrer Projektion, sowie mit seinen Wortneubildungen dem Dichter
nahe. Ähnlich hat jüngst S. Koväcs (Zentralbl. f. Psa. I(, 1912, S. 262) ge-
sagt: ,,Im großen und ganzen ist die Geistestätigkeit des Dichters mit der des
Paranoiker.s identisch." Über den paranoLschen Charakter der mythischen Phantasie-
tiltigkeit vergleiche man den „Mythus von der Geburt des Helden".
'^) Für den Hamlet hat seither Ernest Jones auf Grund unserer Einsichten
in die mythenhildende Phantasietätigkeit diese Reduktion der dramatischen Gestalten
auf wenige psychische ITrhildcr durchgeführt. „Das Problem des Hamlet und der
< ►dipiis-Komijle.x" (Schriften zur angewandten Seelenkunde, herausg. von Freud. Heft X,
Hfl];. Vgl. auch den Abschnitt über Shakespeare (Kap. VI.).
Die Geistererscheinung und ihr Schau pLatz. 61
verschiedenen Verhalten und ihren mannigfachen Beziehungen zum
vSohn ^) und in letzter Linie auch diese als Verkörperungen seelischer
Empfindungen des Dichterhelden in ihrem Widerstreit mit inneren
Gegenregungen und den äußeren Verhältnissen.-)
Es scheint kein Zufall zu sein, daß uns gerade die Geister-
erscheinung im Hamlet die wichtigsten Aufschlüsse über den Mecha-
nismus der dichterischen Projektion gewährte. Gemahnt doch diese
Geistererscheinung des getöteten Vaters in auffälliger Weise an das
Traumbild vom Tode des Vaters und es soll später noch ausführlich
dargelegt werden, daß sie tatsächlich die dichterische Verarbeitung der
gleichen unbewußten Seelenregungen ist, die sich im Todestraum vom
Vater ausleben (vgl. Kap. VI : Shakespeares Vaterkomplex). In diesem
Zusammenhang erscheint es auch von tieferer Bedeutung, daß im Don
Carlos der Geist episodisch vorkommt und daß der Held die Gestalt seines
als Geist umgehenden Großvaters annimmt, um nachts ungehindert
in das Schlafgemach seiner Mutter einzudringen, wo er von dem
eifersüchtigen Vater überrascht wird. Die gleiche Situation findet
sich in Shakespeares Hamlet, wo auch der Geist des Vaters Avährend
der Anwesenheit des Sohnes im Schlafgemach der Mutter erscheint
(III, 4). Nur ist bei Schiller mit dem Fortschreiten der Verdrängung
der sündige Todeswunsch des Sohnes gegen den Vater wie zur Strafe
am Sohne selbst vollzogen : im Hamlet erscheint der Geist des er-
schlagenen Vaters als Ankläger des Sohnes ^) und Verteidiger der
Mutter, während im Carlos der Sohn als Geist (verkleidet) erscheint,
wie im Vorahnung seines nahen Todes, mit dem ihn der Vater
straft. Anderseits verrät sich aber in der Maske, die der Sohn zu
diesem Besuch der Mutter annimmt, deutlich sein Wunsch, bei der
Mutter die Stelle des Vaters (Großvaters) einzunehmen, eine Phantasie,
die im Hamlet in der Figur des „Oheims" realisiert ist. Die typische
Verknüpfung der Geistererscheinung mit einem so beziehungsreichen
vSchauplatz wie dem Schlafgemach der Mutter, vereinigt nicht nur in
einem genialen dichterischen Kompromißausdruck alle Komponenten
des Inzestkomplexes, sondern verrät uns auch ein wichtiges ätiologi-
sches Moment desselben. Wie die Geistererscheinung des Vaters nicht
nur die Realisierung des Todeswunsches voraussetzt, sondern gleichsam
die Unsterblichkeit dieses Hasses demonstriert, so deutet anderseits
die Eolle, die dem Vater dabei als lästigem Störenfried der kindlichen
Liebesbeziehungen zur Mutter zufällt, auf die ebenfalls unverwüstlichen
Gewissensbisse und Selbstvorwürfe hin, die den Sohn dieses Hasses
^) Die gleiclien mannigfachen Gestaltungen der Vaterrolle und dieselbe Re-
duktion ist im Mythus von der Geburt des Helden an Beispielen dargelegt.
^) Wie der Held des Dramas zumeist des Dichters eigene seelische Züge trägt,
so knüpft natürlich die dichterische Phantasietätigkeit bei der Charaktergestaltung
der anderen Personen ebenfalls an reale Eindrücke (Eltern, Geschwister, Gespielen,
Freunde, Geliebte) an.
^) Auch in Senecas „Ödipus" erscheint der Geist des erschlagenen Vaters
als Ankläger des Sohnes, seines Mi'irders (siehe Kap. VII.).
Ci'2 II. Typen flrs Tnzostflranias.
>vo<^on (juälcn. Diese Aullasbun^ des \'uters als SpielverderlxT ist
für die kindliche Denkweise charakteristisch *) und verrät uns den
infantih^i Charakter dieser «ganzen Phantasie, wie anderseits das Milieu,
das Sehlafjreniaeh der Muttt-r. in nicht miiözu verstehender Weise aut
die realen Erlebnisse liindeutet, welche dieser Auffassnnf^ zu (irunde
liefen. Kriunert also die (Teistererscheinung an das UVaumhild vom
toten Vater, so erscheint der Besuch des Solines im Schlafgemach der
Mutter wie ein abgeschwächter Inzestakt, der durch das Dazwischen-
treten des Vaters gehindert wird, so daß wir in diesem Geistermotiv
und seinem Schauplatz den dichterischen Ausdruck des den beiden
Inzestträumen zu Grunde liegenden Gefühlskomj)lexes erkennen. Zur
Fundierune: dieser unerwarteten Zusammenhäno^e sei der Hinweis auf
eine zwar prosaische aber durch die Psychoanalyse erwiesene Tatsache
gestattet. Die Gespensterfurcht später neurotisch gewordener Kinder
erweist sich fast regelmäßig als eine Verdrängungsfolge gewisser
Inzestphantasien, welche mit der GeAvohnheit der Eltern zusammenhängen,
sich vor dem Zubettgehen zu überzeugen, ol) das meist im selben
Kaum ruhende und so zum parteiergreifenden Zeugen der ehelichen
Intimitäten gewordene Kind wirklich schläft, indem sie — gewöhnlich
nur mit dem Hemd bekleidet — an dessen Lager treten (Traum-
deutung, S. 199).
Wie die mißlungenen Formen der Projektionsarbeit, als welche
wir nach dem Vorausgegangenen die Geistererscheinungen ansehen
dürfen, auf den traumhaften Ursprung und Charakter der dichte-
rischen Phantasietätigkeit hinweisen, so stehen die völlig gelungenen
Verkörperungen seelischer Regungen als handelnde Personen, die dann
beim Zuschauer den Eindruck wirklicher Menschen hervorrufen, gewissen
]) a t h o 1 o g i s c h e n W a h n b i 1 d u n g e n nahe, in denen das Individuum
seine geheimsten Wünsche und Befürchtungen von außenstehenden
Personen verwirklicht, agiert, sieht. Das Charakteristische der
dichterischen Gestaltungskraft bestünde aber im Wesentlichen
darin, daß sich beim echten Dichter infolge einer eigenartigen Ent-
wicklung seines Trieb- und Geisteslebens gewisse allgemein mensch-
liche Seelenkonflikte in einer sozusagen sozial w^ertvollen Form offen-
baren können, welche es nicht nur dem Dichter selbst, sondern auch
der Mehrzahl der normal verbliebenen Menschen ermöglicht, dieselben
unterdrückten Regungen, die der Träumer zeitweilig in seinem Innern
auslebt und die der Paranoiker mit Hilfe seines Wahnes nur unvoll-
kommen beschwichtigen kann, in einer psycho-hygienischen und darum
sozial anerkannten, ja hochgewerteten Form zu befriedigen. Im Ent-
Avicklungsprozeß dieser kulturell hochwertigen Form der Befriedigung
verpönter Triebe glauben wir jedoch ein allmähliches Hinneigen des
ursprünglich traumhaften Charakters zu immer deutlicherer neurotischer
Gestaltung zu erkennen. Als allgemeinstes und wichtigstes Ergebnis
'; Vgl. die AnalyHc des kleinen Hans im Jahrldich 1. 1.
Das säkulare Fortschreiten der Verdrängung. RS
dieser zusammenfassenden Untersuchun«^ sei also hervorgehoben, daß
sich dieselben primitiv-sexuellen Wunschregungen, die einst in grauer
Urzeit Gegenstand des wirklichen Erlebens gewesen sind, nach Auf-
hebung ihrer realen Befriedigungsmöglichkeit in den unverhüllten
Traum und den naiven Mvthus flüchteten und sich von da. immer
mehr verhüllt (verdrängt), durch die bedeutendsten Kunstwerke dreier
Kulturperioden bis zu ihrer ftist krankhaft neurotischen Gestaltung
und Ablehnung verfolgen lassen, daß also die dichterische Produktion
von ihrer ursprünglich dem Traumleben analogen Befreiungstendenz
verdrängter Affektregungen allmählich in neurotische Hemmung
derselben umschlägft.
HI.
Die Inzestphantasie bei Scliiller.
Ziii' Psychologie der Entwürfe und Fragmente.
„Der Sohn liebt seine Mutter. Weltgebräuche,
Die Ordnung der Natur und Roms Gesetze
Verdammen diese Leidenschalt Mein Ansprach
Stößt fürchterlich auf meines Vaters Rechte."
Don Carlos.
Mit der fortschreitenden kulturellen Verdrängung der rein inzestuösen
Neigungen und Wünsche wächst natürlich die Schwierigkeit, diese immer
heimlicher verborgenen und subtiler verkleideten Regungen des Dichters
aus ihren symptomatischen Äußerungen, seinen Werken, herauszulesen.
Während sich beim ()dipus die Deutung noch zwanglos aus dem
►Stoff selbst ergab, wird sie beim Carlos vielleicht manchem schon ge-
zwungen erscheinen und ihm die Forderung weiterer Beweise nahe-
legen. Vor allem wird man mit Recht die Erwartung hegen, daß
ein zu solcher Bedeutsamkeit gelangter seelischer Komplex, wie er
uns in seiner dichterischen Äußerug im Inzestdrama entgegengetreten
ist, eine ganze Reihe künstlerischer Leistungen des betreffenden
Dichters charakterisieren müßte. Mau wird ferner nicht fehlgehen in
der Annahme, daß auch eine Anzahl unwillkürlicher Lebensäußerungen
eines solchen Menschen von Anspielungen auf das Thema durchsetzt
sein dürften, das ihn seit der frühesten Kindheit in tiefster Seele be-
schäftigt. Die Forderung der Durchgängigkeit dieser fundamentalen
seelischen Regungen in allen künstlerischen Äußerungen der be-
treffenden Dichter zeigt sich über Erwarten erfüllt bei einer psycho-
logischen Durchforschung der Entstehungsgeschichte ihrer Werke,
wobei man allerdings bis auf die individuellen Phantasien zurück-
gehen muß, die sich in der Dichtung ihren künstlerischen Ausdruck
zu verschaffen suchen. Verfolgt man diese Phantasien von ihrer
Bildung in der irühesten Kindheit und ihrer bald erfolgenden inten-
siven ^''erdrängung bis zu ihrer späteren Auffrischung in der Puber-
tätszeit, ihren Realisierungsversuchen im wirklichen Leben und ihrer
restlosen Umsetzung in künstlerische Motive bei einem Dichter, dessen
I'lan zum ,, Don Carlos''. 65
Werke uns völlig vertraut sind und dessen Leben und künstlerischer
Entwickluugsg-ano- uffen daliegt'), so bekommt mau nicht nur einen
beweiskräftigen Eindruck von dem ausschlaggebenden Einfluß des
Inzestkomplexes auf das dichterische Schaffen, sondern gewinnt auch
eine tiefere Einsicht, wie das künstlerische Produzieren einerseits mit
den realen Lebenseindrücken des Dichters, anderseits mit seinen ak-
tiven Lebensäußerungen zusammenhängt, wie es von jenen im ent-
scheidenden Sinne bestimmt zur idealen Ergänzung der unbefriedigenden
Wirklichkeit wird.
Der im vorigen Kapitel skizzierten Deutung des „Don Carlos"
als Inzestdrama raubt am meisten an Wahrscheinlichkeit der Umstand,
daß neben dem inzestuösen Familiendrama ein anderes mächtiges „po-
litisches'' Drama in den Vordergrund tritt. Aber aus brieflichen
Äußerungen Schillers sowie aus dem erhaltenen ersten Entwurf zum
„Don Carlos" und aus der ersten in der „Thalia"-) publizierten
Fassung der ersten drei Akte geht deutlich hervor, daß den Dichter
an diesem Stoff zunächst nur des Familiendrama und insbesondere die
Liebe des Infanten zu seiner Stiefmutter gefesselt hat. So schreibt er
(am 7. Juni 1784) an Dalberg, dem er die Anregung zur Beschäftigung
mit dem Stoff verdankt: „Carlos würde nichts weniger sein, als ein
politisches Stück — sondern eigentlich ein Familien gemälde aus
einem königlichen Hause, und die schreckliche Situation eines Vaters,
der mit seinem eigenen Sohn so unglücklich eifert, die schrecklichere
Situation eines Sohnes, der bei allen Ansprüchen auf das größte König-
reich der Welt ohne Hoffnung liebt und endlich aufgeopfert wird,
müßten, denke ich, höchst interessant ausfallen. Alles, was die Emp-
findung empört, würde ich ohnehin mit großer Sorgfalt vermeiden."
Tatsächlich hat im frühesten Plan zum „Don Carlos", der 1783
in Bauerbach entworfen wurde, das politische Drama noch gar keine
Bedeutung ; im Mittelpunkt steht die Leidenschaft des Infanten für
seine Stiefmutter, wie eine gekürzte Wiedergabe des neuerdings im
4. Band (S. 292 f.) der Säkularausgabe von Schillers Werken abge-
druckten Entwurfes zeigt:
„I. Schritt. Schürzung des Knotens.
A. Der Prinz liebt die Königin; das wird gezeigt:
1. Aus seiner Aufmerksamkeit.
B. Diese Liebe hat Hindernisse und scheint gefährlich für ihn zu
werden; dies lehre q :
1. Carlos heftige Leidenschaft und Verwegenheit.
2. Der tiefe Affekt seines Vaters, sein Argwohn, seine Neigung
zur Eifersacht, seine Rachsucht.
^) Neben den zahlreichen eingehenden Biographien sei insbesondere auf Minors
ausgezeichnetes leider Fragment gebliebenes Werk über Schiller verwiesen.
-) Schillers Rheinische Thalia, 1784 bis 1786,
Rank, JJas Inzestmofiv. 5
߻i 111. Die luzestphantasie bei Schiller.
II. Srliritt. 1 k'i- Knoten wird verwickelter.
.1. Oulus Lielte nimmt zu - — Ursachen:
1. Die Hindernisse selbst.
L'. Die Gegenliebe der Königin; diese äußert sieli, mo-
tiviert sich :
a) Aus ihrem zärtlichen Herzen, dem ein (legenstand mangelt.
a) Philipps Alter, Disharmonie mit ihrer Empfindung.
j's) Zwang ihres Standes.
h) Aus ihrer anfanglicJien Bestimmung und Neigung für den
Prinzen. Sie nährt diese angenehmen Erinnerungen gern,
r) Aus ihren Äußerungen in Gegenwart des Prinzen. Inneres
Leiden. Furchtsamkeit. Anteil. Verwirrung.
p) Einigen Funken von Eifersucht auf Carlos Verhalten zu der
Prinzessin von Eboli.
f) Einigen Äußerungen insgeheim aus einem Gespräch mit
dem Marquis und einer Szene mit Carlos,
/y. Die Hindernisse und Gefahren wachsen.
in. Schritt. Anscheinende Auflösung, die alle Knoten noch mehr ver-
wickelt.
A. Die Gefahren fangen an auszubrechen.
1 . Der König bekommt einen Wink und gerät in die heftigste
Eifersucht.
U. Don Carlos erbittert den König noch mehr,
3. Die Königin scheint den Verdacht zu recht-
fertigen.
4. Alles vereinigt sich, den Prinzen und die Königin strafbar zu
machen.
5. Der König beschließt seines Sohnes Verderben.
B. Der Prinz scheint aller Gefahr zu entrinnen.
3. Der Prinz und die Königin überwinden sich.
IV^. Schritt. Auflösung und Katastrophe.
.4. Regungen der Vaterliebe, des Mitleids u. s f. scheinen den Prinzen
zu begünstigen.
B. Die Leidenschaft der Königin verschlimmert die
Sache und vollendet des Prinzen Verderben,"
Vergleicht man diesen ersten Plan zum Don Carlos mit der
Quelle, aus der Schiller den Stoff schöpfte, ') so fällt zunächst auf, daß
dieser ursprüngliche Kern des Dramas lediglich das Verhältnis
zwischen Mutter, Sohn und Vater umfoßt, ein Beweis dafür, daß die
') St. Real.s Geschichte des Don Carlos. (Reclani Nr. 2013.)
Die inzestuöse Auffassung des Stoffes. 67
dichterische Arbeit tatsächlich von diesen einfachen Verhältnissen aus-
ging, auf die wir das später Avieder komplizierte dramatische Gefüge
im vorigen Kapitel reduzieren konnten. In dem ursprünglichen Aus-
schluß aller Hofkabalen, politischen Intrigen und kosmopolitischen
Ideen sowie der ganzen dazugehörigen Personenstaffage verrät sich
jedoch aufs deutlichste die persönliche Wurzel der Dichtung im Seelen-
leben ihres Schöpfers. Es kommen nämlich in diesem ersten Entwurf
die „inzestuösen" Züge, insbesondere die Neigung der Königin zum
Infanten (vgl. die im Entwurf hervorgehobenen Stellen) viel deutlicher
zum Durchbruch als in der ersten Ausführung oder gar in der end-
gültigen Fassung, wo diese Regungen schon stark verhüllt und in den
Hintergrund gerückt erscheinen. Noch auffälliger aber ist, daß
Schiller diesen inzestuösen Zug für die dramatische Grestaltung nicht
etwa bloß verstärkt oder nachdrücklicher betont hat, sondern daß er die
ganze schwüle Atmosphäre der Blutschande, von der bei St. Real mit keinem
Worte die Rede ist, eigentlich erst in den Stoff hineingebracht hat.
Bezeichnend für diese „inzestuöse" Auffassung des Stoffes, die in
Schillers Quelle nicht einmal angedeutet war, ist neben der im II.
Kapitel (S. 55) angeführten blutschänderischen Phantasie, welche die
Königin dem Prinzen vorhält, eine ähnliche Phantasie des Vaters von
der Blutschande des Sohnes mit der Mutter. Philipp sagt zu Lerma
(III, 2):
Euer Haar
Ist silbergrau, und ihr errötet nicht
An eures Weibes Redlichkeit zu glauben?
0, geht nach Hause. Eben trefft ihr sie
In eures Sohns blutschä ndrischer Umarmung.
Aber unmittelbar darauf folgt die Abwehr dieser seiaer persönlichen
Befürchtungen :
Ihr seht mich mit Bedeutung an ? — weil ich.
Ich selber etwa graue Haare trage?
Unglücklicher, besinnt euch. Königinnen
Beflecken ihre Tugend nicht. Ihr seid
Des Todes, wenn ihr zweifelt —
In der novellistischen Darstellung St. Reals ist Prinz Carlos in
die junge Frau eines alternden Mannes leidenschaftlich verliebt^); daß
dieser Mann des Prinzen Vater und der mächtigste Herrscher der
Christenheit ist, ergibt nur eine dem Liebhaber unerwünschte, dem
für das äußerliche Intrigenspiel schwärmenden französischen Geschichts-
schreiber jedoch sehr erwünschte Komplikation. Der Umstand, daß
die Königin des Prinzen Stiefmutter ist, kommt für keinen der Be-
teiligten besonders in Betracht. Gerade hier setzt aber, wie wir an-
nehmen müssen mit seinem persönlichen Inzestkomplex, Schillers
') Die Erwiderunor der Neigung durch Elisabeth soll erst St. lleal eingeführt
haben.
68 111 IHc luzestphantasic hei Schillor.
Interesse lur den Stuft* sowie dessen eharakterislisclio Auflassun«j^ und
Umf;;estaltimg ein. Dal) dabei der bloße Name, das Wort „Stief-
mutter'*, welehes 8t. Kcal Ubri<>ens auch niemals jj^cbraueht, eine ent-
seheidende Kulle fj^espielt hat, Avird niemand befremden, der die Eigen-
tümlichkeit der unbewußten Seelenvorgänge kennt, gerade die inner-
lichsten und wuchtigsten fJefühlsktjmplexe an die unscheinbarsten
äußerlichen Assoziationen zu lieften, und es ist kein Zufall, daß uns
bei der Auflösung solcher Lütungsstellen dieselben Wortspielereien als
Brücke dienten (vgl. Kap. II. den Gegensatz von leiblicher Mutter und
nomineller ^lutter). Ja, was die früheren Darlegungen direkt be-
stätigt und unser Verfahren vollauf rechtfertigt, ist die auffällige von
M i n o r hervorgehobene Tatsache, daß Schiller das Verhältnis des In-
fanten zu Elisabeth anfangs wie das des Sohnes zur leiblichen
Mutter behandelte: „Geflissentlich und mehr als billig
wird von Schiller, namentlich in der Thalia, der blut-
schänderische Charakter des Verhältnisses betont, als
ob es sich um die Liebe zur eigenen Mutter handelte."^)
Es läßt sich also auch bei der einzelnen Dichtung wieder vom
ersten Entwurf bis zur letzten Fassung eine allmähliche Abschwächung
und Verhüllung gewisser sexueller Motive erkennen, wie wir sie im
allgemein-seelischen Entwicklungsgang nachweisen konnten. Die Be-
rücksichtigung dieser individuellen Verdrängungsvorgänge erweist sich
für eine vertiefte psychologische Detailuntersuchung als unumgänglich
nötig und in mehrfacher Hinsicht als außerordentlich fruchtbar. Sie
zeigt uns vor allem, daß die endgültige aufdringliche Betonung der
politischen Handlung, die das Drama wieder seiner ursprünglichen
StoffVj[uelle annähert, aus einer Verhüllungstendenz entspringt, die das
die psychische Triebkraft für die dichterische Gestaltung liefernde
inzestuöse Familiendrama betrifft und eine Ablenkung des bewußten
Interesses von dem verpönten sexuellen Thema bezweckt. Diese Ab-
biendung bezieht sich natürlich zunächst auf den Dichter selbst, dem
sie die vorwurfslose und hemmungsfreie Darstellung des aus erotischen
Motiven gewählten und von unbewußt-sexuellen Triebkräften gestalteten
Stoffes ermöglicht; sie wirkt aber dann beim Beurteiler des Werkes
in ähnlicher Weise ablenkend, w^odurch jedoch der wahrhaft wirkungs-
volle, d. i. unbewußte Effekt des eigentlich erotischen Dramas im
Empfangenden ausgelöst wird. Wir Averden hier nebenbei darauf auf-
merksam, daß auch die scheinbar gleichlautendste Übereinstimmung
zwischen der endgültigen Fassung einer dramatischen Produktion
und ihrer Stoffquelle, wie sie ja für Schillers Don Carlos zuzutreffen
scheint, nicht immer auf eine einfache Übernahme des zur „Dramati-
sierung" geeigneten j\raterials zurückzuführen ist. Die innere Ent-
stehungsgeschichte von Schil lers Don Carlos zeigt uns vielmehr, daß
') Schiller, seiu Leben und seine Werke von J. Minor. Berlin 1890
2. Band, S. 540.
Zur Psychologie der Entwürfe und Fragmeute. 69
zwischen der stofflichen Überlieferung, die dem Dichter als Vorbild
diente, und ihrer bis auf kleine Details g-etreuen dramatischen Wieder-
gabe, psychische Vorstadien der Produktion liegen, in denen einerseits
die persönlichen Komplexe des Dichters, von denen er bei der Stoff-
wahl geleitet ^vurde, in aufdringlicher Weise den ganzen Stoff zu
durchsetzen suchen, anderseits wieder eine gewisse geistige Scham
(Verdrängungstendenz) bemüht ist, den Anteil der eigenen erotischen
Phantasien möglichst zu verwischen. Diese die Produktion scheinbar
verzögernden und hinausschiebenden Prozesse sind, so seltsam es klingen
mag, notwendige Vorbedingungen des eigentlichen Schöpfungsaktes.
Denn nur dadurch, daß die erotischen Komplexe des Dichters von
den Stellen aus, welche die Stoffwahl unbewußt bestimmten, das ganze
Tliema völlig durchtränken und erfüllen, um dann unter der Einwirkung
einer Gegenströmung (der Verdrängungstendenz) wieder zurückzufluten
— nur dadurch kann man das auf alle Details sich gleichmäßig er-
streckende Interesse des Dichters verstehen, das wir uns — geraessen
an den zu überwindenden psychischen und rein technischen Schwierig-
keiten, sowüe an der enormen schöpferischen Leistung — als sehr
intensiv und aus erotischen Quellen abgeleitet vorstellen müssen. Was
uns so vom subjektiven Standpunkt des Dichters als notwendige Be-
dingung der Produktion erscheint, das erweist sich vom objektiven
Standpunkt des Hörers betrachtet als eines der technischen Kunst-
mittel, welches die persönlichen Komplexe und Phantasien des Künstlers
durch Ablenkung des Interesses vom Inhalt auf die Form zur Mit-
teilung und zum lustvollen Genießen geeignet macht. Schiller
selbst hat diesen Vorgang, den wir als Verwischen der persönlich ge-
färbten Phantasieelemente erkannten, als ., Vernichtung des Stoffes durch
die Form" beschrieben^) und in ähnlichem Sinne hat auch Spitteler
von der notwendigen „künstlerischen Entwertung eines dichterischen
Themas'' gesprochen (Kunstwart, Bd. 20, S. 73 — 79).
Die Tatsache, daß im ursprünglichen Entwurf und selbst noch
in der ersten Fassung des ,,Don Carlos" in der Thalia der inzestuöse
Charakter viel aufdringlicher betont ist, als in der endgültigen Aus-
arbeitung des Dramas, erklärt sich also durch die Einwirkung eines
gegen das Vordringen gewisser intensiv-erotischer Komplexe des
Dichters auftretenden Verdrängungsschubes, der eine strenge Zen-
surierung ^) des anstößigen Textes bewirkt, dabei aber bemüht ist,
dem Stoff das zu seiner Gestaltung notwendige erotische Interesse zu
erhalten. In diesem heftigen Durchbruch des erotischen Inzest-
komplexes, der die Wahl und die inzestuöse Zurechtlegung des viel
harmloseren Stoffes bewirkt, sowie dem darauf folgenden Verdrängungs-
schub dürfen Avir, gestützt auf gesicherte Erfahrungen der Neurosen-
psychologie, ein Spiegelbild oder richtiger gesagt eine Wiederbelebung
^) Vgfl. aucli Karl Grooß: Das Spiel als Katliarsis (Zeitschr. f. pädagog'.
Psycho!., 12. Jahrg., 1911, H. 7/8).
^) Vgl. die Traumzensur bei Freud.
lO lli. |)ii' in7,cst|iliant;isi(' hei Scliillcr.
ähnlicher infantiler Vorgänge selien und nitissen daraus auf ein früh-
zeitiges, sehr intensives Liebesverhältnis des Dichters zur ]\[utter
schließen, welches bald der Verdrängung verfallen, selbst im dich-
terischen Schatten einen zwar vielfach entstellten, aber doch in h(jhem
Grade befriedigenden Ausdruck Hnden konnte. Zum Glück setzt uns
nun ein in Schillers Nachlaß vorgefundenes Fragment in den Stand,
auch den vollen und unverhüllten dichterischen Ausdruck dieser
Neigung nachzuweisen und so die aufgestellten Behauptungen gleichsam
experimentell zu erhärten : an dem Fragment zu einer „Agri])])i na",
welches uns zugleich Anlaß bietet, auf die Psychologie der unvollen-
deten dichterischen Produktionen ein Streiflicht zu werfen.
Die Fragment gebliebenen Dichtungen sind Arbeiten zu ver-
gleichen, welche über das Vorstadium des Entwurfs nicht hinausge-
kommen sind. Fanden wir nun in den Entwürfen ein deutlicheres
Durchschlagen der verdrängten Kegungen und Phantasien als im voll-
endeten Werk, so müßte Ahnliches auch von den Fragmenten gelten,
die sich jedoch in dieser Hinsicht noch aufschlußreicher erweisen, da
sie deutlich verraten, an welchen Problemen die künstlerische Subli-
mierungsarbeit ins Stocken gerät. Bewirkt auch bei den Fragment
gebliebenen Entwürfen die Unmittelbarkeit, das einfallsmäßige der
Konzeption, zunächst ein Nachlassen der psychischen Zensur, eine
freiere Äußerung des unterdrückten Phantasielebens, so wird eben bei
gemssen Stoffen diese Freiheit auf der einen Seite psychisch ausge-
glichen durch den Mangel auf der andern Seite: daß die Arbeit
nämlich unvollendet bleibt. Die seelischen Hemmungen, die eine freiere
Äußerung der verdrängten Kegungen im einzelnen nicht hindern,
stellen sich dann gleichsam als vereinte Macht dem Ablauf des gesamten
künstlerischen Prozesses entgegen. Wir werden so darauf aufmerksam,
daß die beiden vorhin geschilderten Prozesse : die unbewußte Besitz-
ergreifung und Durchtränkung des Stoffes mit den eigenen erotischen
Komplexen sowie die diesen Kohstc^ff künstlerisch sublimierende Ver-
drängungswelle, auch die Fragment gebliebenen Arbeiten, jedoch in
einer weit übermäßigeren Intensität begleiten. Es erfolgt hier ein so
aufdringlicher Durchbruch des erotischen Phantasielebens, daß der zu
seiner Eindämmung erforderliche Verdrängungsschub die ganze Strömung
ins Stocken bringt. Das Agrippina-Fragment, das uns als weiterer Be-
weis für Schillers Inzestgefühle dienen soll, eignet sich besonders gut
dazu, unsere Auffassung von dem intensiven Vordringen des erotischen
Inzestkomplexes und seiner Zurückdrängung zu bestätigen und an
einem besonderen Fall zu veranschaulichen. Vorher jedoch sei kurz
die geschichtlich überlieferte Vorfabel, so weit sie zum Verständnis
des dürftigen Schiller sehen Fragments nötig ist, sowie der auf Agrip-
pinas Blutschande bezügliche historische Bericht, den der Dichter be-
nützte, mitgeteilt.
I)cr römische Könij;- Chuulius (41 his 54 n. Chr.) hatte von seiner
Gemahlin Messalina zwei Kiuder : eine Tochter Uctavia und einen Sühn
Die Blutschande Neros mit seiner Mutter Agrippiua. 71
Britanniens. Nachdem er die Messalina hatte töten lassen, heiratete er iu
zweiter Ehe seine Nichte Agrippina^), die einen Sohn L. Domitius,
später Nero genannt, aus ihrer ersten Ehe mit Ai-nobarbus mitbrachte.
Claudius adoptierte den Nero, ernannte ihn zu seinem Thronfolger und
vermählte ihn auf Betreiben Agrippinas mit seiner Stiefschwester Qctavia -).
Als er die Adoption zu bereuen begann, soll ihn Agrippina vergiftet
haben, worauf Nero den Thron bestieg. — Die folgenden Details, die sich
auf das Verhältnis Neros zu seiner Mutter beziehen, sind den Berichten
des Tacitus und des Suetonius entnommen. Daß Schiller den Tacitus
benützt hat, ist erwiesen; ob er auch den Sueton verwendete, ist nicht
bekannt, aber bei seiner Gewissenhaftigkeit im Quellenstudium und seiner um-
fassenden geschichtlichen Bildung zu vermuten.
Tacitus berichtet (Ann. XIV, c. 2) über das blutschände-
rische Verhältnis Neros zu seiner Mutter Agrippina:
.,Cluvius erzählt, daß Agrippina in ihrer Begierde die Macht beizu-
behalten, so weit gegangen sei, daß sie am hellen Tage, während zu dieser
Zeit Nero beim Gelage vom Wein glühte, dem Erhitzten sich öfter ge-
schmückt und zur Blutschande bereit zeigte, und daß, als schon die
Nächststehendeu ihre wollüstigen Küsse und Liebkosungen zum Vorspiel
der Unzucht bemerkten, Seneca (Neros Lehrer) Schutz gegen die Liol)-
kosungen dieses Weibes bei einem anderen Weibe gesucht habe. Er habe
Akte (eine Buhlerin Neros) an ihn geschickt, die durch ihre eigene Ge-
fahr und zugleich durch Neros üblen Ruf in Besorgnis gesetzt, es an ihn
bringen mußte, die Blutschande sei allgemein bekannt, da seine Mutter
sich ihrer öffentlich rühme, und die Soldaten würden die Herrschaft eines
sündhaften Fürsten nicht dulden. Fabius Eusticus erzählt, die
Blutschande sei nicht Agrippinas, sondern Neros Wunsch
gewesen und nur durch die List derselben Freigelassenen vereitelt
worden. Aber den Bericht des Cluvius geben auch die anderen Quellen,
und die gemeine Meinung neigt sich auf diese Seite." Daß Nero es ge-
wesen sei, der die Blutschande gefordert habe, berichtet auch Suetonius
in Nerone c. 28: „Daß er seine Mutter zu beschlafen gewünscht habe und
nur durch ihre Feinde davon abgehalten wurde, die das übermütige und
zügellose Weib nicht auch noch durch diese Gunst ihren Einfluß verstärken
lassen wollten, daran zweifelt niemand, namentlich seitdem er eine Buhl-
dirne, die mit seiner Mutter sehr viel Ähnlichkeit gehabt
haben soll^), unter seine Beischläferinnen aufgenommen hatte. Früher
^) Er soll dazu durch die Lockungen der Agrippina verleitet worden sein. Da
aber das römische Gesetz derartige Verwandtenehen verbot, ließ Claudius im Senat
den Antrag einbringen: man müsse ihn aus Gründen des Staatswohls zwingen, die
Agrippina zu heiraten, und zugleich überhaupt solche "Verbindungen, die bis dahin
als blutschänderische galten, für allgemein erlaubt erklären. Bereits einen Tag nach
der Zustimmung heiratete er die Agrippina.
2) Es ist weniger für die damalige Zeit und ihre Sitten als für das familiäre
Auftreten der Inzestregungen charakteristisch, daß auch Neros Vater der Blutschande
mit seiner eigenen Schwester Lepida beschuldigt wurde.
^) Das Gleiche berichtet X i p h 1 1 i n in Nerone, der auch die Lockversuche
der Agrippina aus ihrem Ehrgeiz erklärt und die Buhlschaft Neros mit seiner Mutter
72. III. l>i«' Inzestphantasic bei .Schiller.
schon, so wird vcrsiclicrt, lialic er, so oft er mit seiner Mutter in einer
Sänfte j;etr!ij:'en wurde, seine iinziiehtin-e Geilheit an ihr {getrieben und dies
durch die Flecken auf seinem Kleide verraten'" (übersetzt von Keichhardt).
Als N e r später den Einfluß seiner Mutter zu fürchten begann, soll
er ihre» Tod beschlossen haben ^). Unter dem Vorwandc eines Festes
lockte er sie nach liaiae : ..dort zog er die Tafel in die Länge und be-
gleitete Agrippina l)eim Weggehen, wobei er auf ihre Augen und ihre
Brüste seinen Mund fest drückte, sei es, daß er seine Verstellung voll-
ständig machen wollte, oder daß der letzte Anblick seiner in den Tod ge-
henden Mutter doch sein Gemüt bei aller Unmenschlichkeit, beschäftigte"
(Tacit. Ann. XIV, 4). Als dieser Anschlag mißglückte, ließ er die Mutter
ermorden und dann das (Jerücht verbreiten, sie habe sich aus Furcht vor
der Strafe wegen eines angeblich gegen ihn gerichteten Mordanschlages
selbst entleibt. „Außerdem wird, so berichtet öueton weiter, und zwar
von glaubwürdigen Schriftstellern, noch Gräßliches erzählt, er sei nämlich
herbeigeeilt, um den Leichnam seiner Mutter zu besichtigen, und habe
dann ihre Körperteile betastet, einzelnes an ihnen ausgesetzt, anderes ge-
lobt und, da er während dessen Durst bekam, getrunken" (c. 34). Tacitus
(Ann. XIV, c. 9) stellt es als ungewiß hin, ob Nero seine tote Mutter
beschaut und ihren Wuchs gelobt habe. Xiphiliu dagegen meldet, daß er
die ganz Entblößte wohl betrachtet und nebst anderen unzüchtigen Keden
gesagt habe: ,Tch wußte nicht, daß ich eine so schöne Mutter habe" ^).
— jedoch als nicht ganz sicher — behauptet. — In dieser Ähnlichkeit der Bei-
schläferin mit der Mutter ist deutlich die inzestuöse Nach^virkung bei der Wahl des
Öexualobjekts zu sehen, was also schon die Zeitgenossen Neros erkannten.
^) Nach Justinns (I, 12, 10 u. 11) wurde schließlich auch Semiramis, als sie
den Beischlaf ihres Sohnes begehrte, von diesem getötet. Vgl. dazu den Spottvers
der Volksdichtung (bei Sueton Nerone c. 38):
„Nero, Orest, Alkmäon Mattermörder sind.
Nero der eigenen Mutter, deren Mann er war!"
-) Über weitere Details aus dem merkwürdigen „Sexualleben des
Kaisers Nero" vgl. man die Studie von Max Kaufmann (Verlag Spohr,
Leipzig). Die Erklärung seines seltsamen Sexuallebens wird man einzig in der Be-
wahrimg des von Freud (Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie, 1905) nominierten
polymorph-perversen Charakters der infantilen Sexualität finden. Die sadistische
Grundlage, die auch Kau fmann in den Vordergrund stellt, spricht ja sehr dafür, wie
sie auch seinen Muttermord begreiflicher erscheinen läßt. Er tötet die meisten Weiber,
die er wirklich liel)t: Popäa Sabina, ferner seine erste Gemahlin und Stiefschwester Ok-
tavia, seine Mutter, seine 'i'ante (Sueton c. 34) u. a. m. Aber auch die direkten, aus
dem Nebenbulilerhaß entspringenden Mordimpulse läßt er frei sch;ilten: So soll er an
dem Tod seines Stiefvaters Claudius, des Gemahls der Agrippa, mitschuldig
gewesen sein (Sueton c. 33), ferner ließ er den jungen Aulus Plantius, den Liebhaber
seiner Mutter, ermorden und rief ihm nach: „Nun mag meine Mutter kommen und
meinen Nachfolger küssen". Ebenso ließ er seinen Stiefsohn Rufius Crispinus, der
Popäa Sohn, ersäufen, weil er gehört hatte, dieser stelle beim Spielen Feldherren und
Kegenten vor (c. 35). — Auch über Neros Träume berichtet Sueton (c. 4G) ein cha-
rakteristisches und von unserem Standj.unkt aus leicht verständliches Detail:
„Während er früher nie Träume hatte, sah er seit der Eimordiuig seiner Mutter
Traumgesichte". Diese ersetzen ))ei ihm. nachdem die reale Befriedigung der In-
zestregungen unmöglich geworden war. die Inzestträumc. - Gelegentlich iiat Freud,
auf Grund seiner Beobachtung, „dali die Personen, die sich von der Mutter bevor-
Schillers Agrippina-Fragment. 73
Dieser kurze Bericht der historisch überlieferten Ereignisse, der
zunächst nur einen Begriff von dem Stoff geben soll, den Schiller zu
bearbeiten gedachte, wird um so erwünschter sein, als das Fragment
selbst, wie erwähnt, sehr dürftig ist und außerdem an dieser Stelle
nur die für unseren Zusammenhang wichtigen Punkte daraus mitge-
teilt sind:
„Es kostet den Nero etwas, seine Mutter umzubringen; nicht etwa
aus einem Rest von Liebe, die hat er nie für sie empfunden. Es
ist bloß die unvertilgbare Naturstimmo, die er Mühe hat, zum Stillschweigen
zu bringen. Diese Natorstimme ist so allgemein, .... daß selbst ein
Nero die heftigste Krise ausstehen muß, ehe er es überwindet, und er
überwindet es nicht, sondern muß es umgehen.-' Dazu macht Schiller
die Eandbemerkung : „Ja es kommt in dem Stücke selbst so weit, daß
seine Mutter ihn noch einmal herumbringt."
„Sie hat sich fähig gezeigt zu jedem Verbrechen, da sie Ehebruch,
Blutschande (sie hatte ihren Oheim geheiratet) und Mord schon ver-
suchte. "
„Ein geheimes Ereignis zwischen dem Nero und seiner
Mutter flößt ihr die Hoffnung ein, daß sie ihn entweder noch herum-
bringen, oder daß er sie doch nicht töten werde.''
„Agrippina macht einen Versuch, die Begierde des
Nero zu erregen; soweit dies nämlich ohne Verletzung der tragischen
Würde sich darstellen läßt. Es wird, versteht sich, mehr erraten
als ausgesprochen."
Wie man aus den mitgeteilten Bruchstücken des Fragments ersieht,
motiviert Schiller den ungewöhnlichen Verführungsversuch der Agrip-
pina weder als pathologische Steigerung der normalen Mutterliebe, wie
es Lohenstein in seiner „Agrippina" wenigstens andeutungsweise
versucht, noch durch ihre ehrgeizigen Bestrebungen, denen es um den
Einfluß auf den Sohn zu tun ist, sondern sie tut es — und das soll
ihre Handlungsweise begreiflicher erscheinen lassen — um ihr Leben
zu retten. Dieser Motivierung entsprechend mußte Schiller die Über-
lieferung wählen, nach der Agrippina der werbende Teil ist.^) Er
zugt oder ausgezeichnet wissen, im Leben jene besondere Zuversicht zu sich selbst,
jenen unerschütterlichen Optimismus bekunden, die nicht selten als heldenhaft er-
scheinen und den wirklichen Erfolg erzwingen" (Traumdtg., 3. Aufl., S. 207,
Anmkg.), die feine Bemerkung gemacht, der als Jüngling recht wohl erzogene und
fein gebildete Nero sei erst durch die sexuellen Annäherungen seiner Mutter zu dem
grausamen, üppigen und sich keinen Wunsch mehr versagenden Tyrannen geworden.
Ahnliches weiß die Überlieferung selbst von Periander zu erzählen (vgl. Kap. XII.).
In diesem Zusammenhang erscheint es, f;ills keine beglaubigte Überlieferung vorliegen
sollte, als feiner dichterischer Zug, Avenn der Italiener Pietro C o s s a in seinem
Drama: Nerone artista den Nero, der sich bekanntlich auch als Schauspieler
betätigte, sagen läßt, er spiele und singe den Ödipus zum Bewundern (Kaufmann
a. a. O. S. 41).
^) Die Uneiuiokeit der Historiker in diesem Punkt und der Umstand, daß
keiner von ihnen das wahrscheinlichste Verhältnis, nämlich eine Zuneigung von
beiden Seiten, berichtet, ließe eine ähnliche psychisch bedingte Auswahl wie beim
74 III. IHc luzestpliantasio hei JScliiller.
bov()r/.ii<xti' aber diese Versittn wühl liauptsäclilicli deshalb, weil sie der
Ablehnung seiner eigenen verdrängten Neigung zur Mutter Aus-
druck verlieh (,,Liebe — hat er nie für sie emjtfunden'') und zugleich
dorn Wunsch jedes mit Ablehnung liebenden Menschen, nach dem
Entgegenkommen der Geliebten, in übertriebener Weise Rechnung
trägt.
Trotz der ]\Ii Iderungen und psychologischen Verhüllungen, die
Schillers Entwurf von der geschichtlichen Überlieferung unterscheidet,
ist es dem Dichter doch nicht gelungen, das für ihn Abstoßende des
unverhüllten St(jft"es glatt zu überwinden; und es hat einen tragischen
Zug, aber auch seine tiefe psychologische Begründung, daß gerade
der Punkt, der ihn unbewußt am meisten zu dem Stoff hinzog, die
ziemlich unverhüllte Darstellung des wirklichen Inzests mit der
i\Iutter, ihn — als die Abwehrvorstellungen hinzutraten — an der
weiteren Ausführung des Planes hinderte. In seinem bewußten Denken
motiviert er dieses Schicksal mit der Entschuldigung, das Thema sei
mit der tragischen Würde nicht zu vereinen gewesen.
Ungefiihr ein Jahrhundert vor Schiller war das noch möglich,
wie Caspar v. Lohensteins Trauerspiel A g r i p p i n a beweist.
Auch bei Lohenstein, der sich streng an die geschichtliche Überlieferung
hält, ist die Mutter die Versucherin. Eine Szene der dritten Ab-
handlung, die „in des Kaysers Schlaff-Gemach" spielt, enthält eine
bis an die äußerste Grenze des Darstellbaren gehende Liebeswerbung
der Mutter um ihren Sohn, die in der unbewußten Naivetät, mit
der sie diese Liebe mit den ersten kindlichen Sexualregungen in Ver-
bindung bringt, Beachtung verdient.
Agrijipina. Mein Kind / mein süßes Licht /was liält'stu länger mir
Der halbgeschmeckten Lust mehr reife I'riichte für?
Ach I so erquickt uns doch der Liebe letzter Zweck !
Die Anrauth ladet uns selbst auff diß Pnrpur-Bette.
Nero. Ja / Mutter / wenn mich nicht die Schooß getragen liätte.
A g r i j) )) i n a. Die Brüste / die du oft geküßt hast / säugten dich :
Was hat nun Brust und Schooß für Unterschied in sich?
— — — — Soll sich die Mutter schämen
Zu lieben ihren Sohn? Die mit der Milch ihm flöß't
Die Liebes-Ader ein — — — — — — — — —
Wer sol die ^rutter-Briist mehr lieben / als ihr Kind ?
Dichter auch beim Geschichtschreiber vermuten. Jedenfalls darf man an die Psy-
chologie des Berichtenden nicht vergessen. — Vgl. dazu Strindbergs Bemerkung
im „Neuen Blaubuch" (G. Müller, München), wo er über Shakespeares Verhältnis
zur Geschichte spricht: „Uie Urteile der Menschen, auch der Historiker, wurzeln in
Leidenschaften und Inturesseu."
Loliensteins ,, Agrippina-'. 75
Nero. Ja / aber daß dazu nicht gifft'g^e Wollust rinn't,
Agrippiua. Wo Liebes-Sonnen stehn folgt auch der Wollust Schatten
Warum sol denn diß Tun als Untat seyn verfluchet /
Wenn ein holdreicher Sohn die Schooß der Mutter suchet?
Den Brunnen der Geburth? Da er der Liebe Frucht
Und die Erneuerung des matten Lebens sucht.
(v. 130 u. ff.)
Daß die Geschichte Neros, diese Fundgrube für inzestuöse
Greuel, die Dichter aller späteren Zeiten zur Bearbeitung verlockte,
sei hier nur erwähnt.^) Außer den schon genannten Dramen möchte
ich nur kurz auf Eacines: Britanniens (1669) deswegen ver-
weisen, weil sich Bruchstücke eines Übersetzungsversuches dieses
Werkes in Schillers Nachlaß gefunden haben. Dieses Drama, das
den auch historisch überlieferten Mord Neros an seinem Stiefbruder
Britanniens behandelt, wird uns im zweiten Abschnitt (Kap. XXI.) näher
beschäftigen, weil es den Haß und schließlichen Mord Neros an seinem
Stiefbruder durch Eifersucht und die Rivalität um ein Weib motiviert.
Die Liebe zur Mutter wird, dem verfeinerten Schamgefühl Ra eines
entsprechend, nur leise angedeutet (V, 3) :
A g r i p p i n a. — — — ■ — — — — Nero gab
Mir allzu sichre Pfänder seiner Treue.
hättest du gesehn die Zärtlichkeit,
Womit er seine Eide mir erneute !
Wie er umarmend mich gefesselt hielt!
Sein Arm, der mich umstrickte, konnte nicht
Beim Abschied von mir lassen ; seine Liebe
Um Aug' und Stirn verbreitet, ließ gefällig
Auf kleinere Geheimnisse sich ein.
(Übersetzt von Vieh off.)
Außer der deutlichen aber darum unausgeführt gebliebenen
Äußerung von Schillers erotischer Mutterliebe in der Agrippina und
der verhüllten, aber darum nicht minder beweiskräftigen Andeutung
in Don Carlos, findet sicli in Schillers Dichtung kein direkter Hin-
weis auf eine erotische Leidenschaft für die Mutter, woraus auf eine
mächtige Verdrängung und anderweitige Verarbeitung dieser ursprüng-
lich sehr intensiv anzunehmenden Gefühlsregungen geschlossen
werden muß. Dagegen erscheint in seinen dramatischen Schöpfungen
mit einer auffälligen Häufigkeit und in aufdringlicher Betonung der
Konflikt zwischen Vater und Sohn in den Vordergrund gerückt.
Schon in den drei aufeinanderfolgenden Niederschriften des Don Carlos
läßt sich parallel mit der allmählichen Abschwächung des inzestuösen
Charakters im Verhältnis der Königin zum Infanten eine Verschärfung
') Eine ziemlich vollständige Liste samt kurzer Charakterisierung rler
Dichtungen, die Neros Leben behandeln, findet man bei Kaufmann S. 34—44.
7() III. Die Iiizestpliaiiitasic bei iSchilk'r.
des Verhältnisses zum Vater wahriu'hmen. Während im Entwurf die
Nei^un^ der Köniofin zum Sohne im Vordergrund steht, als deren
bluße Begleiterselieinung der eifersüchtige Verdacht des Königs er-
scheint, ist in den beiden letzten Niederschriften das dramatische
Hauptgewicht auf den Haß des Vaters gelegt. Dieses verkehrt pro-
porticmalo \>rh;iltnis, in dem die Betonung von Mutterliebe und
Vaterhalj in den verschiedenen Ausarbeitungen des Dramas steht,
macht uns auf eine besonders innige Beziehung dieser beiden GefUhls-
komplexe aufmerksam. Es scheint, als hätte die allmählich wieder
ins Unbewußte zurückgedrängte Verliebtheit in die Mutter gleichsam
als kompensatorischen Ersatz im Bewußtsein die Abneigung gegen den
\'ater verstärkt. Dieser Vorgang des Ersatzes eines ins Unbewußte
verdrängten Gedankens durch eine meist gegenteilige oder sonst damit
eng verknüpfte überwertige bewußte Vorstellung ist aus der Psychologie
der Neurosen als „Mechanismen der Keaktionsverstärkung"
(Freud)^) gut bekannt. Auch diesen im allmählichen Schöpfungs-
prozeß des Don Carlos deutlicli wirksamen Mechanismus müssen wir
als Wiederbelebung analoger infantiler Vorgänge auffassen. Aus der
intensiven Neigung zur Mutter folgt ja notwendig eine gewisse eifer-
süchtige Abneigung gegen den bevorzugten Vater und die Verdrängung
der inzestuösen Verliebtheit wird ebensosehr auf Grund innerer Ent-
wicklungsbedingungen eingeleitet, als infolge der äußeren Hindernisse,
die sich für das Kind im Vater verkörpern. So gibt der Vater als
Störer der ersten Liebesbeziehung des Sohnes (zur Mutter) den un-
mittelbaren Anstoß zu deren Verdrängung, lädt aber dadurch zugleich
den aus diesen eifersüchtigen Quellen gespeisten Haß des Sohnes
dauernd auf sich. Ja, es hat den Anschein, als gewänne die schon
bestehende Abneigung gegen den begünstigten Vater erst durch diese
Keaktionsverstärkung von selten der unbewußt gewordenen Mutterliebe
den übertriebenen und unsterblichen Charakter des tödlichen Hasses.
Denn auch die Quelle, aus welcher die Feindseligkeit gegen den
\'ater ihre Unzerstörbarkeit bezieht, ist nach einer Bemerkung
Freuds^) von der Natur sinnlicher Begierden.
Die übermäßige Betcmung des Vaterhasses ist insofern eine Ab-
wehr der verdrängten Inzestneigung, als sie den S(jhn beständig an
das Hindernis gemahnt, das der Realisierung seiner luzestphantasie im
Wege steht, anderseits ermöglicht sie aber in dem Ersatz eines
sexuellen Moments durch ein scheinbar asexuelles, mehrdeutiges Motiv
die harmlosere Ableitung der verdrängten erotischen Gefühle zur
Speisung des Vaterhaß-Affektes. So erweist sich auch von dieser
Seite der übermäßige Haß gegen den Vater als Verdrängungssymptom
einer intensiven Verliebtheit in die Mutter, ein Zusammenhang, welcher
*J Vgl. das Brnchstück einer Hysterie-Analyse a. a. O. S. 47; Jinch da handelt
es hIcIi um die verdrängte Verliebtheit in den Vater, die sich in bewußten Vor-
würfen gegen denselben iliißett.
-) Bemerkungen über einen Fall von Zwangsneurose. Jahrbuch I, S. 376.
Die erotische Wurzel des Hasses gegen den Vater. 77
in der verhältnismäßig noch unkomplizierten Psyche des Kindes deut-
lich zu Tage tritt und von Freud in seiner „Analyse der Phobie eines
fünfjährigen Knaben'' (Jahrbuch I, 8. 102) nachdrücklich hervorgehoben
wurde: „Im übrigen ist unverkennbar, daß der feindselige Komplex
gegen den Vater bei Hans überall den lüsternen gegen die Mutter ver-
deckt."
Der Vaterhaß, der mit der Beseitigung seiner mütterlichen
Ätiologie unverständlich wird, bedarf nun aber einer bewußten
Begründung und diese erfolgt mit auffallender Häufigkeit durch ein
die Beteiligung des Mutterkomplexes noch mehr verhüllendes Motiv,
welches für das neurotische Empfinden charakteristisch ist, aber auch
die normale Kindheitsentwicklung begleitet und an der dramatischen
Produktion einen großen Anteil hat. Diese sonderbare Motivierung
des Hasses gegen den Vater kommt zu stände mittels des uns seiner
Bedeutung und seinem Wesen nach schon bekannten Projektions-
mechanismus. Es wurde schon hervorgehoben, daß das Kind in seinen
Phantasien das Verhalten der Eltern in tendenziöser Weise, im Sinne
seiner eigenen Empfindungen korrigiert, ohne Rücksicht darauf, ob
seine Annahmen auch den Tatsachen entsprechen. Für die psychische
Wirksamkeit ist das auch ganz gleichgültig, denn im seelischen Ge-
schehen erscheinen wirkliche und phantasierte Begebenheiten zunächst
als gleichwertig. Ja, noch mehr. Die analytische Durchforschung
der Psychoneurosen hat gelehrt, daß nicht die unverfälschten Erlebnisse,
sondern gerade die sich daran knüpfenden Phantasien die nachhaltigsten
und tiefsten seelischen Wirkungen bestimmen. Wie sich nun das Kind die
Verhältnisse zurechtlegt, die seinen Wünschen entsprechen, ^) so produziert
der Neurotiker alles, was er zur Gestaltung seiner Symptome braucht
und in ähnlicher Weise schafft sich auch der Künstler die psychischen
Bedingungen zur Rechtfertigung oder Verdammung seiner Emp-
findungen.^) Beim Neurotiker gewährt uns die ps3^choaualytische
Methode Einblick in diesen Mechanismus: der Jüngling empfindet
etAva eine heftige Abneigung gegen seinen Vater; da ihm die tiefste
Quelle dieser der Intensität nach unerklärlichen Empfindung, näniHch
die Verliebtheit in die Mutter, nicht bewußt ist (die hat er verdrängt),
so findet er keinen plausiblen Grund zur Rechtfertigung dieses über-
triebenen Hasses. Er projiziert ihn daher — uud das ist ein für nor-
males wie abnormes Geschehen charakteristischer Mechanismus — auf
den Vater: das heißt, er lebt in der festen Überzeugung, der Vater
stehe ihm mit feindseligen Empfindungen gegenüber; auf diese Weise
') Vgl. Abraham: Das Erleben sexueller Traumen als Form infantiler Sexual-
betätigung. Gauppsches Zentralblatt für Nervenheilkunde und Psychiatrie vom
15. November 1907.
'■^) Es sei hier schon angedeutet, daß die gleiche Projektion eigener seelischer
Regungen oder ihrer Abwehr auch die dichterische und mythische Darstellung des
Verhältnisses zur Mutter bestimmt (vgl. die beiden Formen des „Stiefmutter-Themas",
Kap. IV).
7H III. Die Inzostphantasic bei Scliillcr.
jjfolinfi^t i's ihm. seine ei<j^ene, unbewiiliten (Quellen entstammende Ab-
neigun»;: jifegen den Vater vor sich sellist, alxn* auch vor seiner Um-
gebung zu rechtfertigen. Diesem Motiv des vermeintlichen
Vater ha sses kommt im Don Carlos eine große Bedeutung zu. Die
AV)neigung des Prinzen gegen seinen königlichen Vater ist wiederholt
mit dem Hinweis auf den Haß des Vaters gegen seinen Sohn und
Nachfolger motiviert :
Carlos: — — — Hassen Sie mich nicht mehr,
Ifh will Sie kindlich, will Sie feiirij^ lieben,
Nur hassen Sie mich nicht mehr — — —
Der Dichter hat es natürlich leicht, diese Phantasie des hassen-
den Vaters, die sich beim Paranoiker mittels der Affektverkehrung
in der Form des Verfolgungswahnes durchsetzt, innerhalb der Grenzen
normalen Empfindens zu realisieren. Hat doch derselbe Mechanismus,
der auch die notwendige Projektionsarbeit beim Normalen ermöglicht,
wie wir bereits wissen einen wesentlichen Anteil an der dramatischen
Produktion: der Dichter projiziert den nach Verdrängung der eroti-
schen Mutterliebe unverständlich gewordenen Haß gegen den Vater in
der Weise nach außen, daß er die Gestalt des hassenden Vaters schafft,
wobei seiner Phantasie — meist in Anlehnung und Verstärkung über-
lieferter Züge — bezüglich der Intensität dieser Empfindung und
ihrer berechtigten Erwiderung durch den Sohn keine Schranken ge-
setzt sind (vgl. später das „Motiv des tj^rannischen Vaters").
Derselbe ^lechanismus bewirkt beim Vater, der feindselige Eifer-
suchtsregungen gegen seinen Sohn hegt, die Rückprojektion seiner
Abneigung auf den Sohn, die sich ebenfalls in einer typischen Form,
der Furcht vor Vergeltung, äußert. Diese ist jedoch nicht aus
den jeweiligen aktuellen Verhältnissen allein verständlich, sondern —
wie jede Angst — das Produkt einer Verdrängung. Der Sohn, der
feindselige Regungen gegen den Vater empfunden hat und diese ver-
drängen mußte, wird, wenn er selbst Vater geworden ist, das gleiche
Verhalten seines Sohnes aus diesem unbewußten Komplex heraus be-
fürchten. Auch diese typische Verdrängungsform des Vaterhasses hat
Schiller im Don Carlos verwertet. In der ersten Fassung (Thalia)
schloß die große Unterredung zwischen Vater und Sohn (II, 2) nicht
wie in dem uns vorliegenden Drama mit den resignierenden Worten
des Prinzen: „mein Geschäft ist aus," sondern er unternahm noch
einen letzten Sturm auf das Herz des Vaters:
Carlos: — — — — eben träumte mir, ich sähe
Das Testament des Kaisers, Ihres Vaters,
Auf einem Scheiterhaufen rauchen.
1* h i 1 i p j) (schrickt zusammen) :
Ha was soll das?
Carlos: — — — — — — wie unendlich viel
Ma^ noch zu einem solchen Sohn mir fehlen,
Als er ein \'ater war — —
Die rationalen Motivierungen des Vaterhasses. 79
P li i 1 i p p (verhüllt sein Gesicht und schlägt wider seine Brust) :
Zu seil wer, o Gott !
Zu schwer liegt deine Hand auf mir. Mein Sohn,
Mein eigner Sohn — entsetzliches Gericht —
Ist deiner Rache Diener.
Empfindet Philipp in diesem ersten Entwurf den Haß des Sohnes
noch als gerechte Vergeltung seines eigenen Verhaltens gegen seinen
Vater, steht also hier Schiller mit seinen Gefühlen noch unzweideutig
auf Seiten des Sohnes, so läßt der Nachklang dieser Empfindung in
der endgültigen Fassung, wo sie direkt als Angst vor der Rache des
Sohnes auftritt, ein leises Hinneigen Schillers zu den mehr väterlichen
Gefühlen erkennen ; Lerma (die Personifizierung der väterlichen Re-
gungen) sagt zum Infanten :
— — — — — — Unternehmen Sie
Nichts Blutiges gegen Ihren Vater! Ja
Nichts Blutiges, mein Prinz ! Philipp der Zweite
Zwang Ihren Altervater von dem Thron
Zu steigen. — Dieser Philipp zittert heute
Vor seinem eignen Sohn!
Wie später ausgeführt werden soll, erklärt sich die wechselnde
Parteinahme Schillers für den Sohn und den Vater aus der in ver-
schiedene Stadien seines Gefühlslebens fallenden Ausarbeitung einzelner
Partien und Niederschriften des Don Carlos. Eine ähnliche zwie-
spältige Empfindung wird uns auch in Shakespeares Seelenleben
entgegentreten. Sehr deutlich und in besonders charakteristischer Weise
bringt der später (Kap. IX, 2) zu besprechende Mythus von Kronos diese
Vergeltungsfurcht zum Ausdruck, deren regelmäßiger mythischer Aus-
druck in dem typischen Orakel gefunden wird, das dem meist
königlichen Vater seinen Tod durch Sohneshand weissagt.
Von da zweigt eine andere Motivierung des Vaterhasses ab, die
in den Dichtungen mit überraschender Häufigkeit in den ungestümen
Erb- und Thronfolgeansprüchen des Sohnes gegeben scheint, denen
sich der Vater hartnäckig widersetzt. ^) Auch diese die revolutionäre
Seite der Auflehnung gegen den Vater betonende Motivierung erweist
sich bei psychologischer Analyse als eine Verschiebung vom sexuellen
auf ein harmloseres, soziales oder politisches Gebiet. In diesem Sinne
ist es kein Zufall, daß sich alle bisher besprochenen Dichtungen —
und die meisten der noch zu besprechenden — in Königshäusern ab-
spielen. Der Dichter ist dadurch in der Lage, den tief im unbewuß-
ten Sexualleben wurzelnden Konflikt zwischen Vater und Sohn an den
^) Dazu vergleiche man die Szene in Shakespeares: Heinrich IV. (2. Teil,
IV, 4), wo der Prinz die Krone des schlafenden Vaters, den er für tot hält, aufs
Haupt setzt, wofür er dann vom Vater gescholten wird :
— — — Seht, Söhne, was ihr seid !
Wie schleunig die Natur in Aufruhr fällt,
Wird Gold ihr Gegenstand!
8U III- I'ii" Jn/A-stplumtasio lici Schiller.
pulitischen zwischen Herrscher und Thronfolger {inzuknüpfcn und auf
diese Weise den Ilali von beiden Seiten konventionell zu motivieren,
Avie CS ja auch im Lebiu häuti«,^ «;enu<i^ geschieht.') Denn der Wunsch
des Sohnes, den Vater vom 'J'liron zu verdrängen und sich telbst an
seine Stelle zu versetzen, ist ein verkleideter Ausdruck derselben auf
den Besitz der Mutter gerichteten Wünsche. Besonders deutlich tritt
das beiOdipus hervor, dem zugleich mit der Herrschaft des Vaters
die Hand der ]\Iutter zufällt. Im Hamlet ist das Motiv der Thron-
folge schon deutlicher dem erotischen Motiv, der Rivalität um das
Weib, vorgeschoben und im Carlos ist das sexuelle ]\Ioment fast voll-
ständig vojn pohtischen überdeckt. In dem so verwerteten Motiv
der Thronfolge erkennen wir eine der Gedankenverbindungen,
welche den schon hervorgehobenen Ersatz des erotischen Familien-
dramas durch das politische Intrigenstück im Don Carlos vermittelt.
Wie cTas ])<jlitische Drama durchgehends dem inzestuösen gleichsam
als Fassade vorgeschoben ist, das spiegelt sich charakteristisch in einer
für die Entwicklung der dramatischen Handlung Avichtigen dichteri-
schen ]\Iotivierung wieder. Marquis Posa lenkt als Vertrauter des
Königs dessen Verdacht gegen den Prinzen Carlos vom sexuellen aufs
politische Gebiet, indem er ihm vortäuscht, die Beziehungen des Prin-
zen «zu seiner Mutter beträfen nur eine Aktion zur Befreiung der
Niederlande (IV, 12). Eigentlich lenkt Posa damit nur den Verdacht
des Königs aufs Politische zurück, denn die erste Warnung vor
seinem Sohn, die ihm von Herzog Alba zukam, bezog sich auf poli-
tische Ambitionen; erst später erweitert sich der Verdacht (III, 3):
König (zum Herzog) : Ihr habt bei seinem Elirgeiz mich gewarnt ?
Wars nur sein Ehrgeiz, dieser nur, wovor
Ich zittern sollte?
Wie jedoch der erste Entwurf verrät, hat dieser Zirkulus seinen
psA'choIogischen Ausgangspunkt in sexuellen, auf inzestuöser Basis
ruhenden Haßgefühlen zwischen Vater und Sohn, als deren konven-
tionelle Verkleidung sich die politische Koukurrentschaft erweist. Daß
Schiller den politischen Konflikt erst später und in sekundärer Be-
deutung in das Drama einführte, wissen wir bereits; wie er es aber
aach dann noch dem erotischen Motiv unterordnet, zeigt ein Passus
aus dem Bauerbacher Entwurf:
IV. Schritt : Don Carlos unterliegt einer neuen Gefahr.
A. Der König entdeckt eine Eebellion seines Sohnes.
B. Dies erweckt die Eifersucht wieder.
C. Beide zusammen vereinigt stürzen den Prinzen.
Anschließend an das Motiv der Thronfolge können wir schon
hier das Motiv des aufrührerischen Sohnes, seine Sympathie
') Vgl. dazu die Beol>achtung Kiklins bei seinen „diagnostischen Assozia-
tionsstudien" (V^II. Beitr., .Journ. f. Psychol. u. Neurolg., Bd. VII, H. 5): „Wir sehen
ferner wie der politische Komplex in Wirklichkeit den Öexualkomplex vertritt und
verdeckt."
Das Motiv der Brautabnahme. 81
mit den Revcjlutionären, cljenfalls als typische Verkleidung der
Aiifleliuung »egen den als tyrannisch empfinideneu Vater aufklären.^)
Beide Motive erweisen sich sowohl für den Sohn Avie für den Vater
als eine dem bewußten Denken willkommene Begründuno; der gegen-
seitigen Abneigung, deren tiefe Quelle, die Konkurrenz um die Nei-
gung der Mutter, nicht bewußt ist.
Die Herkunft des in diesen beiden politischen Motiven isoliert
dastehenden Vaterhasses aus der Rivalität um die Mutter verrät sich
deutlich in zwei ausschließlich erotischen Motiven, die auch als typisch
für den Inzestkomplex hervorgehoben zu werden verdienen. Zunächst
das Motiv der Braut abnähme durch den Vater, -) das im Carlos
eine wichtige Rolle spielt:
Carlos. Sie waren mein — im Angesicht der Welt
Mir zugesprochen von zwei gToßen Thronen,
Mir zuerkannt von Himmel und Xatur,
Und Philipp, Philipp hat Sie mir geraubt.
Königin. Er ist ihr Vater.
Carlos. Ihr Gemahl.
Dieses Motiv ist regelmäßig ein unbewußter Ausdruck für die
Unerreichbarkeit der Mutter durch den Sohn und heißt, ins bewußte
Denken übersetzt, etwa : der Vater habe dem Sohn die Mutter (die
Braut) vorweggenommen. Wir erkennen nun auch wie der Versuch,
diesen praktisch widersinnigen Gedanken zu realisieren, die Verwand-
lung der Mutter in die Stiefmutter mitbestimmen kann : denn die
Stiefmutter ist ja sehr leicht zu einer solchen Mutter zu machen, die
der Vater wirklich dem Sohne weggenommen hat; und es ist trotz
des historischen Vorbildes bemerkenswert, daß auch eine Verstärkung
dieses Motiv im Sinne der inzestuösen Einstellung dem Dichter bei
der ersten Fassung des Don Carlos vorschwebte. Zu den Worten der
Eboli an Carlos :
*) Man vergleiche im Mythus von der Geburt des Helden (S. 92 f.) die auf
Freud (Traumdeutung) zurückgehende Aufklärung aller revolutionären Bestrebungen
als ursprüngliche Auflehnung gegen die Autorität des Vaters.
'-) Zu welch tragischen Folgen ein solches Verhalten des Vaters im Leben
führen kann, zeigt eine Familientragödie, die kürzlich aus New York berichtet wurde :
„Der Millionär Georg St. wurde gestern mittags in seinem Bureau von seinem
eigenen Sohne erschossen. Der Sohn beginsr dann Selbstmord. — Ein
heftiger Streit war der Tat vorausgegangen. Der Vater wollte nämlich die Ehe
seines Sohnes mit einem schönen, aber armen Mädchen verhindern und drohte
seinem Sohne mit der Enterbung, falls er gegen den Willen des Vaters daran dächte,
die Geliebte seines Hertens zu heiraten. Nun stellte sich heraus, daß der Vater
dasselbe Mädchen mit Liebesanträgen verfolgt hatte, ohne die Absicht zu
haben, sie zu heiraten. Vermutlich hat der Sohn von den Zudringlichkeiten seines
Vaters erfahren und daraufhin den Mord verübt." (Nach einem Zeitungsbericht.)
Das an das Fatum der antiken Odipus-Sage gemahnende Gegenstück dazu ist merk-
würdigerweise gleichfalls aus New York berichtet worden: „Ein fürchterlicher
Irrtum. Aus New York wird uns telegraphiert: Ein Kaufmann namens Julius
Turner, der auf seine Gattin im höchsten Grade eifersüchtig -war, drohte
ihr, er werde sie töten, wenn er sie mit einem anderen Manne überrasche. Sonntag
Kank, Das luzeghiiotir. f?
82 III Die Inzestphantasie bei Soliiller.
Wenn iSie zu einer Teiluu}; sich entschlössen?
Ein Thron, dächt icli, war für ein Mädchen viel,
Was will sie mehr, die stolze Kaiserstochter ?
in.it'ht Schiller die Amnerkung: „Eine österreichische Prinzessin und
Nichte (Inzest!) Philijijis des Z^veiten, -welche dem Infanten Dcjn
Carlos versiirochcn war, aber nach seinem und der Königin Elisabeth
Tode Phili})ps vierte Gemahlin wurde — daß also dieser König durch
eine Art von Schicksal beide Prinzessinnen heiratete, die
seinem Sohne bestimmt waren."
Gibt uns dieses Motiv der Brautabnahme durch den Vater den
Schlüssel zu einem tieferen Verständnis der ungestümen Erbansprüche
des Sohnes (das Motivs der Thronfolge), die sich im Unbewußten auf
die — wie der Sohn glaubt — widerrechtlich vorenthaltene Braut,
die Mutter, mitbeziehen, so entspricht dem Motiv des aufrührerischen
Sohnes, der dem Vater Erbe und unumschränkte königliche Macht
mit Gewalt entreißen will, eine andere Phantasie, die sich mit der
Wiedereruberung der Mutter, mit ihrer Errettung aus der ver-
meintlichen Gewalt des Vaters beschäftigt. Diese für den Inzestkomplex
ebenfalls typische Phantasie, daß die j\Iutter an der Seite des Vaters
unglücklich sein müsse, und sehnsüchtig der Erlösung durch den Sohn
harre, ist im Don Carlos (I, 5) gleichfalls angedeutet : ')
Königin. Wer sagte Ihnen, daß an Philipps »Seite
Mein Los beweinenswürdig sei?
Carlos. Mein Herz,
Das feurig fühlt, wie es an meiner »Seite
Beneidenswürdig wäre.
Auf diese nach den Forschungen Freuds für das Liebesleben
der Menschen bedeutsame Rettungsphautasie, die in den mythischen
und dichterischen Phantasiebildungen eine ungeheuere Rolle spielt,")
werden wir noch zurückkommen.
begab sich Frau Turner nach der Kirche und ^vurde auf dem Heimweg von ihrem
sechzehnjährigen Sohn begleitet. Ihr Gatte hatte sich in den Anlagen der
Kirche aufgehalten, in der Absicht, seine Gattin nach Hause zu begleiten. Als er
nun seine Frau in Begleitung eines anderen sah, gab er, ohne seinen Sohn zu er-
kemen, zwei Schüsse auf ihn und drei auf seine Gattin ab und verletzte
beide tödlich. Als er seinen fürchterlichen Irrtum erkannte, kehrte er die Waffe
gegen sich, vei wimdete sich aber nur leicht. Die Zuschauer entwaffneten den Rasenden.
Im Untersuchungsgefängnis verweigerte Turner die Aufnahme von Speise und Trank
und erklärte, er wolle verhungern."
') Eä mag sein, daß Schiller, wie ja die inzestuöse Neigung seinem eigenen
Seelenleben angehört, die Mutter wirklich an der Seite des Vaters unglücklich ge-
sehen hat, eine Möglichkeit, die jedoch nicht elwa als Voraussetzung dieser typischen
Phantasie angesehen werden darf. In einem Brief an den Sohn (vom 28. April
1790), worin sie „ihm ihr ganzes Herz entdeckt'', heißt es: „O wie glücklich wäre
ich, wenn meine Leiden auch bald zu Ende. Der Papa denkt niemals so zilrtlich
. . . eine Magd würde ihm alles versehen, was eine Frau tun könnte. Sein Betragen ist
schon viele Jahre gegen die Seinigen sehr gleichgültig.** (Schillers Beziehungen u. s. w.)
'-') Man vgl. meine „Belege zur Kettungsphantasie" (Zeiitralbl. f. Psa. I, 331)
und dl«; Abhandlung ühcr „Die Lohcngriu-Sage" (l'.tll).
Der König als Prototyp des Vaters. 83
Die aufMlige Regelmäßigkeit, mit der das gespannte Verhältnis
zwischen Vater und Sohn in das Herrschermiheu verlegt erscheint,
kann nicht allein in der Möglichkeit einer konventionellen Motivierung
dieser Feindschaft mit den ungestümen Erbansprüchen des Sohnes
und der abweisenden Haltung des Vaters begründet sein, da sich
ähnliche Situationen auch in anderen sozialen Verhältnissen nicht ohne
Schwierigkeit auffinden oder herstellen ließen ^). Will man diese
typisch wiederkehrende Auffassung des Vaters als des mächtig wal-
tenden tyrannischen Gebieters in ihrer vollen Bedeutung für das
dichterische Schaffen würdigen und verstehen können, so muß man
nach ihrer individuellen Wurzel forschen, die auch ihre entwicklungs-
geschichtlichen Bedingungen hat. Entwicklungsgeschichtlich fin-
det die regelmäßige Darstellung des gehaßten und gefürchteten
Vaters als eines ManneS; der dem Sohn um so viel mächtiger gegen-
übersteht, wie der Herrscher seinen Untertanen, ihre Erklärung im
Ursprung des Königtums aus dem Patriarchat in der Familie. Als
die Familie im Staate aufzugehen begann, da wurde der König in-
mitten seines Volkes das, was der Gemahl und Vater im Hause ge-
wesen war: der Herr, der starke Schützer^). Unter den mannig-
fachen Bezeichnungen für König und Königin im Sanskrit, die
Müller (a. a. 0.) angeführt, ist eine einfach : Vater und Mutter.
„Ganaka im Sanskrit bedeutet Vater von GAN zeugen; es kommt
auch als Name eines wohlbekannten Königs im Veda vor. Dies ist
das altdeutsche chuning, englisch king. Mutter im Sanskrit ist gani
oder gani, das griechische yuvv^, gotisch quinö, slawisch zena, englisch
queen. Königin also bedeutet ursprünglich Mutter oder Herrin und
wir sehen wiederum, wie die Sprache des Familienlebens allmählich
zur politischen Sprache des ältesten arischen Staates erwuchs, wie die
Brüderschaft der Familie die '«ppaxpia des Staates wurde" (Müller).
Diese Auffassung und Benennung des königlichen Herrschers als Vater
seiner Untertanen ist auch heute noch in kleineren Staaten gebräuchlich
(vgl. unser Landesvater), wo das Verhältnis des Fürsten zum Volke
^) Ein solches Milieu, wo dieser soziale Gegensatz von Vater und Sohn scharf
hervortritt, ist beispielsweise in gleich hervorragendem Maße der Bauernhof, den zahl-
reiche Dichtungen zum Schauplatz erschütternder Familientragödien machen. So erst
jüngst Ludwig Thomas Koman: Der Wittiber, wo der in seinem Erbe verkürzte
Sohn die seinem Glück im Wege stehende zweite Frau seines Vaters tütet. Oder in
Schönherrs: Erde, wo der alte, lebenszähe Grutz seinen im vollen Mannesalter
stehenden Sohn nicht zum Leben kommen läßt. — Am großartigsten hat die Wucht
dieser Bauerntragödien Geijerstam in seinem Roman: Nils Tufvesson und seine
Matter geschildert, wo der Sohn nach dem Tode des Vaters zugleich mit dem Hof
den geschlechtlichen Besitz der Mutter übernimmt, die für ihn zum verderblichen
Dämon wird, dem er sich nur durch ihre Tötung entziehen kann.
-) Vater ist von einer Wurzel PA abgeleitet, welche nicht zeugen, sondern
beschützen, unterhalten, ernähren bedeutet. Der Vater als Erzeuger hieß im Sanskrit
ganitar (genitor) (Max Müller: Essays II. Band, Leipzig 1869 deutsche Ausgabe
S. 20). Vgl. unser Papa für Vater und „paperln" wienerischer Ausdruck für das
Essen, besonders der kleinen Kinder.
e*
84 I" l'i»' In/.t-'stpliantasic hei Schiller.
pin'viel innij]^eres, ist ;ils in f^roßon Staat.sverlKnidcn. Aber auch die
Völker des m;t{'hti<(en Kussenrciches nennen iliren Kaiser „Väterchen"
und das herrschende Oberhaupt der katholischen Kirche wird von den
(iläubigen ^heiliger Vater*^ genannt; im Lateinischen heißt der Papst
.^Papa", wird also auch wieder mit demselben Ausdruck benannt, mit
dem die Kinder ihren Vater bezeichnen.
Wer mit der Psychcjlogie unbewußter Seelenvorgänge vertraut
ist, wird es nicht sonderbar Hnden, daß diese der kindlichen Ver-
ehrung des Vaters und der Überschätzung seiner für das Kind un-
vergleichlichen und einzigartigen Machtvollkommenheit und Größe
entspringende Auffassung als eines unumschränkten und gefUrchteten
Herrschers noch in den Träumen des Erwachsenen nachklingt, in denen
der Kaiser und die Kaiserin (König und Königin) nach den F(jrschun-
gen Freuds fast regelmäßig die Eltern des Träumers darstellen.
Auch für die Größenideen der Paranoiker, in denen die königliche
(^der göttliche Abstammung des Patienten im Mittelpunkt seines Wahnes
zu stehen pflegt, dürfte diese Aufklärung regelmäßig zutreflfen, wie sie
uns ja auch die individuelle Bedingtheit der mythischen Phantasie-
tätigkeit zeigte '). \'^ora psychohjgischen Standpunkt ist es nun leicht
begreiflich, daß dieser ursprünglich den Gefühlen der Verehrung ent-
stammende Ersatz des Vaters durch den König, wenn der eifersüchtige
Sexualneid und dessen beginnende Verdrängung das kindliche Ver-
hältnis trübt und dieses Gefühl in Geringschätzung umschlagen läßt,
nun den Zwecken der Verhüllung dieser verpönten und unverträglichen
Regung dienstbar gemacht werden muß. Der Ausgang dieser Um-
arbeitung ist nun ein sehr verschiedener. Entweder der Sohn ver-
schiebt die Abneigung gegen den Vater auf den wirklichen König
und wird Revolutionär, Anarchist. Oder er bringt ein solches Über-
maß von Aktivität nicht auf und transponiert das ganze Verhältnis,
mit stärkerer Bewahrung des infantilen Charakters, ins Passive : er
setzt sich als Paranoiker in seinem Wahn an die Stelle des Königs
(des Vaters), um so den vermeintlichen Verfolgungen und Beein-
trächtigungen von dessen Seite zu entgehen. Oder endlich er sub-
limiert den ganzen Vorgang in der dichterischen oder mythischen
Phantasietätigkeit ^), indem er von der Person des königlichen tyran-
nischen Vaters die Rolle des Vaters ablöst und den Tyrannen als
*) Vgl. im Mythus von der Geburt des Helden die ausführliche Darlegung der
hier nur kurz angedeuteten Verhältnisse.
^) An einem sowohl in seinen Vorbedingungen wie in seiner Art einzig da-
stehenden Fall kann man diese Verknüpfung und Umarbeitung gleichsam in fla-
granti beobachten. Kurze Zeit nach der Ermordung des Königs von Portugal durch
Anarchisten wurde bei einem Faschingszng im Dörfchen Salsas auch der Lissaboner
Königsmortl dargestellt. „Eine Person (heißt es im Zeitungsbericht vom 10. März
1908j, die die Kolle des Königsmörders Buica gab, richtete gegen einen Wagen, in
dem sich sein Vater, der die Rolle des Königs spielte, befand, einen Re-
volver und ließ in der Meinung, er sei ungeladen, dessen Hahn fallen. Der Vater
sank, von einer Kugel getroffen, tot zu lioden. Der Sohn mußte, da er
Diderots Reformversiich. 85
Ersatz des Vaters hinstellt (ähnlich wie der Anarchist). Er er-
reicht so, daß sich sein Vaterhaß hinter dem harmloseren und vor
allem berechtigteren Haß gegen den Tyrannen frei äußern kann, wie
auch die Deutung des Hamlet zeigte.^) Wollte man als Psychologe
konsequent sein, so müßte man eigentlich — in Anbetracht der un-
geheueren noch viel zu wenig gewürdigten „Bedeutung des Vaters für
das Schicksal des einzelnen" (Jung) — sämtliche Kaiser und Fürsten
der Dichter (vorläufig noch abgesehen von historisch überlieferten
Stoffen) als Ersatz des Vaters auffassen, wie man es ja mit guter
psychologischer Berechtigung in Traum und Neurose getan hat. Als
ein großzügiges literarhistorisches Beispiel für die Realisierbarkeit einer
solchen Auffassung sei kurz auf Diderots Reform versuch der dra-
matischen Dichtkunst hingewiesen. In seinen theoretischen Abhand-
lungen über die dramatische Dichtkunst wirft er — anknüpfend an
die englischen Naturalisten — die Frage auf, ob denn nur Könige
und Fürsten würdig seien, auf der Bühne dargestellt zu werden und
nicht auch die Schicksale gewöhnlicher Sterblicher. Und was tut er
dann in der praktischen Ausführung seiner Anregung ? Er schreibt statt
der Tragödie, deren Mittelpunkt bis dahin immer der König gewesen war,
sich in seiner Verzweiflang zu erschießen versuchte, gebunden werden." — In einem
anderen Fall, der sich in Petersburg ereignete, ist der verschiedene Erfolg dieser Um-
arbeitung an zwei Brüdern illustriert. Der eine „ermordete seinen Vater, Ge-
heimrat B., durch sechs Schüsse, mit der Begründung, sein Vater sei ganz unnütz
auf der Welt gewesen. Ein Bruder des Mörders, ein bekannter Revolutionär,
lebt als politischer Flüchtling in der Schweiz*. (Zeitungsbericht.)
^) In welch lebhafter Weise das naive Publikum an dieser Affektverschiebung
vom inzestuösen aufs politische Gebiet Anteil nimmt, mag folgende Notiz zeigen.
In der Mailänder ,Gazzetta del Popolo" erzählt Luigi di San Giusto: In vielen
Städten Italiens sind jetzt wieder die Sommertheater eröffnet, und das zumeist aus
„kleinen Leuten" bestehende Publikum nimmt leidenschaftlich Anteil an den Schick-
salen der Helden und Heldinnen der zur Aufführung kommenden Kühr- und Schauer-
dramen, in denen alles so dick wie möglich aufgetragen ist. Die Vorgänge auf der
Bühne erwecken so großes Interesse, daß der Zuschauer recht oft „ohne Gage mit-
spielt". In der alten Mailänder Arena kam es gar nicht selten vor, daß das
Publikum sich gegen den Tyrannen, der natürlich in keinem Stücke
fehlen durfte, ganz regelrecht empörte: „Can! vigliach! sassin! vent fora
s'it l'haa coragel" (Hundl Feigling! Mörder! Komm doch heraus, wenn du Mut hast !)
rief man ihm zu. Manchmal flogen auch gefährliche Wurfgeschosse auf die Bühne.
Der „Tyrann" Raimondi, der im „Oreste" den Aigisthos spielte, bekam einmal in
einem Volkstheater in Bologna, als er im vierten Akte den Tod des Orestes und der
Elektra dekretierte, eine volle Flasche Wein an den Kopf. Gegen den Schauspieler
Ignazio Palica wurde in Mailand, als er einen grausamen Vater spielte, ein
offenes Messer geschleudert; es hätte nicht viel gefehlt, und er wäre getroffen
worden. Palica geriet in solche Aufregung, daß er sofort von der Bühne abtrat
und nicht mehr auftreten wollte, nicht einmal, um sich, wie es der Verfasser der
Tragödie vorgeschrieben hatte, von den Liktoren töten zu lassen. Wenn sich im
Theater solche Szenen abgespielt hatten, sorgte der Direktor der Bühne sofort für
eine kleine Revanche. Der Schauspieler, der als Tyrann den Zorn des Publikums her-
ausgefordert hatte, trat einen oder zwei Tage später in irgend einem Volksstück als
freundlicher, milder Priester auf und wurde dann vom Publikum überschwenglich ge-
feiert, besonders wenn er es zu Tränen zu rühren verstand. (Nach einem Zeitungsbericht.)
86 III. I>>t' lnz('sfi)liantasi«' Itci Scliillcr.
ein blirjxcrlk'lu'^- Sc'h:uis}iiel Pere de fainille (Der Hausvater)'):
das heißt, er inaelit einfach unseren Deutungsversuch unbewußt mit
und ersetzt den König durch den Vater. An diesen anscheinend rein
literarischen, in Wirklichkeit aber tief persönlichen Reformgedanken
knüpft dann Lessings ., Bürgerliches Trauerspiel" und Schillers
„K a b a 1 e und Li e b e'* an, und sein Einfluß läßt sich bis zu Ibsens
Familiendrameu verfolgen.
Wollen wir nun auch in der Konsequenz der psychologischen
Betrachtungsweise nicht so weit gehen und den König, wo wir ihn
im Drama finden, ohne weiteres als Vertreter des Vaters auffassen,
so werden wir um so eher berechtigt sein, diese Deutung dort als
sicher anzunelimen, wo wir durch andere Momente in unserer Auf-
fassung bestärkt Averden. Im Carlos, wo ja der mächtige, tyrannische
Herrscher zugleich der Vater ist, liegt der Zusammenhang klar zu
Tage, und wir werden also darauf gefaßt sein, ihn bei Schiller auch
in anderen Dram'en — wenn auch vielleicht minder deuthch —
wiederzufinden. Ziemlich ofFensichtlich ist diese Verknüpfung noch in
den Käubern, wo der alte Vater wenigstens ein „regierender" Graf
ist und auch der Haß seines Sohnes Franz durch dessen Erbansprüche
motiviert wird. Den mächtigen Vaterhaß kann erst eine tiefer gehende
Analyse (die man im II. Abschnitt, Kap. XX, bei Schillers Schwester-
liebe findet) als die eigentliche Triebkraft dieser Dichtung nachweisen.
Hier sei nur bemerkt, daß das Drama ursprünglich den Titel : Der v c r-
^) Dieses Schauspiel behandelt die Auflehnung des Sohnes gegen den Vater
(Analog der Empürung gegen den König) im Zusammenhang mit seiner Liebe zu
Sophie, einer entfernten Verwandten, die als das vollkommene Ebenbild der
Mutter bezeichnet wird (I, 7). Diderot hatte bei der Dichtung, wie er selbst
sagt, seinen eigenen Vater vor Augen : Ce sujct tiendra mes yeux sans cesse Attaches
sur mon pöre (3 zii'me entretien). „Der natürliche Sohn", das zweite Musterstück
Diderots, behandelt ähnliche Familienkonflikte, mit Betonung der Liebe zur Schwester.
Die Übersetzung der Stücke und der Abhandlungen findet man in Lessings
Werken, Bd. Xf, 2. Ausgabe Hempel. — Wie der persönliche Familienkomplex
Diderots Eeformgedanken bestimmte, ergibt sich aus den wenigen folgenden Mit-
teilungen. So sagt Diderot in der bereits als Motto angeführten Stelle: Auf uns
verlassen, und wenn die Kräfte unseres Körpers denen unserer Phantasie gleich-
kämen, würden wir unsere ^'ätcr ermorden, um unsere Mütter geschlechtlich zu besitzen.
Diderot hatte zwei Schwestern und einen jüngeren Bruder, mit dem er in
erbitterter Feindschaft lebte. Die eine Schwester war Nonne, neurotisch, endete in
Wahnsinn; die andere blieb unvermählt und führte nach dem Tode der Mutter das
Hauswesen. — An Fräulein Volaud schreibt Diderot nach dem Tode,.- des Vaters:
„Es ist unmöglich, sich drei verschiedenere Charaktere zu ersinnen als meine
Schwester, meinen Bruder und mich ...ichbindereinzigeMann, den sie ge-
liebt hat und sie liebt mich nf)ch sehr I ^ — Es wäre nicht unmöglich, daß der Dichter
in seinem psychologisch meisterhaften Roman: La Heligieuse (1760) das Schicksal
seiner ins Kloster geflüchteten, gemütskranken Schwester zum Vorbild nahm. — Die
Oberin und Susanne frönen der lesbischen Liebe und das drückende Schuldbewußisein
dieser lasterhaften Verirrung rächt sich bei der Oberin durch den Ausbruch des
„Wahnsinns". J'ine ihrer Zwangshandlungen besteht darin, daß sie sich beständig die
Hände waschen muß, ohne sie doch von dem daran haftenden Makel reinigen zu
können.
Das Verhältnis von Erlebnis und Dichtung. 87
lorene Sohn führen sollte, wodurch ja schon das Dominieren dieses
Komplexes in der Konzeption des Werkes angedeutet ist. Der in
diesem Jugendwerk mächtig hervorbrechende revolutionäre Freiheits-
drang, der von nun an alle Werke Schillers durchglühen sollte, wurde
von der literarhistorischen Forschung als Auflehnung gegen den
Herzog von Württemberg und sein strenges Regiment aufgefaßt.
Das ist zunächst gewiß vollkommen zutreffend und berechtigt. Auch
von unserem Standpunkt aus können wir uns die Entstehung der
Räuber und der folgenden Dramen ohne Schillers gespannte Beziehung
zum Herzog gar nicht denken, ja, wir müssen zugestehen, Schiller
habe bei der Abfassung gewisser Partien seines Werkes in bewußter
Absicht sein Verhältnis zum Herzog dargestellt. Das schließt jedoch nicht
den unbewußten Anteil eines gleich gespannten infantilen Verhältnisses
zum Vater an der Konzeption des Werkes aus, ja, es erfordert viel-
mehr diese Annahme zum Verständnis des gewaltigen dichterischen
Affekts, der unmöglich aus der, alle Karlsschüler in gleicher Weise
betreffenden Strenge des Herzogs verständlich Mnrd. Es bedarf nur
einer kurzen Auseinandersetzung über das Verhältnis von Erlebnis und
Dichtung, um uns der Lösung eines der interessantesten Rätsel der
künstlerischen Produktion nahe zu bringen. Wir haben es ja in dieser
Untersuchung nur mit den tiefsten, im Unbewußten schlummernden
Regungen des Dichters zu tun, die wir, um sie überhaupt im Bewußt-
sein erfassen zu können, so behandeln müssen, als ob sie bewußt
wären. Als tiefste Wurzel und treibende Kraft von Schillers drama-
tischem Schaffen erkennen wir, das Resultat der folgenden Auseinander-
setzung vorweggenommen, die Auflehnung gegen den Vater und den
eifersüchtigen, aus der Liebe zur Mutter stammenden Haß gegen ihn,
Gefühle, die aus der frühesten Kinderzeit stammend, eine intensive
Verdrängung erfahren haben und später unter dem Einfluß geeigneter
Erlebnisse aus dem Unbewußten heraus zur Äußerung drängen.^) Um
diese zu ermöglichen, muß ja der Dichter notwendigerweise an eine
bewußte Vorstellung anknüpfen und daraufhin weiterarbeiten. Diese
Vorstellung findet er in dem aktuellen Erlebnis, das an diesen unbe-
Avußten Komplex rührt. Aber auch dieses Erlebnis selbst ist kein
zufälliges — wie könnte es sonst dem unbewußten Komplex in jeder
Beziehung entsprechen — sondern es ist auch psychisch determiniert ;
die reale Einstellung des Erwachsenen Avird ja immer noch von seiner
infantilen Konstellation bestimmt-) und so gleichsam vom Individuum
^) Schiller an Körner (25. Mai 179'2): ,.Ich glaube, es ist nicht immer die
lebhafte Vorstellung eines Stoffes, sondern oft nur ein Bedürfnis nach
Stoff, ein unbestimmter Drang nach Ergießung strebender Gefühle, was
Werke der Begeisterung erzeugt." — Und an Goethe (18. März 1796): Die Zu-
riistungen zu einem so verwickelten Ganzen, wie ein Drama ist, setzen das Gemiith
doch in eine gar sonderbare Bewegung . . . Bey mir ist die Empfindung anfangs
ohne bestimmten und klaren Gegenstand; dieser bildet sich erst später.''
^) Vgl. Jung: Die Bedeutung des Vaters für das Schicksal des einzelnen (1. c).
88 111. Hio Inzestpliantasic bei Schillor.
selbst geschaffen.') In welchem Sinne das j^emeint ist, zeiget am
besten Schillers Verhältnis zum llerzo«^. Dieses ist, soweit das Milieu
es zulälit, eine getreue Kopie von Schillers Verhältnis zu seinem
Vater. Der Dichter Uberträp^t alle Gefühlsregungen, die sich auf den
Vater bezogen, auf den Herzog in der Weise, wie wir das in der Um-
arbeitung der kiiullichen Empfindungen für den Vater in die revolu-
tionären Kegungen gegen den Landesvater aufgezeigt haben, alle Ge-
fühlsregungen, deren Umarbeitung beim normalen Durchschnitts-
menschen zur Unterordnung unter die sozialen Obrigkeiten-), zur
bürgerliehen Organisation, führen. Und weil Schiller infolge mächtig
•w^eiterwirkender infantiler Eindrücke diese normale Übertragung des
Vaterhasses nicht gelang, wurde er ein Revolutionär des Geistes, ein
begeisterter Vorkära})fer des Freiheitsgedankens in jedem Sinne. Erst
diese Ersetzung des Vaters durch den Landesfürsten, den Herzog von
Württemberg, macht verständlich, daß Schiller dieses neue Verhältnis
so stark affektiv besetzte. Wie dieses Verhältnis im angedeuteten
Sinne die Konzeption der Räuber beeinflußte, so wirkt es in der
„Verschwörung des Fiesco zu Genua", im Präsidenten Walter, in
der Gestalt Philipps IL, im Wallenstein und auch noch im Geßler
nach. Begünstigt wurde Schillers Übertragung seiner Sohnesgefühle
auf den Herzog durch den Umstand, daß Herzog Karl der Vater
seiner Eleven heißen wollte, die sich in ihren Eingaben dieser Anrede
bedienen mußten. Man findet diese Titulierung auch regelmäßig in
den zahlreichen Gesuchen Schillers. So heißt es am Anfang eines
solchen (1. September 1782): «Eine innere Überzeugung, daß mein
Fürst und unumschränkter Herr zugleich auch mein Vater sey, gibt
mir gegenwärtig die Stärke^ (Briefe hg. v. Jonas, I, Nr. 33), und sein
letztes nach der Flucht schloß „mit aller Empfindung eines Sohnes gegen
den zürnenden Vater (Nr. 35). Und direkt wie eine Schilderung von
Schillers Verhältnis zu seinem überstrengen und gefürchteten, dabei
doch auch geliebten und verehrten Vater klingt es, wenn Minor
(S. 224) sagt: ,,Schiller schimpfte auf den Herzog und er liebte ihn
') Vgl. Abraham: Das Erleiden sexueller Traumen als Form infantiler
Sexualbetätipung. Gauppsches Zentralblatt 15. Nov. 1907.
-) Vgl. Traamdeutung, 2. Aufl., S. 153: „Der Vater ist die älteste, erste, für
das Kind einzige Autorität, aus dessen Machtvollkommenheit im Laufe der mensch-
lichen Kulturgeschichte die anderen sozialen Obrigkeiten hervorgegangen sind (inso-
fern nicht das „Mutterrecht" zur Einschränkung dieses Satzes nötigt)." — Wie
Freud aus dem Verhältnis zur Mutter einen besonderen Typus des männlichen
Liebeslebens abgeleitet hat. so glauben wir, anknüpfend an seine Forschungen, die
wichtigsten typischen Einstellungen des sozialen Lebens auf das in-
fantile Verhältnis zum Vater und seine spätere Umarbeitung zurückführen zu
können.
^) Minor betont i.S. 43) die Strenge des Vaters, der den Sohn noch weit
über die Jahre der Mündigkeit hinais bevormundete. „In den zarten Tagen der
Kindheit freilich konnte die Strenge des Vaters nur einschüchternd auf den Knaben
wirken, der als sanftmütig und gütig, anhänglich ])esonders der Mutter, verträglich
und liebevoll gegen die Schwester geschildert wird."
Öchillers V'aterkumplex. biJ
doch; er verehrte ihn und haßte ihn zugleich." Noch in der Ankündiguno;
der ersten drei Akte des Don Carlos in der Thalia erklärte Schiller
öffentlich, er wolle sich nicht gegen denjenigen stellen, der bis dahin
sein Vater gewesen sei und entschuldigt die Mitteilung seines ganzen
Verhältnisses zum Herzog damit, daß »kein Weg natürlicher war,
den Leser in das Innere meiner Unternehmung zu führen, als wenn
ich ihm die Bekanntschaft des Menschen machte, der sie ausführen
soll." — Diese Übertragung seiner zwiespältigen kindlichen Empfindungen
vom Vater auf den Herzog läßt sich auch im Detail verfolgen. Wenn
man dem Bericht eines so verläßHchen Zeitgenossen, wie es Streicher
war, der gewiß die Gelegenheit zur Parteinahme für seinen Freund
benützt hätte, trauen darf, war der Herzog gar nicht der Despot als
den ihn Schiller ansah und darstellte^), sondern seine aus dem Eltem-
hause mitgebrachte und den dortigen Verhältnissen vielleicht mehr
entsprechende Auffassung seines Vaters als Tyrann beeinflußte not-
wendig auch seine Stellung zum Herzog, der nach Streichers Bericht,
den Zöglingen wirklich väterlich zugetan und um ihr Wohl besorgt
war,^) In diesem Sinne ist auch Schillers Flucht von Stuttgart
mehr als eine Loslösung von Vater und Familie als vom Zwang der
herzoglichen Schule aufzufassen. ^) Schiller selbst bestätigt das in einem
Brief an seine Liebhngsschwester Christophine (vom 18. Oktober 1782),
worin es heißt: „Sage dem liebsten Papa, daß ich den Brief an ihn
mit eben dem Herzen, als er den seinigen an mich geschrieben habe,
daß ich aus guten Gründen so mit ihm gesprochen habe, um sein
Schicksal von dem meinigen zu trennen.*' Im gleichen
Sinne ist auch sein Ausspruch aufzufassen, die Räuber hätten ihn
Familie und Vaterland gekostet (Streicher, S. 94). Wie Schiller
gegen den Herzog von Anfang an erbittert war, so lebte er auch mit
seinem Vater selten in ungetrübtem Verhältnis. Es werden sogar
sehr ernste Mißhelligkeiten zwischen Vater und Sohn wiederholt ge-
meldet (besonders aus dem Sommer des Jahres 1784 und dem Beginn
des folgenden Jahres). Aber auch schon als Kind fürchtete er den
Vater mehr, als er ihn ehrte, und Streicher berichtet (S. 23), daß der
Knabe, wenn er sich schuldig fühlte, freiwillig die Mutter um Be-
strafung bat, damit der Vater im Zorn nicht zu hart mit ihm ver-
fahre. Auderseits ist es leicht begreiflich, daß der strenge und
eigenwillige Vater au den Werken des Sohnes, worin die uuum-
^) Charakteristisch ist auch in diesem Sinne die Parteinahme von Schillers
Vater gegen den Sohn zu Gunsten des Herzogs, was den Dichter noch tiefer gegen
den Vater verstimmte.
-) „Schillers Flucht von Stuttgart", von Andreas Streicher. Reclam; be-
sonders S. 26, 55, 60 ff., 122.
•■') Auch Schillers zweite „Flacht" ans Mannheim (vor der Liebe zu Charlotte
V. Kalb) erfolgt — ähnlich wie seine dritte „Flucht" aus Dresden — weniger aus
Zwang der äußeren Lage als aus inneren Bedrängnissen" (Minor, 3511. — Vgl. die
ähnlich motivierten Fluchtimpulse bei Goethe (Schweiz. Italien), Kleist u. a.
90 III. IHi» InzüStplmntasio Ix'i Scliiller.
schränkte väterliche GcNvalt einen endfj^ültij^en Sieg^ über den Sohn
davunträo^t, besonderen Gefallen fand. So schreibt er nach der
Lektüre der ersten drei Akte des Don Carlos an seinen Sohn (am
30. März 1785) : „Ich iinde die Thalia und vorzUp^Hch die Bruchstücke
von Don Carlos g^anz außerordentlich stark durcho^edacht und aus-
tjef ührt. als das beste von all Seinen b i s h e r i j2f e n Arbeiten."*)
Eine ähnliche Befriedi<rung äußert er auch über Kabale und Liebe,
wo ebenfalls der Konflikt zwischen Vater und Sohn, mit Betonung
der väterlichen Übermacht, im Vordergrunde der Handlung steht.
Wenn zur Stütze unserer Auffassung in so geringem Maße auf die
tatsächlich überlieferten Lebensverhältnisse Schillers im Elternhause
reflektiert wurde, so geschah das darum, weil diese Berichte einesteils
ganz lückenhaft und nicht immer verläßlich sind, anderseits aber weil
nicht der Anschein erweckt werden sollte, als sei auf solche Berichte,
selbst wenn sie unsere Auffassung bestätigen, allzugroßer Wert zu legen.
Es handelt sich ja bei unseren Analysen um die Aufdeckung unbe-
wußter Gefühlsregungen und Phantasien, die sich jedoch auch im
späteren Leben des Individuums ebenso verhüllt und schwer kenntlich
äußern Avie im Kunstwerk oder in den neurotischen Symptomen, so
daß auch die Erlebnisse des Dichters, ähnlich wie beim Neurotikcr,
in die Deutung einbezogen werden müssen, woraus sich allerdings
gewisse, wie es scheint recht fruchtbare Gesichtspunkte für das Ver-
ständnis des Zusammenhangs von Erlebnis und Dichtung ergeben.
Wie das infantile Verhältnis zum Vater vorbildlich wird für
die spätere soziale P^instellung des Individuums zu Kaiser und Vater-
land, zu den weltlichen und geistlichen Obrigkeiten, zu den Vorge-
setzten und Rivalen, ja selbst zu Gott und zur Religion, so ist das
kindliche Verhältnis zur "Mutter vorbildlich für das ganze Liebesleben
des Menschen. Wie nun die literarhistorische Kritik das Vorbild für
Schillers ,,Tyrannen", insbesondere für Philipp IL, das wir auf die
infantile Einstellung zum Vater zurückführen konnten, aus den ge-
spannten Beziehungen zum Herzog von Württemberg ableitete, so
suchte sie auch für die sonderbare Liebe des Carlos zu Elisabeth das
Vorbild in Schill er s Leben und fand es, unseren Voraussetzungen voll
entsprechend, auch auf in der Liebe des jungen Dichters zu Fräulein
C h a r 1 o 1 1 c V. W o 1 z o g e n, auf deren Gut er, als Gast ihrer Mutter, nach
der Flucht aus Stuttgart ein Asyl gefunden hatte, wo er in Muße
eifrig an die Ausführung des Don Carlos ging. Seine Stimmung, Be-
tätiguna: und die Erlebnisse während der Bauerbacher Zeit in ihren
Beziehungen auf die stetig fortschreitende Arbeit am Don Carlos hat
') Siehe Schill ers Reziehanpcn zn Eltern, Geschwistern und der Familie von
Wolzogen. Aus Taniilienpapieren mitf^eteilt (von Alfred von Wolzogen). Stuttgart.
bei Cotta, 1859. — Man findet da auch eine ähnliche Äußerung der Mutter Schillers
an dessen Fran Lotte (vom 2G- Februar 1790): „Don Carlos möchte ich vor allem
andern am liebsten aufführen sehen."
Die infantilen Wurzeln von Erlebnis und Dichtung. 91
Gercke (a. a. O.) eingehend geschildert. Im zweiten Teil seiner
Arbeit findet man auch die Erklärung der seltsamen und widerspruchs-
vollen Liebe des Carlos zur Eboli und Elisabeth aus Schillers ähn-
lichen Beziehungen zu Charlotte bis ins einzelne durchgeführt: seine
anfangs hoffnungsvolle Liebe zu Charlotte, die plötzliche Störung
durch einen Nebenbuhler (Winkelmann), die Eifersucht auf diesen,
der Versuch, seine älteren Ansprüche geltend zu machen, dann seine
Hoffnungslosigkeit, als er des Mädchens Keigung zu dem Neben-
buhler erkennt und schließlich seine Resignation. Wir können die
scharfsinnige Deutung in jedem Punkte unterschreiben, müssen aber
Avie bei der Auffassung des Verhältnisses zum Herzog hinzufügen, daß
dieses ganze Erlebnis, ebenso wie seine dichterische Ausgestaltung, als
Reproduktion seines Verhältnisses zur Mutter anzusehen ist. Gewiß
ist seine Beziehung zu Charlotte von größtem, wahrscheinlich von ent-
scheidendem Einfluß auf die Ausführung des Carlos gewesen. Aber
dieses rezente Erlebnis erweckte nur die gleichen unbewußten Gefühle,
die sich auf die Mutter bezogen hatten, wie es ja eigentlich von diesen
Gefühlen erst in allen seinen realen Konsequenzen bestimmt worden
war. So ist also das Liebesverhältnis im Don Carlos nicht die
dichterische Verarbeitung der unglücklichen Liebe zu Charlotte,
sondern beide Verhältnisse, das dichterische und das gleichzeitige reale,
gehen auf die Beziehung des Dichters zur Mutter zurück und repro-
duzieren sie. Man erhält hier sowie bei Schillers Verhältnis zum
Herzog den Eindruck, daß mit der dichterischen Gestaltung der
nach Ausdruck ringenden unbewußten Komplexe auch der Drang
nach ihrer Umsetzung in reale Erlebnisse Hand in Hand geht, ähnlich wie
ja dann der Schauspieler durch Einfühlung diese psychischen Regungen
in Aktion umsetzt. Beim Dichter wird wohl der Vorgang der sein,
daß in den verschiedenen Etappen seines Liebeslebens gewisse infantil-
erotische Konstellationen wieder erwachen, die dann ein ihnen ent-
sprechendes reales Erlebnis suchen oder schaffen helfen. Dieses Er-
lebnis kann aber nie so ideale Bedingungen bieten, daß sie den maß-
und schrankenlosen kindlichen Affekten genügen, die sich darum auch
enttäuscht von diesem Erlebnis und der Wirklichkeit überhaupt ab-
wenden, um dann in großartigen Phantasiegebilden, den Dichtungen,
den ihnen völlig entsprechenden Ausdruck zu finden.^) So schaffit
sich der Dichter in seinen Werken allerdings die Möglichkeiten, die
ihm die A\'irklichkeit versagt, die sie ihm aber in einem tieferen Sinn
gar nicht gewähren kann. Denn auch das Erlebnis, das er sich
schafft, und welches in weiterer Folge die dichterische Gestaltung
seiner Regungen auslöst, ist nur auf Grund der infantilen Fixierung
möglich und reproduziert daher neben der Wunscherfüllung auch alle
hindernden Umstände. Die Fixierung an die Mutter äußert sich.
^) Ygi. die Dreizeitigkeit, die Fr end für die dichterische Phantasietätigkeit gel-
tend macht. (Der Dichter and das Phantasieren, 2. Folge der Sammlung kleiner Schriften.)
[\2 111. I'if In/('st|ili;uitasi(' hei »Schiller.
^\\c F r e II (l dart^elegt li.it, im Liebcsleben des Mnnnes unter ;inderem
auch darin, daÜ er sich nur für Frauen interessiert, die bereits
anderen ]\[ännern in irp^end einer Form ano^ohören, was ja für die Mutter
unzweifelhaft zutriti't (vgl. das Motiv der Brautabnahme, Kap. IV, A. 3).
Auch diese Liebesbedino^ung, die im Carlos ihren deutlichsten Ausdruck
pfcfunden hat, spielt in den anderen Dichtungen Schillers und in sei-
nem Leben eine große Rolle. Schon das erste Weib, dem er seine
.lünglingsneigung schenkte, die Laura seiner Jugendgedichte, soll eine
Frau, die Haujttmannswitwe Luise Vischer, gewesen sein. Seine
Liebe zu Frau Charlotte von Kalb, die auch Goethe und
Hölderlin aus Uhnlichen Gründen fesselte, ist zur Genüge bekannt.
Im Mai 1784 lernte er die kaum seit einem halben Jahr verheiratete
Frau kenneu und verliebte sich so heftig in sie, daß er sie bewog,
an eine Scheidung von ihrem Mann und die Verheiratung mit ihm
selbst zu denken. In einem Brief an Körner (vom 23. Juli 1787)
spricht er von der Hofiiiung auf ihre baldige Vereinigung. Daß sein
Verhältnis zu ihr nicht ohne Einfluß auf Carlos und dessen Liebe
zu Elisabeth und Eboli gewesen ist, bestätigt er selbst in einer Nach-
richt an Körner (vom 29. Juli desselben Jahres).^) Besondere Be-
deutung gewinnt in diesem Zusammenhang die Tatsache, daß seine
Liebe zu Charlotte von Wolzogen eigentlich nur ein Ableger-)
der ursprünglicheren und tiefer gehenden Neigung zu ihrer Mutter,
der um 14 Jahre älteren Frau Henriette von Wolzogen, war,
in der er 3Iutter und Geliebte vereinigt sah.
Er schreibt an sie (am 11. September 1783 aus Mannheim): „Sie
waren die erste Person, an welcher mein Herz mit reiner unverfälschten
Zuneigung hing, und eine solche Freundschaft ist über allen Wechsel der
Umstände erhaben. Fahren Sie fort, meine Theuerste, mich Ihren
Sohn zu nennen, und seien Sie versichert, daß ich das Herz einer
solchen Mutter zu schätzen weiß. Unsere Trennung, deren Nothwendigkeit
ich Ihnen nicht erst beweisen darf, wird meine Gemüthsruhe wieder-
herstellen, eine Ruhe, die ich schou lange nicht mehr genossen habe."
Auch in anderen Briefen beruft er sich wiederholt in der zärt-
lichsten Weise auf ihr Verhältnis als das von Mutter und S(jhn
(Jonas I, Nr. 67, 86). Aber auch die entscheidende Liebe seines
Lebens zu Charlotte von Lengefeld,^) seiner späteren Frau, zeigt
*) Vg'l. auch Minor. s Auffassung der Charlotte von Kalb als Muse des Carlos
,Mit einer anfangs ganz uneigennützigen Neigung, welche ihm wie Mutterliebe
oder Schw;esterliebe wohltat, war sie um Schiller besorgt und für ihn tätig (S. 343).
''') Ahnlich soll sich Schiller neben der nicht gerade im besten Kufe (Minor,
S. 35*2) stehenden Witwe Vischer auch für deren junge Nichte Wilhelmine Vischer
interessiert haben. — Von Interesse ist in diesem Zusammenhang vielleicht auch
die Tatsache, daß sich der Dichter dem Kritiker Schubart gegenüber als Dr. Fischer
(gleichsam als Sohn der Witwe) ausgab.
■') Es muß auffallen, daß die meisten der von Schiller geliebten Frauen den
Namen Charlotte führen, worin man trotz der Häufigkeit dieses Namens zur da-
maligen Zeit auch einen — wimn auch äußerlichen — Ausdruck seines typischen
Schillers Liebeseinstellung zur Mutter. 93
in ihrer merkwürdigen Wandlung und in ihrer Ähnlichkeit mit dem
Verhältnis zu den beiden Damen von W o Iz o g e n, wieder den typischen
Charakter, der uns den infantilen Ursprung verrät. Als Schiller die
beiden Schwestern von Lenge feld (zu Beginn des Jahres 88) kennen
lernte, fesselte ihn zuerst die in ihrer Ehe sich unglücklich
fühlende Karoline. Die überschwänglichen Briefe, die er an sie
und auch an beide Schwestern zusammen richtete, ließen die Meinung
entstehen, er habe in einer Art Doppelbräutigamschaft gestanden und
lange geschwankt, welche von beiden Schwestern er heiraten solle
(Jonas Anmerkungen).^) Die allgemeine Ansicht war jedenfalls,
Schiller habe eigentlich seine verheiratete Schwägerin Karoline (von
Beulwitz) zuerst und mehr geliebt als ihre Schwester Lotte und
diese daher nicht um ihrer selbst, sondern um der älteren
Schwester willen geheiratet. Gewiß ist, daß Karoline anfangs an eine
Scheidung dachte und die Möglichkeit erwog, als Schillers Gattin
einen Wirkungskreis zu finden, der ihren Anlagen und Wünschen
entsprach, was um so begreiflicher erscheint, als sie innerlich längst
von ihrem Mann geschieden, das Zusammenleben mit ihm aufgegeben
hatte. Schiller war diesem Plan, der an der „Bequemlichkeit" Karo-
linens scheiterte, keineswegs abgeneigt. Fand er doch hier seine
Liebesideals erblicken darf, wenn man weiß, daß diese Ähnlichkeit sich auch auf
gewisse Charakterzüge dieser Frauen erstreckte. So schrieb einer der begeistertsten
Verehrer Karolines, Adlerskron, an sie, daß Charlotte v. Kalb einige Charakterzüge
mit ihr gemein habe. — Die Namen sind im Liebesleben der Menschen und in den dich-
terischen Phantasien nicht ohne eine gewisse Bedeutung. So wird die leichte
Übertragungsmöglichkeit der infantilen Neigung eher verständlich, wenn man weiß,
daß Schillers Mutter Elisabeth hieß, wie die von Don Carlos geliebte Frau
seines Vaters; auch ist es kein Zufall, daß die Heldin von „Kabale und Liebe"
nach seiner zweitgeborenen Schwester Luise benannt ist und ihr Familienname
Miller vermutlich einem Leutnant (vgl. Major Ferdinand) angehörte, auf dessen
Liebe die ältere Schwester Christophiue infolge des Widerstandes ihres Vaters (vgl.
den Widerstand des alten Miller) verzichten mußte (Minor, S. 362). — Ähnliche
Namensgleichheit und Anklänge spielen im Liebesleben und Schaffen vieler Dichter
mit. So führten beispielsweise Mörikes zwei Bräute dieselben Namen wie die
vom Dichter geliebten beiden eigenen Schwestern. Seine erste Knabenliebe hieß
Klara (Neuffer), so wie seine kurz vor Beginn dieser Liebe geborene jüngste
Schwester (1816). Seine grande passion hieß L u i s e (Rau), mit der er sich entgegen
seiner sonst zögernden Art fast sogleich verlobte (1829), nachdem zwei Jahre früher seine
geliebteste gleichnamige Schwester gestorben war. (i^dl. Mitteilung von Dr. Hanns
Sachs.)
^) Vgl. die ausführliche Darstellung von Schillers Verhältnis zu den beiden
Schwestern von Lengefeld in der Einleitung zu Schillers Briefwechsel mit Lotte
(Diederichs Jena), worin Schillers Urenkel von Gleichen-ßußwurm Familien-
überlieferungen verwertet. — Karl Berger: Schillers Doppelliebe (Marbacher
Schiller-Buch in, 1909) geht von oberflächlichen psychologischen Annahmen auf eine
ganz überflüssige „Reinigung" Schillers aus, indem er nachzuweisen bemüht ist, daß
Schiller niemals seine verheiratete Schwägerin geliebt habe. Ein solches Schwanken
zwischen zwei, noch dazu verwandten Frauen, wie es sich beispielsweise auch in
Bürgers Neigung zu zwei Schwestern findet, weist regelmäßig auf ein bestimmtes
infantiles Liebesschwanken zwischen Mutter und Schwester hin (vgl. den H. Ab-
schnitt).
04 III. ni<> Tnzostphantasic hei Schillor.
„Lieljesbedin^uu<^en" (Freudj in vuUöttin Malic crliillt: die iMöp^lirlikeit,
eine Frau zu erobern; die einem anderen J\lnnne angehörte, die sich
in der Ehe mit diesem ]\Iann unglücklich fühlte und in ihm den
^Ketter" eritlickte, Hedingungen, die seinem infantilen Liebesideal von
der j\Iutter vollinhaltlich entsprachen. Aber die „Bequemlichkeit",
wie Karoline genannt wurde, schreckte vor diesem Familienskandal
zurück und lenkte sehlielilich die verwickelten Verhältnisse zu einem
gut bürgerlichen Ausgang. Auf ihr Antreiben erfolgte dann die ent-
scheidende Aussprache zwisclien Schiller und Charlotte, die zur Ver-
lobung führte. Karoline aber- verrät durch ihr P^ingreifen in diesem
Sinne den Wunsch, den Geliebten wenigstens nicht ganz zu verlieren.
Dalü auch Schiller ein ähnlicher Wunsch bei der Heirat beeinflußte,
geht mit aller Deutlichkeit daraus hervor, dalj die Träume des Dichters
immer auf ein Zusammenleben mit beiden Frauen gingen. ') So hat
er also eigentlich seine Frau gleichsam als Ersatz für die unerreich-
bare Schwester geheiratet, ganz wie er Charlotte von Wolzogen als
Ebenbild ihrer IMutter liebte. Dieser Ersatz der unerreichbaren, einem
andern gehörigen Frau, durch deren Tochter oder jungen^ Schwester,
durch ihr erreichbares Ebenbild, gehört ebenftüls zum Typus der
Mutterliebe und geht regelmäßig, wie auch bei Schiller aufge-
zeigt werden soll, auf den Ersatz der Neigung zur Mutter durch die
bei weitem weniger anstößigere Neigung zur Schwester zurück (vgl.
im zweiten Teil Schillers Liebe zu seiner Schwester Christophine).
Aber dieses ideale Zusammenleben mit den beiden Schwestern (Karohne
wohnte die ersten Monate bei den Neuvermählten), wie er es im
Elternhause mit Mutter und Schwester gehabt hatte, sollte nicht lange
dauern. Bald regte sich in Lotte der Argwohn, ihre Schwester könnte
für Schiller mehr bedeuten als sie selbst. Zwischen beiden Frauen
fand in Jena eine offene Aussprache statt, nach der sich Karoline
immer mehr aus der geistigen und seelischen Gemeinschaft mit
Schiller zurückzog. Der Dichter fand Ersatz für sie in der wachsenden
Freundschaft mit Goethe (siehe Rußwurms Einleitung). Die Nach-
wirkung der Mutterliebe im Verhältnis zu Lotte äußert sich in
charakteristischer Weise auch darin, daß Schiller ihr selbst gegen-
über gesteht (29. Oktober 1789), der Grund seiner langen Zögerung
vor der entscheidenden Erklärung wäre darin gelegen gewesen, daß'
er sie nicht mehr für ganz frei gehalten habe, was deutlich
seinem Wunsch nach einem Kivalen offenbart,^) der sich auch darin
äußert, daß er seiner Braut nach dem kirchlichen Aufgebot scherzhaft
*) Vgl. Kaßwurms Einleitung. Interessant ist in dieser Beziehung Schillers
Brief an Herrn v. Beiilwitz vom 21. .Jänner 1794 (s. Marbacher Schiller-Buch III),
worin er ihm zur Scheidung von Karoline rät, wie anderseits die Vermählung
Karolini'S mit ihrem Vetter Wilh. v. Wolzogen im September desselben Jahres
Schillers schärfste Mißbilligung fand. Es scheint, als hätte er Karolinens Freiheit
nur um seinetwillen gewünscht.
'■) Hin Mitbewerber um Lettens Iland war der Kammerjunkor von Ketclbodt.
Realisierung der infantilen Liebeseinstellung. 95
zu verstehen gibt, es sei schade, daß Knebel nicht auftrete, um ihm
Lüttens Hand streitig- zu macheu. „Gewisse Leute sollten A\drklich,
damit die Geschichte eine tragische Verwicklung bekäme, diesen
Kessort spielen lassen" (14. Februar 1790)^). So wirkt die kindliche
Rivalität mit dem Vater um die Liebe der Mutter noch bei der
eigenen Eheschließung des Sohnes nach-); und es genügt dem Dichter
nicht, diese Empfindungen, wie noch zuletzt im Carlos, künstlerisch
zu verarbeiten, sondern er sucht sie auch ins wirkliche Leben umzu-
setzen, sie auf neue Erlebnisse zu übertragen. Die Beziehung zu den
Schwestern von Lengefeld ist aber ganz besonders geeignet, unsere
Auffassung von der Beziehung der Erlebnisse zum dichterischen
Schaffen zu bestätigen. Haben wir das Verhältnis zu den beiden Damen
von Wolzogen, der Mutter und ihrer Tochter, als unmittelbares Vor-
bild von Carlos' Beziehung zu Elisabeth (der älteren, verheirateten
Frau, die hier wirklich als Mutter erscheint) und Eboli (des jungen,
freien Mädchens) erkannt, so überrascht uns nun die Wahrnehmung, daß
die beiden Schwestern von Lengefeld, deren Bekanntschaft Schiller
erst nach Beendigung des Don Carlos machte, in noch viel höherem
Maße als die Damen von Wolzogen dem Elisabeth- und Eboli-Typus
entsprechen. Lotte wurde allgemein die kleine „Dezenz'' genannt,
und ihre Schüchternheit, ihre zurückhaltende Scheu wird besonders
hervorgehoben (vgl. Berger a. a. 0.) gegenüber der schwärmerischen
Leidenschaftlichkeit ihrer älteren Schwester. So trat die dem Mutter-
komplex entstammende Scheidung der Liebesobjekte in überschwenglich
entgegenkommende und spröde ablehnende, wie sie der Dichter in fast
allen seinen Werken nach dem Typus der Elisabeth und Eboli
schilderte, ihm im realen Leben entgegen. Aber während das Ver-
hältnis zu den Damen von Wolzogen, wie die ursprüngliche Beziehung
zur Mutter und wie die Dichtung, mit der Entsagung endete, er-
möglicht hier die besondere Gunst der Verhältnisse eine annähernde
Verwirklichung des infantilen Liebesideals durch Verschiebung auf die
„Schwester" (siehe IL Abschnitt). Wir erhalten hier Einblick in den
komplizierten und subtilen Mechanismen des wirklichen Liebeslebens,
aber auch in sein Verhältnis zum dichterischen Schaffen. Denn das
') Wie Schiller im Sinne seiner infantil bestimmten Liebesbedingungen in
alle seine Liebschaften irgend eine Heimlichkeit oder Intrige hineinzubringen ver-
mochte, erwähnt Minor (S. 385) mit dem Zusätze, daß diese seltsamen Widersprüche
zum Teil durch den Dichter selbst in die Akten gebracht worden seien.
-) Zwei Monate vor der Hochzeit gedenkt Schiller in einem Briefe an die
Schwestern seiner Jugenderinnerungen an die Mutter (3. Jänner 1790): „Sie liebte
mich sehr und hat viel um mich gelitten . . . Ich fühle, wenn ich au sie denke,
daß die frühen Eindrücke^ doch unauslöschlich in uns leben. Ich darf
mich nicht mit ihr beschäftigeii" (Jonas, Bd. 3, Nr. 477). — Mit welch zärtlicher
Neignung der Knabe au der Mutter gehangen haben mochte, zeigt die Schilderung
Minors (S. 362): „Am zärtlichsten aber hing der Sohn doch immer an der Mutter;
und selbst wenn er sie nach bloß kurzer Abwesenheit in größerer Gesellschaft wieder-
sah, floh er ihr mit so ungestümer Freude in die Arme, daß er sich kaum mehr
losreißen konnte."
9() TU. Die Iii/.cstph.intJisic hei Schiller.
n;u-h Bfeiulif^un«; di'.s Dim Carlos <in<i^okiüi|ilh'. LiflK;svcrliältiiis zu den
►Schwcsteru vun Lengefeld kann unmüglich das ganz entsj)rec'hende
VerhiUtnis dos Cariiis zu (\vu heidoii Frauen beeinflußt haben') und
es bleibt nur die Annahme ül)rig, daß sowohl das reale als auch das
erdichtete \'erhältnis einer gemeinsamen Quelle im Seelenleben des
Dichters entspringen, in der wir den infantilen Inzestkomplex und
seine spätere Umarbeitung zu erkennen glauben.
Da es nur selten möglich sein wird, an ho günstigen Verhältnissen
und so reichlich gesammeltem Material wie es aus Schillers Leben vor-
liegt, diese tieferen Beziehungen, die sich in jedem Falle finden, auch
darlegen zu können, so sei noch, ehe auf die einzelnen Dramen
selbst eingegangen wird, eine kurze Betrachtung von Schillers poe-
tischer Produktion überhaupt in ihrer Abhängigkeit von seinem Liebcs-
leben gestattet. Die große mehr als zehnjährige Pause in Schillers
dichterischem Schaffen von der Fertigstellung des Don Carlos (1787)
bis zur Vollendung des Wallenstein (1799) wird verständlich; wenn
man in Betracht zieht, daß sie in die Zeit seiner entscheidenden
Liebe zu den Schwestern von L e n g e f e 1 d, seines Brautstandes und seiner
ersten Ehejahre fällt, Ereignisse die ihm im Sinne unserer Darle-
gungen eine ausreichende Befriedigung seines unbewußten Phantasie-
lebens gewährten. Schiller selbst schreibt in diesem Sinne einen
Monat vor der Hochzeit an die beiden Schwestern:
„Sonst war ich mir seihst mehr, weil ich mir alles seyn mußte:
meine Wünsche waren genügsamer und mein eigenes Herz reichte hin, sie
zu stillen. Ich umschlang die Geschöpfe der Einbildung, dichterische
Wesen, mit einem Herzen der Liebe, mit einer geselligen Freude. Das
ist jetzt alles vorhey meine Liebsten. Im Gedanken an euch verzehrt
meine Seele alle ihre glühenden Kräfte, und kein andrer Gegenstand bringt
es bey mir auch nur bis zur AVärme. Nie bin ich in mir selbst su arm
und so wenig gewesen, als jetzt in der Annäherung zu meinem seligsten
Glück" (10. Jänner 1790).
Mit dem „Don Carlos" hatte Schiller aber anderseits die große
innerliche Keaktion und künstlerische Befreiung von seinem Familien-
komplex zu einer ersten Beruhigung gebracht, die auch in der auf seinen
bis dahin fluchtartig fortgesetzten Ortswechsel folgenden Stetigkeit
und seiner Heirat — der Gründung einer eigenen Familie — ihren
äußerlichen Abschluß fand. Und wie eine Ablösung von dem infan-
tilen (Jdipus-Komplex und ein Hinwenden zu neuen höheren Zielen —
wie es schon die Ausgestaltung des Posa-Dramas angedeutet hatte — klingt
es, wenn der Dichter seinen Carlos am Schluß resignierend sagen
läßt: „Mutter, es gibt ein höher, wünschenswerter Gut als dich be-
sitzen.'' Und wie der Dichter bis weit in die Jünglingsjahre hinein
*) Ähnlich zeigen schon des Knaben erste dramatische Versuche, die lauge
vor dem Konflikt mit dem Herzog entstanden („Chri.stus", „Absalom") entsprechend
seiner Einstelltiiig zum Vater „die Helden als Selbstaufopferer, die Angefeindeten als
Tyrannen" (Minor, S. lü).
Die Cäsur in Schillers Liebesleben und Schäften. 97
der intensivsten dramatischen Produktion zur Bewältigung seines mächti-
gen Ödipus-Komplexes bis zu diesem resignierenden Abklingen im Don
Carlos bedurfte, so braucht er jetzt wieder zehn Jahre, um seine durch
Heirat und Familie mitbewirkte und gebotene normale Einstellung
zum Leben und den Menschen zu gewinnen. In dieser auf den Sturm
und Drang folgenden ersten Zeit der inneren Ausgeglichenheit wirft
sich Schiller nun den "Wissenschaften, der Philosophie und der Ge-
schichte, in die Arme und es ist bekannt, wie er von dieser her den
Wea: zu seinem dramatischen Schaffen wieder fand.^) Im Verkehr
^) Es kaua hier nur angedeutet werden, daß in diesen auf die ersten impul-
siven, sehr treffend als „Sturm und Drang" bezeichneten dichterischen Ausbrüche
des Unbewußten gewöhnlich eine Periode der persönlichen Klärung, der Selbstbe-
sinnung folgt, die durch den Versuch, in die Bedingungen des eigenen Schaffens
(Autoanalyse) einzudringen, sowie die strengen ästhetischen und künstlerischen For-
derungen der Technik sich klar zu machen, zu der zweiten geklärten und gereiften
Periode führt, wie bei Goethe und besonders deutlich auch bei R. Wagner, bei dem
— ebenso wie bei Schiller, zu dem er sich außerordentlich hingezogen lühlte — die
Lücke zwischen den eruptiven Pubertätsschöpfungen und den reifen künstlerischen
Leistungen von Betrachtungen über das Wesen der Kunst und des eigenen Schaffens
ausgefüllt war. — Als ein bezeichnender und bedeutsamer Ausdruck dieser inneren
Beruhigung, Klärung, Beherrschung ist es bei Schiller anzusehen, daß er erst mit
dem Carlos zum Versdrama überging, welche Technik gleichsam eine Abkühlung,
Sichtung und Reinigung des eruptiv herausgeschleuderten Prosagesteins nötig macht. —
So erklärt sich auch, daß Goethe die meisten seiner dramatischen Dichtungen (Teile
des Faust, Iphigenie, Eg.nont u. s. w ) erst in Prosa ausführte und dann in die idealere
Sphäre der Versbearbeitung emporhob. — Interessant ist in diesem Sinne ein Schreiben
Humboldts aa Schiller, der schwankt, ober den „Wallenstein" in Vers oder Prosa
ausführen soll; er schreiljt: „ ... in der ,lphigenia' und im , Carlos' tut mir der Vers-
ungemein wohl, hingegen im ,Götz', selbst in dem hie und da so schwärmerischen
und feenartigen ,Egmoat', in den , Räubern', ,Fiesko', vorzüglich in ,Kabale und Liebe'
ist er mir geradezu undenkbar. In der ,Iphigenie' liebe ich ihn, weil dies Stück aus
einem fremden Gebiet, und zwar aus einem solchen ist, wo die Kunst und sogar
eine gewisse pathetische Form herrscht ; im ,Carlos' weil er, upgeachtet seiner
mächtigen Wirkung auf die Empfindung, doch auch den Verstand so anhaltend be-
schäftigt, und zwar, wie der Dichter immer soll, in eine idealische Welt versetzt,
aber nicht genug, wie man doch auch fordern kann, diese wieder an die wirkliche
anknüpft. Jene anderen genannten Stücke aber greifen so sehr in das Leben, das
uns immer umgibt, ein, sie stellen so sehr wirkliche und großenteils auch bürger-
liche Szenen dar, daß für mich hieraus nun bei Versen ein Mißverhältnis zwischen
dem Stoff und der Form entsteht. Ich verlange hiemit nicht diese Ansicht der Sache
zu verteidigen ; ich bin vielmehr schlechterdings der Meinung daß eigentlich alles
echt poetische auch metrisch sein müßte, um auch an der Vollkommenheit der Form
nichts einzubüßen, ich bin auch überzeugt, daß das Vorurteil in mir nur aus einem
Mangel an rein ästhetischem Sinn herkommt; indes wollte ich nur zwei Folgen
daraus herleiten, die, wenn man dies Vorurteil unter uns allgemein nennen könnte
(worüber ich mir die Entscheidung nicht anmaßen will), nicht unwichtig sein würden.
Einmal, dünkt mich, deutet es auf eine gute Quelle hin, auf eine Schätzung des
Natürlichen und Gehaltvollen, womit die oft leere und unnatürliche Künstlichkeit der
Franzosen, hie und da der Engländer und sogar der Griechen im Widerspruch
steht. Ich sage auch der Griechen. Denn ungeachtet des Geschreis von Einfachheit
und Natur kann es dem unparteiischen Leser nicht entgehen, daß die griechischen
Tragiker (und nicht bloß der wirklich manchmal bombastische Äschylus) eine viel
höhere, gesuchtere, mehr opernartige Diktion haben, als wir auf unserer Bühne
dulden würden. Die simple Frage: woher kommst du gegangen? wollte ich Ihnen
Rank, Das InTostmotIv. 7
98 in. Die Inzestphantasie bei Schiller.
mit Dalberg, dem er auch die erste Anregung zum Don Carlos
(1782) verdankte, scheint er auch den Plan zum Wallenstein gefaßt
zu haben. Aber welch ein anderer Schiller tritt uns in diesem Werk
entgegen. Nichts mehr \on den Kraftworten des jungen Stürmers
und den elementaren Ausbrüchen seines Vaterhasses; gemäßigt und
abgeklärt, als Konflikt zwischen Liebe und Pflicht in Max, tritt uns
die Auflehnung gegen den Vater entgegen, die immer noch die
Grundtriebkraft des ganzen Werkes, besonders der „Piccolomini",
liefert, wie noch einzelne Wendungen und Gleichnisse in aller Schärfe
enthüllen. So sagt der Vater Octavio (2, 7):
„Dann soll die Welt das Schauderhafte sehen,
Und von des Vaters Blute triefen soll
Des Sohnes Stahl im f^täßlichen Gefechte."
Mit dieser Milderung des Vaterhasses im Innern des Dichters
geht uatürlich eine große Veränderung in der Technik der Produktion
Hand in Hand, da die Nötigung zur Abschwächung und Idealisierung
der ersten elementaren Ausbrüche, wie wir sie noch beim Carlos in
der fortschreitenden Ausarbeitung beobachten konnten, nun wegfällt.
In diesem Sinne schreibt Schiller an Körner (25. Mai 1792), dem
er in der Zeit der Ünproduktivität Einblick in die Bedingungen seines
künstlerischen Schaffens gewährt: „Mich kann oft eine einzige und nicht
immer die wichtige Seite des Gegenstandes einladen, ihn zu bearbeiten
und erst unter der Arbeit selbst entwickelt sich Idee aus Idee. Was
mich antrieb, die .Künstler" zu machen, ist gerade weggestrichen
worden, als sie fertig waren. So wars beym Carlos selbst.
Mit Wallenstein scheint es etwas besser zu gehen." — Dieser auf
Grund der gewaltigen Affektversclüebung veränderten Stellung zu seinem
Stoff gibt der Dichter in einem Schreiben an Goethe bezeichnenden Aus-
druck : „Es will mir ganz gut gelingen, meinen Stoff auiSer mir zu halten
und nur den Gegenstand zu geben. Beynahe möchte ich sagen, das Sujet
interessiert mich gar nicht und ich habe nie eine solche Kälte für meinen
Gegenstand mit einer solchen Wärme für die Arbeit in mir vereinigt
[Affektverschiebung]. Den Hauptcharakter sowie die meisten Neben-
charaktere tractiere ich wirklich biß jetzt mit der reinen Liebe des Künstlers;
bloß für den nächsten nach dem Hauptcharakter, den jungen Piccolomini,
durch sonderbare Wendungen an mehr als einer Stelle zu einer Aufsehen erregenden
Zeile ausgedehnt zeigen. Dagegen verrät jene Vorliebe für den prosaischen Vortrag
auch und noch mehr, wie ich schon vorhin sagte, Mangel an rein ästhetischem
Sinn, ein Kleben an dem Stoff der Dichtkunst mit Vernachlässigung ihrer
Form. Denn nur in einer solchen nicht reinen Geistesstimmung läßt .«ich Kunst und
Natur, die für den Griechen immer zusammen fallen mußten, noch getrennt denken.
Wenn aber die Neueren überhaupt in einen von beiden Fehlern verfallen, die Form
zu leer oder den Stoff zu formlo.s lassen, so scheint mir der letztere ganz vorzüglich
dem Ende des .Jahrhunderts, in dem wir leben, und dem deutschen Natioualcharakter
eigen." Über das Thema haben sich Goethe und Schiller in ihrem Briefwechsel
wiederholt geäußert (vgl. z. B. Schillers Brief vom 24. August 1798).
Die Gefühl sum Wandlung zum Vater. 99
bin ich durch meine eigene Zuneigung interessiert, wobey das Ganze
übrigens eher gewinnen als verlieren soll." (28. November 1796.)
Den gewaltigen Umschwung im Innenleben des Dichters erklärt
uns aber nicht allein seine Heirat und ihr physiologischer Einfluß auf
die Sexualität allein, sondern es sind die mächtigsten psychologischen
Ereignisse im Leben eines Mannes, welche die Heirat gewöhnlich im
Gefolge hat: nämlich der Ersatz des bis dahin vergebens ersehnten,
unerreichbaren und unerlaubten Mutterideals durch das im vollen Um-
fang des Liebeslebens gewürdigte Weib und das zweite vielleicht noch
bedeutsamere Moment, das Vater werden aus dem oft lange und
intensiv festgehaltenen Sohnsein. ^) Diese Gefühlsumwandlung mit ihrer
schon besprochenen Vergeltungs furcht im Unbewußten ist Ursache,
daß der Vaterhaß nun abklingt und einer allmählichen Parteinahme
für den Vater, wie sie uns schon im Wallenstein entgegentritt, Platz
macht. Nachdem dieses durchaus nicht streng an die reale Vater-
schaft gebundene Vater werden im Psychischen einmal vollzogen ist,
stellt sich auch die frühere Produktionsfähigkeit wieder her und von
der Vollendung des Wallenstein begonnen schuf Schiller bis zu seinem
Tode jedes Jahr eines seiner unsterblichen Meisterwerke. Aber seine
eigene Kritik muß ihm jetzt selbst den Schaden ersetzen, den sie ihm
zugefügt hat. „Und geschadet hat sie mir in der That, denn die
Kühnheit, die lebendige Glut die ich hatte, ehe mir noch eine Regel
bekannt war, vermisse ich schon seit mehreren Jahren" (25. Mai 1792
an Körner).
Nach diesen prinzipiellen Auseinandersetzungen wird es gestattet
sein, ohne Mitteilung von Detailanalysen, die weiteren Bestätigungen
für unsere Auffassung aus den einzelnen Dramen Schillers summarisch
zu gruppieren, mit steter Berufung auf die im Detail durchgeführte
Deutung des Don Carlos. In Kabale und Liebe, dem bürgerlichen
Trauerspiel, steht Ferdinand seinem Vater, dem Präsidenten, von
Anfang an mit einer Kühle gegenüber, hinter welcher der Haß
nur zu oft deutlich hervorbricht. Es ist das gleiche gespannte Ver-
hältnis zwischen Vater und Sohn wie im Don Carlos. Auch manche
Details, die im Carlos wiederkehren, finden sich schon hier. Auch
Ferdinand sieht in seinem Vater den Tyrannen und Mörder, der durch
gewaltsame Beseitigung seines Vorgängers in die Höhe gekommen ist
(I, 7). Einerseits haßt und fürchtet auch er den Vater, ja zückt sogar
den Degen gegen ihn (II, 6) wie Carlos (V, 4 König: „Das Schwert
gezückt auf deinen Vater?"), anderseits tritt er ihm aber auch —
wie Carlos in der großen Szene (2) des zweiten Aktes — versöhnungs-
^) Schillers erster Sohn Karl wurde am 14. September 1793 geboren. Er
sclireibt zwei Monate vorher an Körner (17. Juli): „Die schönen Aussichten, die
ich vor mir habe, erhellen mir das Herz. Ich werde zugleich die Freuden
des Sohnes und des Vaters genießen und es wird mir zwischen diesen beiden
Empfindungen der Natur innig wohl sein." Und wenige Monate nach der Geburt
des Knaben, im März 1794, beginnt er die Weiterausarbeitung des Planes zum
Walleustein.
7*
100 III. nie Inzostphantasio hei Scliillcr.
voll o^egenllber (IT, 7 Schluß und IV, 5). Wührcud alier im Carlos
der \'ater den Sohn dein Henker ausliefert, überliefert hier der Sohn
den \'ater dem Gerichte (III, 4 Ferdinand: „Der Sohn wird den
Vater in die Hände des Henkers liefern.") Ist so die Feindschaft
zwischen Vater und Sohn ganz oftenkundig, so verrät uns die Ge-
staltung der beiden hVauencharaktere und das widerspruchsvolle Ver-
halten des Hehlen ihnen gegenüber — in seiner Ähnlichkeit mit den
Verhältnissen im Don Carlos — die Herkunft aus dem jMutterkomplex,
wie ihn Freud ^) ausführlich geschildert hat. Er fand nämlich unter
den typischen Xiiebesbedingungen, welche die Mentchen aufweisen,
deren Libido lange Zeit und intensiv nii die Mutter fixiert war, sich
aber dann V(jn ihr abgelöst hat und auf andere Personen übertragen
wurde, eine sehr merkwürdige, die um so auffälliger ist, als sie zur
Vorstellung der Mutter in einem befremdenden Gegensatz steht: es
ist dies die Vorliebe solcher Menschen für sexuell anrüchige Frauen,
für Frauen, die einen schlechten Ruf haben. ^) Zur Aufklärung dieser
seltsamen „Dirnen"-Neigung beruft sich Freud auf ein regelmäßiges
Verhalten vieler junger Männer in den Pubertätsjahren : nämlich auf
die Tatsache, daß sie zweierlei sexuelle Einschätzungen haben. Einer-
seits eine große Hochachtung vor den Frauen, eine Schwärmerei und
unsinnliche Liebe; sie haben seelische und sinnliche Liebe von ein-
ander geschieden. Wird die Sinnlichkeit aber stark genug, so daß
sie daneben durchbricht, so verkehren diese Jünglinge sexuell
nur mit verachteten Frauen. Das kommt daher, daß die erhabene,
reine Vorstellung, die sie sich von der (unerreichbaren) Mutter ge-
bildet haben, sie hindert, das Weib mit dem Sexualgenuß in Verbin-
dung zu bringen. Aber unter dem Drang der reifenden Sexualität
eröffnen sie dann dem gemeinen Weib, bei dem sie den bloßen Sexual-
genuß suchen, gleichsam ein separates Konto. Diese scharfe Trennung
der Liebesobjekte, die schon von der Pubertätszeit an entwickelt wird,
') Über einen besonclercn Typus der Objcktvvahl beim Manne (I. c).
^) Schillers Vorliebe für bereits vergebene Frauen wurde mehrfach erwähnt
(Witwe Vischor, Frau v. Wolzogen, Frau v. Kalb, Karoline v. Lengefeld); daß er
sich auch durch einen schlechten iinf von einer Frau nichts weniger als abgestoßen
fühlte, zeigt seine Neigung zur Witwe Vischcr, die nach Minor (Ö. 382) „von ihrer
Anziehungskraft gegenüber jungen Männern, die in ihrem Hause wohnten, nicht
ungern Gebrauch machte", und die bei Besprechung dieses N'erhältnisses hingeworfene
Bemerkung Minors, daß „sich Schiller noch später mit vollem Bewußtsein vor den
Verlockungen jeder Kokotte unsicher gefühlt habe". So machte Schiller beispiels-
weise zu Anfang des Jahres 1787 auf einem Maskenball die Bekanntschaft einer
„Zigeunerin", diu ihn sogleich ungemein fesselte. Es war Henriette von Arnim, die
— ebenso wie ihre Schwester — einen sehr üblen Ruf genoß ; dennoch bewarb sich
der Dichter ernstlich um sie und vollzog die Lösung, wie immer bei seinen vor-
eiligen Verliebtheiten, erst langsam und allmählich (Minor, S. 504). Auf dieser
„Dirnenphantasie^ ruht auch Schillers Interesse für eine von Diderot mitgeteilte
Anekdote, die Schiller iu der Rheinischen Thalia als „Beispiel einer weiblichen
Rache" wiedererzählte. Die Manjuise von Pommerage gibt ihrem treulosen Lieb-
haber eine Buhlerin zur Frau und klärt ihn erst nach der Brautnacht darüber auf,
daß es seine eigene Tochter gewesen sei. Dasselbe Motiv findet sich beiGrillpar-
zer (Kap. XIV) und Arnim fKap XXITI 2i.
Der miitterliclie Liebestypus. 101
ist jedoch auf die Dauer nicht haltbar. Mit der Steigerung der
sexuellen Bedürfnisse stellt sich, in Anpassung an die sozialen Ver-
hältnisse, allmählich ein Kompromiß her, das als die normale Lösung
dieses Konflikts bezeichnet Averden kann: die Möglichkeit dieses
Kompromisses tinden diese Personen in der Neigung zu einer in
gewissem Sinne niemals mehr ganz reinen Frau eines anderen, die
eine annähernde Wiedervereinigung jener ursprünglichen Spaltung
im Liebesleben gestattet.^) Dieses Kompromiß verrät aber deutlich
die Herkuaft dieser Liebesbedingung aus dem Mutterkomplex. Bei
seinen Untersuchungen fand Freud nämlich, daß das Kind, wenn es
die wahre Natur der geschlechtlichen Vorgänge zwischen den Eltern
zu ahnen beginnt, diese als eine Entwürdigung insbesondere der ge-
liebten und für ihn unerreichbaren Älutter auffaßt. In der Pubertäts-
zeit, wo er dann die Frauen kennen lernt, die sich berufsmäßig dem
Geschlechtsverkehr hingeben, sagt er sich in Auffrischung dieser in-
fantilen Geschlechtsverachtung, daß seine Mutter, die sich dem (un-
geliebten) Vater hingebe, eigentlich auch nicht besser sei als diese
Frauen. Er bringt sie dann in seinen Phantasien in allerlei sexuelle
Beziehungen und dichtet ihr verschiedene Liebesverhältnisse an, worin
sowohl die Rachegefühle gegen den bevorzugten Vater wie auch der
eigene Wunsch nach einer leichteren Annäherungsmöglichkeit an die
Mutter zum Ausdruck kommen. Ganz ähnlich geht auch Hamlet in
seiner eifersüchtigen Verblendung sa weit, den ehelichen Verkehr der
Mutter als verwerfliche Buhlerei aufzufassen und scheut sich nicht,
seine Matter geradezu eine Dirne zu nennen.^) Die durch psycho-
analytische Forschungsarbeit bloßgelegten Bruchstücke prähistorischer
Kindheitsphantasien haben die überraschende Tatsache ergeben, daß
diese Auffassung der Mutter als Dirne im kindlichen Phan-
tasieleben gar nicht so selten ist als man aus der Befremdung schließen
sollte, mit welcher der Erwachsene eine solche Zumutung zurückweist.
Die Entrüstung, mit der das zu geschehen pflegt, wird aber leicht
verständlich aus der intensiven Verdrängung, welcher diese anstößige
Phantasie sehr bald verfallen ist. Bei neurotisch veranlagten Personen
durchbricht zur Zeit der geschlechtlichen Reifung diese infantile Phan-
^) Es ist hier als überaus charakteristisch hervorzuheben, daß die ältere, liebes-
erfahrene, manchmal geschiedene oder verwitwete Fraa mit mehr mütterlichen Neigun-
gen das in Dichtung verherrlichte und im Leben beständig gesuchte Liebesideal der
Romantiker war, deren Vorliebe und intensives Interesse für inzestuöse Stoti'e im
IL Abschnitt gezeigt werden soll. Daß das Alter einer Frau den im Mutterkomplex
eingestellten Mann nicht nur nicht abstößt, sondern oft einzig fesselt, lehrt die als
wahre Begebenheit überlieferte Geschichte der zur Zeit des ancien regime berüchtig-
ten Kokotte Ninon de Lenclos, die noch in vorgerücktem Alter so reizvoll und
anziehend gewesen sein soll, daß sich ein junger Mann leidenschaftlich in die
60jährige verliebte. Es war ihr eigener Sohn, der seine Herkunft nicht gekannt
hatte und als er sie erfuhr, sich tötete. Ernst Hardt hat diese Geschichte in einem
einaktigen Drama behandelt (Leipzig, Insel-Verlag)
') Hamlet (V, 2): „Der meinen Vater totschlug, meine Mutter zur Hure
machte; zwischen die Erwählung und meine Hoffnungen sich eingedrängt."
102 III. Uie luzestphantasie bei Schiller.
tasie in entstellter Form die Verdränj^uiio^sdämme und ilußert sich in
dem von Freud (a. a. O.) scharf charakterisierten sozialen Verhalten
der Betreffenden. Beim Dichter dagegen sehen wir diese Phantasie
allerdings unentstellt wieder auftauchen, dafür aber mit einer schein-
bar berechtigten Motivierung, welche sich jedoch bei näherer Be-
trachtung so unhaltbar erweist, wie die ursprüngliche kindliche Be-
gründung dieser Auffassung. Es hat sich nämlich gezeigt, daß das
verhebte Kind, welches scheinbar keine bestimmten und jedenfalls
keine sexuellen Ansprüche an die Mutter stellt, dennoch die Ent-
deckung des geschlechtlichen Verkehrs der Eltern als sexuelle Untreue
der geliebten Person ansieht. Auch Hamlet verfährt nun gar nicht
anders, wenn er die Mutter eine Dirne schilt, weil sie in das Bett
seines (Stief-) Vaters geht. Zur Zeit der Pubertät wird dann diese
ursprünglich sozusagen rein kritische Phantasie im positiven Sinne
verwertet, indem der Dirnencharakter der Mutter dem Sohne nun
dazu dienen muß, seine Inzestphantasie sowohl ihrer Ungeheuerlich-
keit zu entkleiden als auch der Möglichkeit ihrer Realisierung näher
zu rücken. ^) Demselben Motiv entspringt eine andere ebenfalls regel-
mäßige Phantasie, die auch in einer Nebenbemerkung Hamlets ihren
prägnanten dichterischen Ausdruck gefunden hat. Er sagt zu seiner
Mutter :
„Ihr seid die Königin, Weib eures Mannes Bruders,
Und — war es doch nicht so! — seid meine Mutter."
Hinter dem verächtlichen Sinn dieser Bemerkung verbirgt sich der
typische Wunsch jedes in seine Mutter verliebten Sohnes nach Lösung
des verwandtschaftlichen Verhältnisses, um die verbotene Liebesbe-
ziehung zu ermöglichen. Hält man dazu die gleichsinnige Bemerkung
des Don Carlos (seine ersten Worte im Drama):
„0 Himmel, gib, daß ich es dem vergesse,
Der sie zu meiner Mutter machte!"
80 darf man vermuten, daß neben den hervorgehobenen Abwehr-
momenten auch dieser Wunsch nach Lösung der verwandtschaftlichen
Beziehung nicht ohne Einfluß auf die Verwertung und Gestaltung des
Stiefverhältnisses in Schillers Don Carlos gewesen sei. Es muß
schon jetzt betont werden, daß diese sowie fast alle später angeführten
Parallelen nicht etwa im literarhistorischen Sinne als Nachweise einer
Abhängigkeit oder Entlehnung aufzufassen sind, sondern als Beweis
für gewisse typische Seelenregungen und ihren verwandten dichteri-
schen Ausdruck. In diesem Sinne ist ja auch Schillers Äußerung zu
verstehen, sein Carlos habe „von Shakespeares Hamlet die Seele". 2)
Noch deutlicher äußert sich die mütterliche Ätiologie der Liebes-
bedingungen bei jenen Männern, denen die zu einer annähernd nor-
*) Wie diese Phantasien zum Wahn einer höheren Abkunft führen, ist im
„Mythus von der Geburt den Helden" dargelegt.
*j Schillers Briefe, krit. Geaamtansg. v. Jonas, Stuttgart 1892—1897, Bd. 1,
Nr. C5 vom 14. April 1783.
Die Heilige und die Dirne. 103
malen Gestaltung des Liebeslebens erforderliche Kompromißleistung
nicht gelungen ist, bei denen sich also die Spaltung in das unnahbare
und verächtliche Objekt erhält und im Laufe der sexuellen Reifung
verschärft. Haben wir die ersten Anfänge dieser Scheidung von Erotik
und Sexualität bei Schiller in den Gestalten der Elisabeth und Eboli,
des keuschen, reinen, zurückhaltenden und des leidenschaftlichen,
schwärmerischen, entgegenkommenden Weibss gefunden, die ihm dann
in den Schwestern Lengefeld (der „Bequemlichkeit" und der „kleinen
Dezenz") entgegengetreten waren, so finden wir nuu in „Kabale in Liebe"
die beiden extremen Typen dieser Phantasie : die heilige, keusche, reine
Jungfrau und die Dirne, Luise Millerin und die Milford.^) Daß es
sich dabei um die dichterische Auseinanderlegung einer ursprünglich
einheitlichen Phantasie handelt, zeigt das widerspruchsvolle Verhalten
des Helden den beiden Frauengestalten gegenüber, wodurch sie ihre
Rollen tauschen und miteinander identifiziert werden. Dieses wider-
spruchsvolle Verhalten des Helden ist hier noch äußerhch, durch das
Intrigenspiel motiviert, während es in Don Carlos scheinbar unmoti-
viert aus inneren Bedingungen erfolgt. Anfangs ist Luise für Ferdi-
nand der reine Engel ; aber unter dem falschen Verdacht der Intrige
ist er auffallend leicht geneigt, sie für eine Dirne zu halten. Der
Milford dagegen bringt er anfangs, als der Maitresse des Fürsten, die
niedrigste Verachtung entgegen, um sie dann, von ihrer inneren Rein-
heit und Seelengröße überzeugt, um Vergebung zu bitten. Und wie
sich die Milford ihm an den Hals wirft, in einer Szene (II/3), die
genau an die mißverständliche Hingabe der Eboli erinnert, da weist
er ihre Liebe ebenso zurück wie Carlos die der Eboli. ^) In dieser
*) Auf die gleiche Charakterisierang der Mutter als Dirne (Gertrade) und
daneben als keusche Jungfrau (Ophelia) in Shakespeares Hamlet wurde schon
hingewiesen. Der klassische Fall ist die Kontrastierung der Venus und Elisabeth
im „Tannhäuser" Richard Wagners, von dessen Inzestgefühlen noch die Rede sein
wird (Kap. XXIII, 5). „Wie Ferdinand zwischen Luise und der Milford, so steht
Don Carlos zwischen der Königin und der Prinzessin Eboli in der Mitte und es wieder-
holen sich bekannte Szenen des bürgerlichen Trauerspiels. Die Szene zwischen Carlos
und der Eboli wiederholt die Situation, in welcher sich Ferdinand und die Lady in
dem vorigen Drama gegenüberstanden : die Verwirrung des Jünglings, seine Zer-
streutheit und Verlegenheit ist hier nur glücklicher geschildert, und wie Ferdinand,
so scheidet auch Carlos als Bewunderer von dem ,. Engel", welchen er bis dahin
nur noch nicht gekannt hat. Wie die Lady, so läßt auch die Prinzessin Eboli alle
Minen springen, um zuletzt reuig und entsagend za enden" (Minor 11, 541).
^) Dieses in unzweifelhaftester Weise aus dem Mutterkomplex stammende
Verhalten, daß des Dichters ganzes Leben und Schaflfen durchzieht, hat Minor
(Schiller II, 347 ff.) in dem Jugendgedicht „Freigeisterei der Leidenschaft" betont:
„Wie Don Carlos, so wütet auch (hier) der Dichter gegen den sündhaften
Eid, durch welchen die Geliebte ihr Herz vor dem Altar verloren hat. Aber als
ihm die Schäferstande schlägt und die Erhörung aller seiner Wünsche bevorsteht,
da taumelt er vor der „Gottheit" der Geliebten zurück, ohne das nahe Glück zu er^
ringen. Es ist wiederum der Kampf zwischen Sittlichkeit und Sinnlich-
keit, zwischen Pflicht und Neigung, zwischen Seelenglück und Sinnenfrieden; der
alte Widerstreit, an welchem Schiller handelnd, dichtend und denkend so oft seine
Kräfte geübt hat, welcher in der Anthologie auf jeder Seite wiederkehrt und welchen
1U4 111. Die Inzestphantasie bei Schiller.
Szene, in der Lady Milford dem Sohn des Präsidenten ihre Liebe
n^esteht, klino^t noch ein ^lotiv an, dns Freud ebenfalls als typische
Inzestphantasie erkannt hat. Die extreme Scheidung der ursprünglich
in der Mutter vereinigten Liebescharaktere kann beim Aufein-
anderprall dieser konträren Kegungen schwere seelische Konflikte
schaffen, die zu zwei verschiedenen Ausgängen flihren : entweder diese
Personen sublimieren die Dirne (Verehrung der Milford) oder sie
werden durch die an dem verehrten Objekt erlebten Enttäuschungen
zu Weiberverächtern (vgl. den Typus Hamlet). Eine der häufigsten
Formen dieser Sublimicrung ist das Streben nach moralischer oder
sozialer Rettung gefallener Frauen, das durch die ständigen Ver-
suchungen der sexuell anrüchigen Frau leicht rational zu motivieren ist.
Diese Rettungsphantasie, die meist durch die Heirat dieser Frauen reali-
siert wird, hat eine ihrer Wurzeln in der schon hervorgehobenen Auffas-
sung des Sohnes, die Mutter befinde sich an der Seite des Vaters un-
glücklich und erwarte vom Sohne gerettet zu werden, der sich auf
diese Weise eine Rechtfertigung seiner Ansprüche auf die Mutter
schafft. In der schon genannten Szene nun (II/3), die wie eine Vor-
studie zu der großen Eboli-Szene anmutet, spricht die Maitresse
des Landesvaters (die ]\Iutter) diesen Wunsch nach Rettung aus der
sexuellen Versunkenheit unverblümt aus :
Lady . • . (im zärtlichsten Tone.) Höre, Walter — wenn eine
Unglückliche — unwiderstehlich, allmächtig an dich gezogen — sich an
dich preßt mit einem Busen voll glühender, unerschöpflicher Liebe —
Walter! — und du jetzt noch das kalte Wort Ehre sprichst — wenn
diese Unglückliche — niedergedrückt vom Gefühl ihrer Schande
— des Lasters überdrüssig — heldenmäßig emporgehoben vom
Rufe der Tugend — sich so — in deine Arme wirft (sie umfaßt ihn, be-
schwörend und feierlich) — durch dichge rettet — durch dich dem
Himmel Avieder geschenkt sein will, oder (das Gesicht von ihm abgewandt
mit hohler bebender Stimme) deinem Bilde zu entfliehen, dem fürchter-
lichen Ruf der Verzweiflung gehorsam, in noch abscheulichere Tiefen des
Lasters wieder hinuntertaumelt — "
Diese Rettungsphantasie des Sohnes hat aber, wie Freud dar-
gelegt hat, außer dieser zärtlichen, der Mutter geltenden Wurzel, noch
eine feindselige Seite, derzufolge sie sich auch auf den Vater erstreckt.
In den Perioden des reiferen Denkens kleidet sich die dem Sohne
allmählich unverständliche Abneigung gegen den Vater in eine Un-
abhängigkeit'jsucht von der väterlichen Autorität. Der Sohn will dem
Vater gar nichts zu verdanken haben und muß es doch immer wieder
empfinden, daß er ihm eigentlich alles zu verdanken habe, da er ihm
er erst zehn Jahre später, durch das Leben and durch philosophische Stadien pe-
läatert, in der „schönen Seele" zu versöhnen gewußt hat. Itier in der „Freigeisterei"
und in der Mannheimer Fassung des Don Carlos tobt dieser Kampf am heftigsten."
Der in gleichen Formen verlaufende und ilhnlich bedingte Konflikt Wiolands wird
im IV. Kap. (S. 147) anmerknngsweise Erwähnung finden.
Die Ambivalenz der Eettungsphantasie. 105
das Leben verdankt. Diese Schuld ist nur abzutragen, wenn der Sohn
dem Vater gleiches mit gleichem vergilt, wenn er ihm das Leben
rettet, als Gegengeschenk für seine eigene Geburt. Wir erkennen
ohne weiteres, daß diese Phantasie, die sich meist in die Rettung des
Kaisers kleidet,^) es dem Sohn ermöglicht, hinter einem edlen Motiv
seine Abneigung gegen den Vater zum Ausdruck zu bringen und daß
sie insofera eine Vorstufe der schon im Hamlet analysierten Vater-
rache ist, als dort nicht nur die Rettung des Vaters, sondern — als
höchste Abwehr der eigenen Haßgefühle und Selbstbestrafungstendenzen
— die Bestrafung seines Mörders vom Sohne angestrebt wird. Auch
hier wieder zeigt sich die gesetzmäßige Ausgestaltung und Wandlung
eines Motivs, daß vom offenen Vaterhaß, der nur mit der Tötung
des Vaters seine Befriedigung findet, zur neurotischen Abwehr dieses
Impulses in die Vaterrache sich wandelt, um schließlich in der
Vaterrettung, dem vollkommenen Gegensatz zur Tötung des Vaters,
seinen vollkommensten Abwehrausdruck zu finden. Daneben aber zeigt
uns die tiefste Motivierung dieser Rettung wieder nur die Abneigung
des Sohnes gegen den Vater, ähnlich wie ja auch die „Rettung" der
Mutter in letzter Linie einen verächtlichen Sinn hat (Dirne).
Diese Errettung des Vaters aus einer Lebensgefahr als Gegen-
geschenk für das eigene Leben findet sich, wie im zweiten Abschnitt
näher ausgeführt werden soll, bereits in Schillers Erstlingsdrama die
„Räuber" oder ursprünglich „Der verlorene Sohn". Schon in Schubarts
Erzählung, die Schiller als Stoffquelle diente, spielt das Motiv der
Rettunsr des Vaters vor den mörderischen Anschlägen seines bösen
Sohnes durch den verstoßenen und unerkannt zurückgekehrten guten
Sohn eine wesentliche Rolle bei der Lösung der Geschichte, wie ja
noch in der endgültigen Fassung der ,, Räuber" Karl Moor seinen durch
den Bruder Franz dem Hungertode preisgegebenen Vater vor dem
schmählichen Tode errettet. Wie Hamlet wird also auch Karl Moor
zum Rächer seines als Geist fortlebenden ermordeten Vaters, nur mit
dem charakteristischen Unterschied, daß die in Franz personfizierte feind-
selige Einstellung des Dichters zum Vater deutlicher als der Bruder-
mord bei Shakespeare darauf hinweist, daß diese Rächungsphantasie
des Sohnes nur als Kompensation seiner ursprünglichen Tötungsphan-
tasie auftritt. Daß der Jüngling Schiller das seinem Vater zu verdan-
kende Geschenk des Lebens drückend empfand, zeigt sich in der
ersten Fassung der Räuber, wo Franz sich über jede Verpflichtung
seinen nächsten Angehörigen gegenüber hinwegphilosophiert: „Das
ist dein Bruder ! — Das ist verdolmetscht : er ist aus demselben Ofen
geschossen worden, aus dem du geschossen bist — also sei er dir
heilig ! . . . Aber weiter — es ist dein Vater ! Er hat dir das Leben
gegeben, du bist sein Fleisch, sein Bein — also sei er dir heilig !
Wiederum eine schlaue Konsequenz ! Ich möchte doch fragen, warum
*) Vgl. dazu den Mythus von der Geburt des Helden. Auch Stekel konnte
diese Phantasie in Gril Iparzers : „Traum ein Leben" auf den Vater zurückführen.
lOtJ 111. Diö Inzestphantasie bei Schiller.
hat er mich gemacht? Doch wohl nicht nur aus Liebe zu mir, der erst
ein Ich werden sollte? (I, 1). Und später (V, 2) bezeichnet er die
Geburt eines ^lenschen als „das Werk einer viehischen Anwandlung"
(vgl. dazu Hamlets Ekel vor dem Ehebett etc.). Kommt hier neben
der Vaterrettuug durch Karl mehr die drückende Empfindung der
Lebensschuld gegen den Vater zum Ausdruck, so finden wir in
„Kabale und Liebe"^ einen besonders deutlichen und charakteristischen
Ausdruck der Kevanchcphantasie. Während sonst der Vater (Kaiser)
aus lebensgefährlichen Situationen gerettet wird, in die er durch
sein eigenes Verschulden oder durch fremde Personen gebmcht wurde,
ist es hier der Sohn selbst, der den Vater am Leben bedroht, um
ihm dann das Leben zu schenken. Diese Motivgestaltung, die Vater-
tötung und Vaterrettung miteinander verschmilzt^), ist ganz im Sinne
unserer Deutung gelegen. Die Szene (6) spielt im II. Aufzug, wo
der Präsident ins Haus des Musikus kommt :
Präsident (lacht lauter). Eine lustige Zumutung I Der Vater soll die
Hure des Sohnes respektieren.
Luise (stürzt nieder). Himmel und Erde !
Ferdinand (mit Jjuisen zu gleicher Zeit, indem er den Degen
nach dem Präsidenten zückt, den er aber schnell wieder
sinken läßt). Vater! Sie hatten einmal ein Leben an
mich zu fordern — Esist b e z a h 1 1. (Den Degen einsteckend.)
Der Schuldbrief der kindliehen Pflicht liegt zerrissen da" —
Außer diesen auf beide Eltern gehenden Rettungsphantasien spielt
noch eine ganz besondere ebenfalls typische Form der Rettung der
Mutter, und zwar wieder in einer ganz charakteristischen Weise, in
diesem zweiten Jugenddrama Schillers eine Rolle: esist die Phan-
tasie der Heirat mit einer Gefallenen. Es bildet keinen wesentlichen
Unterschied, daß diese Phantasie hier negativ erscheint, daß Ferdinand
das Anerbieten seines ^'^aters und den Antrag der Lady selbst, die
Maitresse des Landesvaters zu heiraten, mit Entrüstung zurückweist:
Ferdinand . . . Würden Sie Vater zu dem Schurken Sohn sein
wollen, der eine privilegierte Bulilerin heirathete?" (I, 7).
Die Antwort, die der Vater darauf gibt, ist ein allzudeutlicher Hin-
weiß auf den „]\Iuttercharakter" der Lady; er sagt:
„Noch mehr! Ich würde selbst um sie werben, wenn sie einen
Fünfziger möchte. — Würdest du zu dem Schurken Vater nicht
Sohn sein wollen ?
Ferdinand. Nein! So wahr Gott lebt!
Auch diese Lösung des Sohnesverhältnisses ist ein typischer In-
zestwunsch und das Gegenstück zur Prostituierung der Mutter:
ist er nicht der Sohn seines Vaters, so hat ja seine Mutter IChebruch
*) Vgl. über eine analoge Gestaltang in Schnitzlers „Medardus" meine
, Belege zar Uettangsphantasie" (Zentralbl. I, 8. 331 ff.).
Das Motiv der Rivalität und der Doppelliebe. 107
getrieben, ist also gewissermaßen eine Dirne. ^) Dadurch wird
aber die Inzestphantasie des Sohnes ihrer Ungeheuerlichkeit entkleidet,
so wie anderseits der Vaterhaß zur bloßen Rivalität mit einem nicht-
verwandten Mann gemildert erscheint.
Unter diesem Gesichtspunkt ergibt sich ein tieferes Verständnis
für zwei dichterisch weit verbreitete und literarhistorisch genugsam
gewürdigte Themen. Wie nämlich im Don Carlos der Vater dem
iSohn die Braut weggenommen hat und vne sie auch um die Neigung
der EboH gewissermaßen rivalisieren, so wird ähnlich in Kabale und
Liebe die Heirat der Lady MUford sowohl mit dem Sohn als auch
mit dem Vater in Erwägung gezogen. Diese typische Inzestphantasie
der Brautabnahme oder der Konkurrenz von Vater und Sohn lehrt
uns aber auch, die tiefste Wurzel für das Motiv der Rivalität
zweier Männer um ein Weib in der kindlichen Rivalität mit
dem Vater zu sachen. Dieses Thema, welches das gesamte Schaffen
zahlreicher Dichter beherrscht, wird uns beim Verhältnis der Geschwi-
ster (im II. Abschnitt) näher beschäftigen.^) Das Gegenstück dazu, das
sich häufig in derselben Dichtung findet (vgl. Carlos sowie Kabale und
Liebe) ist der Held, dessen Neigung in der Doppelliebe zwischen
zwei Frauen schwankt, einer reinen, erhabenen und einer sinn-
lichen, bösen. Dieses Thema läßt sich von Lessings Marwood und
Sara Sampson, von seiner Orsina und Emilia Galotti bis zu Wagner
(Elisabeth und Venus) und Ibsen verfolgen, in deren Dramen dieses
Motiv dominiert. ^) Wie das erste Motiv auf das infantile Verhältnis
zum Vater zurückgeht, so kennen wir dieses Motiv bereits als Aus-
druck der auf die Mutter gehenden Phantasien, die zur Scheidung der
^) Diese Lösung des Sohnesverhältnisses geht gewöhnlich einher mit dem Er-
satz des Vaters durch einen vornehmen, mächtigen Mann, gewöhnlich einen König
oder Fürsten (vgl. Heldeumythus), so daß das Herrschermilieu in den meisten In-
zestdramen auch durch diese Phantasie einer höheren Abkunft mitbestimmt ist.
") Besonders deutlich ist es im Leben und dramatischen Schaffen Richard
Wagners: Der fliegende Holländer kämpft mit dem Jäger Erik um Senta, Wolf-
ram steht vor Tannhäusers Leidenschaft zurück, Lohengrin entreißt Elsa dem ver-
haßten Telramund, Tristan macht seinem Oheim Marke die Braut und Gattin ab-
spenstig, Hans Sachs resigniert, um das Glück Walters und Evas zu begründen
U.S.W. — Die tiefste Liebe seines Lebens gehört der Frau seines Freundes Wesen-
donck und eine sozial mögliche Realisierung dieser infantilen Liebeseinstellung hat
der Dichterkomponist schließlich in der Heirat mit der Frau seines Freundes Bülow
durchzusetzen gewußt.
^) Hieher gehört auch Goethes „Stella", die seine im Leben festgehaltene
Scheidung der Liebesobjekte in die unnahbare, erhabene Freundin CFrau v. Stein)
und das sinnliche Befriedigung gewährende Weib (Christiane) wiederspiegelt und zu
vereinen sucht. Der Dichter lehnt sich dabei gewiß an die bekannte und vielfach
behandelte Geschichte des Grafen v. Gleichen an, der neben seiner ersten Gattin,
auch noch das Weib freit, das ihn aus der Gefangenschaft errettet hat. Den Stoff
haben dichterisch verwertet: Hahn aus der Pfalz, Graf Soden, Wilhelm Schütz,
Arnim, der eine Schicksalstragödie daraus machte; in jüngster Zeit hat Wilhelm
Schmidtbonn eine psychologische Vertiefung des anstößigen Stoffes versucht. Als
der „romantische" Typus dieser schwankenden Einstellung zwischen zwei Frauen ist
Ja CO bis: „Woldemar" zu erwähnen, der die inzestuöse Wurzel dieser Einstellung verrät.
108 111. Di«" Inzestphantasie bei Schiller.
Liebesobjekte in erhabene und verächtliche Personen führen. Die
Ileilio^o, Unantastl)are, ist ja die Mutter dem Sohn gegenüber, während
sie in seinen Augen als Dirne erscheint, weil sie sich dem Vater
hingibt.
Diese beiden Mtjtive der Rivalität und der Doppelliebe,
die wir in Kabale und Liebe sowie in Don Carlos finden, traten uns
auch im Leben Schillers, in seinem Verhähnis zu den Damen von
Wolzogen und dem Rivalen Winkelmann, wie in seinem Verhältnis
zu den Schwestern Lengefeld entgegen, wo er den Rivalen schmerz-
lich vermißte. Beide Motive finden sich endlich deutlich ausgeprägt
und miteinander verschmolzen in „Maria Stuart". Auch hier
steht der Held zwischen zwei Frauen: der reinen jungfräulichen
(II, 2) P^lisabeth und der „Buhlerin" Maria, die beide als „Königin-
neu^ (Mutter) auftreten. Als Helden kann man hier in gleicher Weise
den Grafen Leicester wie auch Mortimer auffassen, zwei Personen,
die als Rivaleu um die Neigung der beiden Frauen erscheinen. Der
Jüngling Mortimer verliebt sich leidenschaftlich in die um vieles ältere
Maria, auf deren Hand Leicester ältere Ansprüche geltend macht
(Motiv der Rivalität), da sie ihm zugesagt war, noch ehe sich Maria
mit Darnley vermählte. Es ist charakteristisch, daß die bewegte Ver-
gangenheit der ]\Iaria, weit entfernt den unerfahrenen Mortimer abzu-
stoßen, ihn eigentlich anzieht. Und diente in Kabale und Liebe die
Degradierung der Mutter zur Dirne zur Abwehr der Neigungen des
Sohnes (er liebt Luise, das reine Weib), so kommt in „Maria Stuart"
in demselben Motiv der ursprüngliche Wunsch nach leichter Zugäng-
lichkeit der Frau voll zum Ausdruck. In der glühenden Liebesszene
(III, 6) enthüllt ihr Mortimer, worauf sich seine Hoffnung stützt:
„Du bist nicht gefühllos,
Nicht kalter Strenge klagt die Welt dich an,
Dich kann die heiße Liebesbitte rühren :
Du hast den Sänger Rizzio beglückt.
Und jener Bothwell durfte dich entführen.
Auch hier spielt die Rettungsphantasie eine große Rolle, ja das
Drama dreht sich einzig und allein um den Rettungsversuch Mor-
timers :
Ich selber will sie retten, ich allein !
Gefahr und Rulim und auch der l*reis sei mein.
Wie in diesen typischen Frauengestalten, verrät das Drama auch
in einzelnen Details seine Herkunft aus der ßauerbacher Carlos-Zeit
(im Mai 1783 faßte Schiller den ersten Gedanken dazu). Wie Carlos
und Posa, so sind in letzter Linie auch Mcjrtimer und Leicester nur
Personifikationen des verschiedenen Verhaltens zur Mutter. Wie Carlos
verliebt sich auch Mortimer unglücklich in die Königin (respektive
die Mutter) und wie Posa weiß auch Leicester den ganzen Konflikt
politisch zu überkleiden. Ebenso erinnert die unvermittelte und über-
raschende Gefangennahme Mortimers durch Leicester auffällig an die
Der Elternkomplex in „Maria .Stuart" , 109
unter ähnlichen Umständen erfolgende Verhaftung des Don Carlos
durch Posa, als deren Folge in beiden Fällen der Tod des eigent-
lichen Helden erscheint. Dagegen ist der Konflikt mit dem Vater
entsprechend der Ausarbeitung von „Maria Stuart" in der Zeit nach
dem Wallenstein (1799 — 1800), eliminiert und der ganze dazu ge-
hörige Affektbetrag zur Belebung der historisch überlieferten Feind-
schaft zwischen Maria und Elisabeth (die übrigens auch blutsverwandt
waren) verwendet. Doch kommt auch der Haß gegen den Vater in
einem Detail, allerdings auch da nicht ganz uuverhüllt, zum Vor-
schein: im Verhältnis Mortimers zu seinem Oheim Faulet. Wie
dieser der Kerkermeister der Maria ist, der sie scharf bewacht und
Mortimer den Zugang zu ihr erschwert, so war auch PhiUpp, unter-
stützt von seinem Hofstaat, in Schillers Darstellung der „Kerker-
meister" Elisabeths,^) der sie eifersüchtig bewachte. Und auf Marias
Zweifel an dem Erfolg von Mortimers Rettungsversuch :
„Und Drmy, Faulet, meine Kerkermeister?
eher werden sie ihr letztes Blut — "
antwortet dieser entschlossen :
„Von meinem Dolche fallen sie zuerst! —
Maria. Was? Euer Oheim, Euer zweiter Vater?
Mortimer. Von meinen Händen stirbt er. Ich ermord ihn."
Und im Anschluß an diesen Vatermordgedanken hat er die Phantasie
von der Vereinigung mit der Geliebten, wie auch im Carlos (I, 5)
die Phantasie des Inzests mit der Mutter sich an die von der Tötung
des Vaters anschließt:
„Mortimer (mit irren Blicken und im Ausdruck des stillen Wahnsinns).
Das Leben ist
Nur ein Moment, der Tod ist auch nur einer !
— Man schleife mich nach Tyburn, Glied für Glied
Zerreiße man mit glühender Eisenzange,
(indem er heftig auf sie zugeht, mit ausgebreiteten Armen)
Wenn ich dich, Heißgeliebte, umfange — "2)
Die beiden konträren Frauencharaktere findet man auch in der
„Verschwörung des Fiesco zu Genua", Schillers zweitem
Jugenddrama, das zwischen dem „verlorenen Sohn" und der „Luise Mille-
rin" entstand. Auch hier spielt der Held, unter Vorgabe einer politischen
Intrige (wie Leicester und Posa), mit der Neigung zu zwei Frauen :
der edlen erhabenen Gattin Leonore und der „koketten, bösen" Julia,
der „Witwe Imperiali". Diese ist übrigens, ebenso wie die „geschän-
■) Elisabeth zu Carlos (I, 5):
„Fliehen Sie I . . . Eh' meine Kerkermeister
Sie und mich beisammen finden ..."
^) Die gleiche Phantasie im Don Carlos auf die Mutter bezüglich (I, 5):
„Man reiße mich von hier aufs Blutgerüste I
Ein Aageublick, gelebt im Paradiese,
Wird nicht zu teuer mit dem Tod gebüßt "
110 III. öie Inzestphantasie bei Schiller.
dete" Unschuld, Bertha Vemna, Schillers eigene Erfindung,^) die er
jxls Gogi'uspiel nötifj^ zu hal>en «ylauljtc. In seinem ^\'rhältnis zu ihr
finden wir wieder die zilrtiichsti'u Annäherungsversuche und die kühlste
Ablehnung, als sie sich ihm an den Hals wirft (IV'', 12). Dieses Ent-
gegenkummen der Frauen in der Liebe, das sonst Sache des ]\Iannes
ist, fallt uns hier als typischer Zug in Schillers Dichtung auf: nicht
nur die Griifiu Witwe Imperiali, auch die Milford, die Eboli, die
Agrippina bieten dem Helden in verschieden abgestufter Freimütigkeit
und Zurückhaltung ihre Liebe an. Nun sind das aber durchwegs anrüchig
gezeichnete Frauencharaktere, wie ja auch dieses Anbieten der Liebes-
neigung ein durchaus dirnenhafter Zug ist. Ursprünglich geht er auf
den Wunsch des Sohnes zurück, die Mutter möge ihm ihre ganze
Liebe entgegenbringen ; mit der späteren Verdrängung dieses Wunsches
stellt sich dann eine Sexualablehnung ein, welche sich in der Un-
fähigkeit zur aktiven Eroberung des Weibes äußert und so wieder
auf das ursprünglich gewünschte Entgegenkommen der Frau ange-
wiesen ist.
Wie der Held hier mit der Neigung der Witwe Imperiali spielt,
so haßt er ihren Oheim, den Fürsten von Genua, dessen Tyrannei er
stürzen avüI. In diesem „ehrwürdigen Greis von achtzig Jahren" tritt
uns wieder die typische Verkörperung des Vaters durch den tyranni-
schen Fürsten entgegen. 2) Die Bestätigung dafür liefert uns der
Dichter selbst, indem er den alten Doria, als ihm von den Empörern
ans Leben gegangen wird, seinen Verteidigern zurufen läßt: „Rettet
euch ! Laßt mich ! Schreckt die Nationen mit der Schauerpost : die
Genueser erschlugen ihren Vater — " (V, 4). Die besonders
durch die geschichtliche Überlieferung gegebenen Komplikationen in
den Personen Verhältnissen müssen hier unerörtert bleiben. Angedeutet
sei nur, daß Fiesco dafür gestraft wird, weil er, nachdem er den
Tyrannen beseitigt hatte, nun selbst Tyrann, Fürst, „Vater" werden,
das heißt sich an die Stelle des Vaters versetzen will.-') Das politische
Drama steht hier ganz im Vordergrund, dient aber psychologisch
Schiller nur zur Verkleidung seiner persönlichen Auflehnung gegen den
Vater, wie bei der Analyse des „Don Carlos" deutlich wurde. Eines seiner
frühesten Dramenfragmente behandelte die „Verschwörung der Pazzi",
^) Vgl. R. Weltrich: Schillers Fiesco und die geschichtliche Wahrheit (Marb.
Schillerbach III.)
'■') Wie Weltrich (a. a. O.) nachweist, erscheint Andreas Doria nach keiner
geschichtlichen Quelle als Herzog oder Doge von Genua. Schiller brauchte, wie er
meint, für die Zwecke seines Trauerspiels eine ärgerniserregende Tyrannei (1. c. S. 340).
Dieses Festhalten an der jeder historischen Überlieferung widersprechenden Auf-
fassang der Doria als Tyrannen und des Fiesco als heldenhaften Vaterlandsbefreiers
ist natürlich wieder nur eine Spiegelung von Schillers Verhältnis zu seinem Vater.
Charakteristisch dafür ist die Bemerkung Minors (S. 30): „Sein Fiesco ist nicht
22 .Jahre sondern 23, so alt wie der Dichter selbst und wie sein späterer Held
Carlos."
^ Vgl. Ileldenmythus.
Der Vaterkomplex im „Teil". 111
wie ja auch die Räuber Verschworene sind, welche „die Gesetze der
Welt umstürzen" wollen.^)
So vorbereitet werden wir keinen Aug'enblick zögern, auch im
„Wilhelm Teil" die Verschwörung-, die Empörung und den Tyrannen-
mord als einen Ausdruck von Schillers Vaterhaß aufzufassen. Aber
selbst wenn uns außer dem Teil nichts von Schiller bekannt wäre,
ließe sich daraus allein mit Sicherheit diese Deutung entwickeln und
beweisen. So sehr auch das Unbewußte durch die mächtigen kultu-
rellen Gegenregungen in seinen Äußerungen entstellt und verhüllt
wird, so bleibt doch seine Herkunft und Bedeutung an gewissen un-
scheinbaren Anzeichen erkennbar, die Freud „die Marke" genannt
hat. Die Marke nun, die Schillers „Teil" als Inzestdrama, mit der
schon charakterisierten besonderen Betonung des Vaterhasses, kenn-
zeichnet, ist die Parricidaszene (V, 2). Wie Teil den Tyrannen
Geßler tötet, so mordet Herzog Johann (Parricida) seinen Oheim (vgl.
Hamlet und Faulet in Maria Stuart), den Kaiser Albrecht, der ihm
sein Erbe vorenthält (Motiv der Thronfolge). Im Mittelpunkt der
Handlung steht aber Teil und seine Tat. weil sie vor allem des Farri-
cidiums frei und durch die Begründung der Notwehr, die Verteidigung
von Land, Gut und Familie, nicht nur gerechtfertigt, sondern sogar
als nationale Heldentat lobenswert erscheint ; ^) sie steht so sehr im Mittel-
punkt der Handlung, daß die für das Verständnis des ganzen Dramas
wichtigste Farricida-Szene an vielen Bühnen bis auf den heutigen Tag
gestrichen werden konnte.'^) Gerade diese Szene verrät uns aber, daß
Teils Tat eigentlich ein verhülltes Farricidium ist. Daß Schiller das
Verwandtschaftsverhältnis zwischen dem Kaiser (Vater) und seinem
Mörder im psychologischen Sinne wie das des Vaters zum Sohn auf-
faßte, geht aus der Frage hervor, die Melchthal mit Beziehung auf
Herzog Johann stellt: „Was trieb ihn zu der Tat des Vatermords V"
(V, 1). Die Identifizierung von Teils Tat mit der Parricidas und
damit ihre Stempelung zum verhüllten Vatermord, verrät uns der
mächtige Affekt, mit der Teil die Identifizierung seiner Tat mit dem
Morde des Kaisers abwehrt und es ist bemerkenswert, daß Schiller
^) Schiller hatte überhaupt, als rebellischer Sohn, eine besondere Vorliebe für
politische Verschwörungen und Aufstände, was vielleicht sein historisches Interesse mit
bedingte. Neben der „Geschichte des Abfalls der vereinigten Niederlande" plante er
auch eine großangelegte „Geschichte der merkwürdigsten Rebellionen und Ver-
schwörungen".
^) Vgl. den Schluß im „Mythus von der Geburt des Helden.
'') Das Gerücht wollte wissen, daß Schiller diese für die Motivierung von
Teils Tat so bedeutsame Szene erst nachträglich auf Veranlassung seiner Frau ein-
gefügt habe. — Ifflands Bedenken gegen die „Parricidaszene" hat Schiller in einem
Schreiben vom 14. April 1804 mit dem Einwurf beseitigt: „Auch Goethe ist mit mir
überzeugt, daß ohne jenen Monolog und ohne die persönliche Erscheinung des Parri-
cida der Teil sich gar nicht hätte denken lassen." — Otto Brahm meint, daß
Schiller zur Erfindung dieser Szene durch A. G. Meissners Schauspiel ; Johann von
Schwaben" (1780) geführt wurde („Parricida und Schillers Teil", Zeitschr. f. d. Altt.
XXVn, 299 fg.j.
\\2 III. Die luzestplmntasiü bei fcichiller.
die Szene, in der das geschieht (V, 2), frei eingefügt hat, während er
sich im übrigen streng an den chronikalen Bericht hielt. Der Teil,
der ein verlurenes Lamm vum Abgrund liolt, der Baumgarten mit
Gefahr seines eigenen Lebens errettet, der immer hilfreiche Teil weist
den schutzsuchenden Parricida aus seinem Hause, der gerade in Teil
am allerwenigsten den unerbittlichen Verdammer seiner Tat zu vermuten
berechtigt war:
Teil. Vom Blute triefend
Des Vatermordes und des Kaiser mords,
Wagst du zu treten in mein reines Haus?
Parricida. Bei Euch hott't ich Barniherzifikeit zu finden;
Auch Ihr nahmt Kach' an Eurem Feind.
Teil. Un^^lücklicher!
Darfst du der Ehrsucht bhitj;e Sdudd vermengen
Mit der aerechten Notwehr eines Vaters?
Zum Himmel heb ich meine reinen Hände,
Verfluche dich und deine Tat. — Gerächt
Hab ich die heilige Natur, die du
Geschändet. — Nichts teil ich mit dir. — Gemordet
Hast du, ich hab mein Teuerstes verteidigt.
Perricida. Ihr stoßt mich von Euch, trostlos in Verzweiflung?
Teil. Mich faßt ein Grauen, da ich mitdir rede.
Hier, auf dem Gipfel der Abwehr, wo dem Teil der Vatermörder
als Abbild seiner eigenen inneren Motive gegenübersteht, beginnt der
mächtige Ablehnungsaffekt in j\Iilde und Sympathie für den Vater-
mörder umzuschlagen, um sich schließlich mit ihm zu identifizieren
und durch seine Buße mit entsühnt zu werden :
Teil. Kann ich Euch helfen? Kanns ein Mensch der Sünde?
Doch stehet auf — was Ihr auch Gräßliches
Verübt — Ihr seid ein Mensch — Ich bin es auch;
Vom Teil soll keiner ungetröstet scheiden —
Was ich vermag, das will ich tun. —
Wir sehen also im „Teil" eine ähnliche Akzentverschie-
bung, wie sie Freud als charakteristisch für die Traumbildung
nachgewiesen hat, indem der durch die Verdrängung unkenntlich ge-
machte, ja sogar gerechtfertigte (vgl. Hamlet) Vatermord (d^s Tyran-
nen Geßler) durch Verschiebung des Akzents von der Parricida-Szene
her in den ^littelpunkt der Handlung gerückt ist. Und wie in „Maria
Stuart'' der gewaltige Affektbetrag des zurückgedrängten Vaterhasses
den historisch überlieferten Begebenheiten und Personen dramatisches
Leben verleiht, so wird auch die Begeisterung Schillers für den Frei-
heitshelden Wilhelm Teil aus jener tiefen Quelle der Vaterhaßgefühle
gespeist, denen in der Parricida-Episode kein genügender Raum zur
vollen Entfaltung gestattet ist. Neben dieser Akzentverschiebung ist
der zweite psychologisch wichtigste Mechanismus im Teil die Akzent-
Affekt- Verschiebung und -Umwertung im ^Tell". 113
Umwertung, die uns in der berühmten Apfelschuß- Szene ent-
gegentritt. Hier schießt wohl derVater aufdenSohn, aber der Um-
stand, daß Geßler, dem der zweite Pfeil gilt, diesen Schuß erzwingt,
markiert ihn als „Vater" dem Teil gegenüber. Doch ist in dieser
Szene der Affekt des Hasses gegen den Vater durch die mächtige Ab-
wehr an die gegenteilige Vorstellung des Hasses gegen den Sohn, das
Spiel mit seinem Leben, geknüpft und überdies noch dieser Haß in
Liebe verwandelt : der Vater schießt nicht im Haßaffekt auf sein Kind
und um es zu töten, sondern mit der größten seelischen Überwindung
und um ihm das Leben zu retten: („ich soll der Mörder werden meines
Kindes?"). Die ganze psychische Situation ist so ins Rührende um-
gebogen, als dessen eigentlichen Charakter wir eine solche Akzentumwer-
tung erkennen. Diese Umwertung ist aber psychologisch auf die väter-
lichen Gefühle Schillers zurückzuführen (Motiv der Vergeltungsfurcht)
und der junge Schiller hätte weder sie, noch die ganze Rechtfertigung
durch den Gegenspieler Parricida nötig gehabt.
Ihre Bestätigung findet unsere Auslegung in den zahlreichen
Parallelen zum T e 1 1-M y t h u s, zur Sage von dem Schützen, der
von einem Tyrannen gezwungen wird, zur Rettung seines Lebens auf
einen teuern Angehörigen zu schießen. Es gibt nämlich auch Va-
rianten, in denen dieser Schuß dem Vater (oder auch dem Bruder)
gilt. 1).
^) Vgl. dazu die im Anschluß an Grimms Ausführungen (Deutsche Mythol.
I, 315 ff. 354) über die Teil-Sage entstandene Literatur, in der zahlreiche Parallelen
bei allen europäischen und vielen asiatischen Völkern nachgewiesen wurden. Eine
interessante Variante der Sage vom Treffschützen findet sich bei Ilerodot (III, 35),
wo der als „epileptisch" bezeichnete K am bys es seinen Vertrauten Prexaspes fragt,
was die Perser von ihm, ihrem König, dächten. Und als die Antwort nicht zu seiner
Zufriedenheit ausfällt, rächt er sich grausam an Prexaspes, indem er das Herz
seines Sohnes, der bei ihm Mundschenk war, zum Ziel eines Probeschusses bestimmt.
Er sagt zu Prexaspes: „wenn ich deinen Sohn, der da in dem Vorhofe steht, mitten
durch das Herz treffe, so ist offenbar, daß der Perser Rede nichts ist ; fehle ich
aber, so sollen die Perser die Wahrheit reden und ich will nicht recht bei Sinnen
sein." Also sprach er und spannte den Bogen und schoß nach dem Knaben; und
als der Knabe gefallen war, ließ er ihn aufschneiden und den Schuß untersuchen, und
als man fand, daß der Pfeil im Herzen steckte, da war er sehr fröhlich und sagte
lachend zu dem Vater des Knaben: „Prexaspes, daß ich nicht rasend bin, sondern
die Perser nicht klug sind, das ist dir nun wohl klar ; nun aber sage mir, hast du
schon in der ganzen Welt einen so guten Schützen gesehen?" Prexaspes aber,
der da sah, daß der Mensch nicht bei Verstand war, und der für sein eigenes Leben
zitterte, sprach: „Herr, ich glaube, Gott selber kann so gut nicht schießen." — Weitere
Parallelen finden sich besonders inLeßmanns Arbeit über „die Kyros-Sage in Europa"
(Programm d. königl. Realschule zu Charlottenburg 1906, S. 34 ff.), ferner Hüsig:
Beiträge zur Kyros-Sage, Leßmann: Der Schütze mit dem Apfel in Iran (Orient. Lit,
Ztg. 1905, VIII, 219), Siecke: Götterattribute (1910, S. 156 f) und M. Jacobi:
Die Teil-Sage in den Mythen der Vorzeit (Völkerschau II, 221 — 34). Zum Schill er-
sehen Drama vgl. man Joachim Meyer: Schillers Teil auf seine Quellen zurück-
geführt u. 8. w. Nürnberg 1840; Gustav Kettner: Das Verhältnis des Schillerschen
Teil zu den älteren Teil-Dramen. (Marb. Schillerb. 1909); — ders. Studien zu Schil-
lers Dramen Bd. I. Wilhelm Teil. Eine Auslegung 1909; — E. L. Rochholz: Teil
und Geßler in Sage und Geschichte. 1807.
Eank, Das lazestmotiv. 8
114 111. Die Inzestphantasie bei Schiller.
Auf germanischem Boden ist die älteste Form die Sage vom Schützen
E i g e 1, dem Bruder des Schmiedes Wieland, von dem die Thidrek-Sage
berichtet, daß er, um seine Kunst vor König Nidung zu erproben, auf
dessen Geheiß seinem dreijährigen Sühnchen einen Apfel vom liaupte schoß
und auf die Frage des Königs erwiderte, die beiden anderen Pfeile wären
ihm zugedacht gewesen, wenn der erste statt des Apfels das Kind ge-
trofteu hätte. Die gleiche Geschichte erzählt S a x o Grammaticus von dem
Schützen T o k o und in der entsprechenden nordischen Uemnig-Sage ist
eine Haselnuß das Ziel. In einem ungarischen Märchen muß
Tschalo Pischta auf Geheiß eines grausamen Königs vom Haupte
seines Vaters einen Apfel herunterschießen, wenn er nicht
mit ihm an einen Ort gesetzt werden will, „wo weder Sonne noch Mond
scheint". Dieselbe Drohung Geßlers bei Schiller: — — »Will ich dich
führen lassen und verwahren, wo weder Mond noch Sonne dich bescheint,
damit ich sicher sei vor deinen Pfeilen,'" läßt vermuten, daß Schiller diese
Variante des Motivs bekannt war. Dieselbe Vertauschung zwischen Vater
und Sohn wie in diesem ungarischen Märchen begegnet ferner in einem
Märchen der Bukowinaer Armenier, in dem „blinden König s-
sohn", der von dem Thronräuber seines Vaters geblendet in Beglei-
tung seines treuen Hundes in der Fremde umherirrt. Er bekommt vom
heiligen Josef einen goldenen Wunschpfeil und eine Salbe, mit der er
sich am übernächsten Tage die Augen bestreichen soll, um das Augen-
licht wieder zu erlangen. Am nächsten Tage aber soll er, noch
blind, an einem Festschießen teilnehmen, das der Tyrann veranstaltet.
Er schießt seinen goldenen Pfeil, der immer ungesehen zu ihm
zurückkehrt, 33mal durch einen goldenen Ring, worauf er vom grausamen
König gezwungen wird, 33 Apfel vom Haupte seines Vaters her-
unterzuschießen. Danach tötet er mit demselben Geschoß
den König und alle seine Leute. Leßmann, dessen Arbeit ich diese
beiden Märchen entnehme, bemerkt dazu (S. 45), solcher Sagen von
blinden Treff schützen gebe es viele; sie wiesen daraufhin, daß
auch der nordische Hoder unter diesem Gesichtspunkt betrachtet werden
müsse. ^)
') Eb sei hier nur knrz auf die bis ins Detail gehende ÄhnlicLkeit des
Od y 88 e UB - My t hu s (siehe Roschers Lexikon) mit der Teil-Sage hingewiesen.
Auch Odysseus ist ein Tretfschütze, der die Freier seines Weites mit dem Meister-
schuß durch die zwölf Beilöhre besiegt. Auch er tötet mit den anderen Pfeilen, die
er noch zu sich steckt, seine Feinde. Auch die Wasserfahrt (seine Irrfahrt) macht
er, wie Teil, ja er wird sogar (bei der Sireneninsel) au den Mastbaum ge-
bunden, ganz wie Teil auf Geßlers Schiff gebunden daliegt. Auch Odysseus rettet
sich durch seine Geschicklichkeit als einziger aus den Stürmen des Meeres, während
seine Genossen zu Grunde gehen, so daß man von ihm mit dem gleichen Recht wie
Schiller von Teil sagen könnte: „das Steuerruder führt er wie den Bogen." Auch
den Haß zwischen Vater und Sohn betont die Odysseus-Sage, die dadurch für uns
noch interessanter wird, daß sie beide Varianten dieses Komplexes in sich ver-
einigt : Odysseus tötet seinen Sohn Telemachos durch ein Wurfgeschoß (einen Rochen-
Btacbell, wird aber anderseits von Tel egonos, seinem und der Kirko Sohn, unwis-
sentlich getr.tet. Wie Teil eich durch seine geheuchelte Einfalt unverdächtig zu
Der blinde Treffschütze. 115
Ein Versuch, die seltsame mythologische Figur vom „blinden
Treffschützen" zu erklären, führt zu einer weiteren Wurzel der
Schill ersehen Teil-Dichtung. Wir müssen uns dazu eines Gesichts-
punktes bedienen, den ein Wiener Arzt, Dr. Alfred Adler, in seiner
„Studie über die Minderwertigkeit von Organen" (Wien und
Berlin 1907) in die Biologie eingeführt hat. Er behauptet dort
unter anderem, daß jeder überwertigen Leistung eines Organs eine
ursprüngliche Minderwertigkeit desselben zu Grunde liege, die durch
einen kompensatorischen Ausgleich anderer Organe oder des Zentral-
nervensystems zur Überwertigkeit geführt hat. Er führt zum Beweis
für diesen Grundsatz neben einer Reihe von Krankengeschichten auch
einige klassische Beispiele aus der Geschichte an, unter anderen des
stotternden Demosthenes Beredsamkeit und Beethovens Taub-
heit. Unser blinder Treffschütze nun mutet gewiß kaum seltsamer an, als
der taube Musikgenius. Der Mythus kann natürlich, da er sich nicht
auf biologische Probleme einläßt, sondern die Zusammenhänge intuitiv
erfaßt, die ursprüngliche Minderwertigkeit des Auges beim Treffschützen
nicht besser darstellen, als durch seine gleichzeitige Blindheit.
Durch diese Gleichzeitigkeit, welche die Figur so seltsam macht, drückt
eben der Mythus die Kausalität aus, den Zusammenhang der Augen-
minderwertigkeit mit der Treffsicherheit. Neben der direkten über-
wertigen Betätigung beim Auge, also etwa als Kunstschütze oder
Maler, führt Adler noch als Wirkung des jeweiligen minderwertigen
Organs die bestimmende Ausprägung gewisser Charakterzüge an, die
sich im psycho-motorischen Überbau des betreffenden Organs finden.
Im Sinne eines solchen dominierenden minderwertigen Organs wird
dieses Individuum dann die Außenwelt und alle ihre Erscheinungen
auffassen, wird immer die Seite betonen, die diesem Organ nahe liegt,
wird Gleichnisse und Bilder aus seiner Sphäre gebrauchen.
Nun finden sich im „Wilhelm Teil" gewisse Anklänge an
die Blindheit des Treffschützen, die, ohne daß Schiller von diesen
Mythen Kenntnis gehabt haben mußte, aus seiner eigenen Psyche ge-
schöpft sein können. Rudolf der Harras schlägt nämlich dem Knaben
Teils vor, sich die Augen verbinden zu lassen:
machen sacht („War' ich besonnen, hieß ich nicht der Teil"), so verstellt sich auch
der klage Odysseus sehr häufig. Er sucht sich durch verstellten Wahnsinn
der Teilnahme am trojanischen Kriege zu entziehen, indem er mit einem Ochsen
and einem Pferd pflügt. Aber der noch schlauere Palamedes weiß ihn zu über-
listen, indem er ihm den kleinen Telemachos, des Odysseus Söhnchen, vor den
Pflug legt, um so die Echtheit seines Wahnsinns zu erproben. Diese Versuchung,
seinen eigenen Knaben zu töten, erinnert auffallend an den Tellschuß auf das eigene
Söhnchen, wie anderseits das Pflügen mit den Ochsen in der Melchthal-Episode
wiederkehrt. Auch die Blendung, die an Melchthals Vafer vollzogen wird, findet
sich in der Odysseus-Sage, nur in anderem Zusammenhang, wieder; sie wird von
Odysseus an dem einäugigen Polyphem vollzogen; als ein merkwürdiges Zusammen-
treffen sei endlich die Bemerkung Leßmanns angeführt, daß auch Kaiser Albrecht
einäugig war.
8*
llß III. Die Inzostphantasie boi Schiller.
Walter Teil: Warum die Augen? Denket Ihr, ich fllrchte
Den Pfeil von Vaters Hand? Ich will ihn fest
Erwarten und nieht zucken mit den Wimpern.
Da uns die sekundäre Umkehrun^ der ganzen »Schußszene schoD
bekannt ist, wird es uns niclit wundern, auch die „Blindheit" hier
vum Schützen auf das Ziel übertragen zu sehen. Aber auch bei Teil
selbst fehlt die Andeutung nicht; der Älann, der sich seines „sicheren
Blickes rühmt", läßt im entscheidenden Moment „die Armbrust
sinken" und ruft aus:
Mir schwimmt es vor den Augen !
Noch eine Anspielung darauf, daß der Schuß eigentlich „blind"
abgegeben wird, wäre vielleicht in einer Bemerkung Geßlers zu sehen,
mit der er den Teil anfeuert :
Du liebst das Seltsame — drum hab ich jetzt
Ein eigen Wagstiick für dich ausgesucht.
Ein andrer wohl bedächte sich — du drückst
Die Augen zu, und greifst es herzhaft an.
Und wie unbewußte Ironie klingt es, wenn Berta unmittelbar
darauf sagt:
Scherzt nicht, o Herr, mit diesen armen Leuten.
In diesem Zusammenhang wird uns eine weitere Bedeutung
der Melchthal-Episode von der Blendung des Vaters verständlich,
aber auch ihre tiefere Beziehung zum Haß und der Rache am Vater.
Melchthal, der sich gegen den Landvogt vergangen hat, flieht ; der
Tyrann hält sich am Vater schadlos, den er blendet und seines Eigen-
tums beraubt (ebenso ergeht es Gloster in Shakespeares „König
Lear'*); so gibt eigentlich der Sohn das Leben des Vaters preis ^):
•) Ähnlich soll in Grillparze rs „Köuig Ottokar" der Vater Meren-
berg für den Sohn büßen. Diese Einkleidung der Rachcgefühle in das Motiv
der Geisel findet sich in Lessin gs „Philotas", in Shakespeares: „Richard III. ",
wo Stanley seinen Sohn George als Geisel bei Hiebard zurückläßt und auch ( pfert.
Ahnlich schickt Kroisos seinen Sohn unbedenklich auf die Jagd, obwohl ihm dessen
Tod geweissagt ist. Mit dem Motiv der Geisel ist eng verknüpft das Motiv des
Gelübdes, welches die gleiche Tendenz, die Üurchsetiiung feindseliger Kegungen
unter dem Anschein des Zwanges bezweckt. Es sei hier ein englisches Volksmär-
chen: TheLambton Worm genannt (Jacobs: More Englisch Fairy Tales Nr. 85)
Jung Lambton, der zum Kampf gegen ein Ungeheuer auszieht, gelobt für den Fall,
daß er siegt, das erste Wesen, das ihm auf der Rückkehr vom Kampfplatz begeg-
net, zu töten. Er ordnet darum an, daß ihm sein Hund entgegengeschickt werde,
aber der Befehl wird vergessen und so tritt ihm als erster sein Vater entgegen.
Hier würde klar, daß das bekämpfte und besiegte Ungeheuer (als dessen Ersatz
auch der Hund erscheint) eigentlich mit dem Vater identisch ist, wenn nicht das
Märchen hier bereits eine Abschwächung erfahren hätte. Jung Lambton lötet näm-
lich den Vater {;egen das Gelübde doch nicht, sondern opfert dafür den Hund, ver-
fällt aber dem Fluche, daß in seiner Familie durch 3X3 Generationen keiner in seinem
Bette stirbt. — Vgl. ein ähnliches Gelübde bei dem biblischen Jephtha, der seine
Tochter opfert, wie Abraham seinen Sohn Isaak (Tierersatz) und Agamemnon die
Iphigen i e (Ticrersatz). Auch an die Geschichte der Hora tier ist zu erinnern, wo der
aus dem Kampf siegreich heimkehrende Bruder — allerdings ohne jedes Gelübde —
die den Sieg über ihren Bräutigam betrauernde Schwester, die ihm zuerst entgegen-
Die Telldichtung als Vaterhaß-Symphonie. 117
Melchthal. Um meiner Schuld, um meines Frevels Willen!
In dieser Anschuldigung des Sohnes, wie überhaupt hinter
solchen Selbstvorwürfen, offenbart sich der im Unbewußten verbor-
gene Wunsch, dem Vater diese Schädigung zuzufügen. Und ähnlich
wie der junge Melchthal, um sein Leben zu retten, den Vater opfert,
so schießt auch Teil, unter dem Zwang des Landvogts, auf seinen
Sohn. Dieser Zwang soll in beiden Fällen die feindseligen Gefühle
bewußt motivieren und rechtfertigen.
So enthüllt sich uns also die Melchthal-Episode auch als eine
mit negativem Vorzeichen (Abwehr) auftretende Modulation des-
selben Grundthemas, der Rache am Vater, wie es die Parricida-Szene
am deutlichsten, die Teil-Handlung ganz verhüllt und die Attinghausen-
Episode (die Auflehnung des Neffen Rudenz beschleunigt den Tod
des sterbenskranken Oheims) sehr abgeschwächt durchführt. Man
könnte in diesem Sinne die Tell-Dichtuug Schillers als eine gewaltige
Vaterhaß-Symphonie auffassen, in der das Grundthema in vier ver-
schiedenen Variationen nebeneinander fugenartig durchgeführt und in
einzelnen Gestaltungen durch den psychischen Augenüberbau spezifisch
gefärbt erscheint. Die individuelle Wurzel dieses Überbaues, des Seh-
komplexes, läßt sich bei Schiller leicht in einer Minderwertigkeit
seines Sehapparats nachweisen. Schon der Knabe blinzelte heftig
mit den Augen, wie sein Freund Streicher (Schillers Flucht, S. 63)
bei der Schilderung des 21jährigen Karlschülers ausdrücklich
hervorhebt: ,, die rötlichen Haare — die gegenein-
ander sich neigenden Knie, das schnelle Blinzeln der Augen,
wenn er lebhaft opponierte, . . . .". Auf Grund dieser Tatsache ge-
winnt der Ausruf von Teils Knaben, er wolle nicht mit den Wimpern
zucken, erhöhte B edeutung und ein tieferes Verständnis ; es klingt
fast wie die Reminiszenz an Versuche des kleinen Schiller, sich diesen
Kinderfehler abzugewöhnen. Später litt er an Entzündungen der
Augenlider (Jonas, Bd. 2, Anmkg. S. 441) und bezeichnet sich selbst
als kurzsichtig in einem Billett an seine spätere Frau (vom 27. Mai
1788), wo es heißt: „Punkt sechs hoffe ich am Wasser zu seyn, vor-
ausgesetzt, daß Sie dasjenige meinen, an dem ich vorbei muß, denn
sonst würde ich Sie mit meinem kurzen Gesicht wohl etwas
lange suchen müssen.'"^) Bemerkenswert ist, daß Schiller trotz dieser
Mängel selbst ein passionierter Schütze war. Schon in Bauerbach
freute er sich auf das Schießen eines Raubvogels (Brief vom 1. Febr.
1783), und in einem Schreiben an Streicher (14. Jänner 1783) ist er
enthusiasmiert : „Ich soll mit meinem Wrmb diesen Winter auf sein
kommt, tötet. (Livius I, 29) — Auch Theseus tötet dadurch, daß er die mit seinem
Vater getroffene Verabredung vergißt, diesen — wenn auch unwissentlicb,
^) Vgl. auch Karl Bauer: Schillers äußere Erscheinung (Marb. Schillerb. III),
der von Schillers kranken, rotumgrenzten, kurzsichtigen Augen spricht und von
deren häufigem und schnellem Blinzeln.
118 III. Die Inzestphantasie bei Schiller.
Gut, ein Dorf im ThUriiif^fer Walde, dort ganz mir selbst und — der
Freundschaft leben, und was das beste ist, schießen lernen,
denn mein Freund hat dort hohe Jagd."*) Ein seltener Zufall läßt
diese Organminderwertigkeit bei Schiller als hereditiire erweisen. Der
uralte Name Schiller, der seinen Vorfahren beigelegt wurde, deutet
direkt auf eine Minderwertigkeit des Sehapparats hin, denn die neuere
Forschung läßt ihn den Vorfahren vom „schielen" beigelegt wer-
den.-) Welche organischen Kräfte und psychischen Wandlungen
wirksiim waren, um auf den schielenden Urahn den Sänger des be-
geisterten Hymnus auf das Augenlicht (Melchthals Monolog) folgen zu
lassen,^) können wir nur in stummer Bewunderung ahnen.
So erscheint es begreiflich, daß der Stoff zu Wilhelm Teil
den Dichter mächtig anziehen mußte,*) da er ihm Gelegenheit zu
so erschöpfender und zugleich verhüllter Darstellung des Vaterhasses
mit Betonung des AugenUberbaues bot. Der Einwand aber, daß er
dies alles in den Quellen vorgefunden und nicht selbst erfunden
habe, daß man also daraus nicht auf sein Seelenleben zurtick-
schließen könne, besteht eigentlich — auch für die anderen bisher
ausführlich behandelten Dramen — noch zu recht, und wir haben
nun die Verpflichtung, diese längst fiillige Schuld durch eine psycho-
logische Untersuchung der Bedingungen der Stoff wähl beim Dichter
endlich abzutragen.
') Schiller war es aacb, der den Teil zum Geraßenjäger machte.
^ Siehe Richard Weltrichs Schillerbiographie S. 326 und desselben Autors:
Schillers Ahnen (Weimar, Bohlaus Nachf.). — Schillers ältester Sohn Karl war
übrigens Oberförster, während ein Enkel des Dichters, Heinrich Ludwig v. Glei-
chen-Rußwurm als Maler vor wenigen Jahren in Weimar starb.
^) Das älteste von Schiller erhaltene Gedicht, das er als erste poetische Lei-
stung in seinem 14. Lebensjahr verfaßte, war betitelt: An die Sonne (Marb. Schillerb.
III, S. 54) und preist deren alles überschauende, alles überdauernde Macht.
*) Anfangs war er widerwillig zu dem Stoff gedrängt worden (22. April 1803),
befreundete eich aber rasch damit bis zur Begeisterung (siebe die folgenden Briefe).
IV.
Das Stiefmutter-Thema.
Zur Psychologie der Stoffwahl.
Königin: Auf mich, auf Ihre Mutter hofifen Sie ?
Carlos: Auf meines Vaters Frau.
Schillers Thalia.
Die Gestalt der „Stiefmutter" hat sich bei der psycho-
logischen Betrachtung von Schillers „Don Carlos" als ein Kom-
promißausdruck zwischen der Liebesneigung zur leiblichen Mutter
und der Abwehr dieser verpönten Leidenschaft enthüllt.^) Die innere
Auflehnung gegen die inzestuöse Liebesphantasie bewirkt zunächst die
Aufhebung des leiblichen Verwandtschaftsverhältnisses, aber nur so
weit, daß die ursprüngliche Neigung zur Mutter noch insofern zur
Geltung kommt, als deren Ersatzperson, die Stiefmutter, ebenfalls die
Gattin des Vaters ist. Die Stiefmutter ist also gleichsam die nicht
leibliche „Mutter", deren Liebe zum Sohn nicht mehr blutschänderisch
ist, aber doch die Ansprüche des Vaters verletzt und den Neben-
buhlerhaß gerechtfertigt erscheinen läßt. Nicht zuletzt ist die Stief-
mutterliebe durch den Wunsch des Sohnes bestimmt, den Altersunter-
schied zwischen seiner eigenen Person und der Mutter auszugleichen,
indem er sich eine jüngere Mutter schafft. Die dadurch hergestellte
Altersharmonie wird in der Regel so angedeutet, daß die (Stief-) Mutter
ursprünglich die Braut des Sohnes war, die ihm vom Vater wegge-
nommen wurde. ^) Diese Tendenz zur Verjüngung der Mutter entstammt
jedoch, ebensowenig wie die andern Bedingungen der Stiefmutter-
Phantasie, nicht etwa einer bewußten Erwägung, daß die Mutter zum
Liebesgenuß bereits zu alt sei, sondern spiegelt nur das Festhalten der
Phantasie an den ursprünglich lustbetonten Erinnerungen der Kind-
heit wieder, wo dem Knaben die Mutter als junge schöne Frau und
der Vater als allgewaltiger mächtiger Mann erschienen waren.
^) Eine andere besonders für die Märchenbildung charakteristische Wurzel
der Stiefmuttergestalt wird bei Besprechung der Neigung zwischen Vater und Tochter
(Kap. XI) Erwähnung finden.
*) „Don Carlos" III, 3. Alba zum König: „Dem Prinzen starb eine Braut JR
seiner jungen Mutter,"
120 IV. Das Stiefmutter-Thema,
Je nachdem nun der Dichter, seiner seelischen Verfassung gemäß,
die Abwehr der inzestuösen Leidenschaft in den Sohn oder in die
Mutter verlegt, kann man zwei typische Abwandlungen des Stiefmutter-
Themas unterscheiden. Die eine, welche die leidenschaftliche aber
aussichtslose Liebe des Sohnes darstellt, wollen wir nach dem für uns
bedeutsamsten Vertreter dieser Gruppe das Carlos-Schema nennen,
wahrend wir die andere^ welche die heftige Liebe der Mutter bei ab-
lehnender Haltung des Sohnes behandelt, als Phädra-Öchema be-
zeichnen können. Diese Bezeichnungen sind im Hinblick darauf ge-
wählt, daß es innerhalb dieser beiden Schemata, welche die leiden-
schaftliche Liebe zwischen Stiefmutter und Stiefsohn in der verschie-
denen Akzentuierung von Zu- und Abneigung behandeln, vornehmlich
diese beiden Stoffe, die Carlos- und die Phädra-Fabel sind, welche die
Dichter immer wieder zu neuer Darstellung verlocken. Ein Versuch
zur Erklärung dieser auffälligen Tatsache bringt uns wieder dem
Problem der Wahl eines überlieferten Stoffes nahe, zu dessen Lösung
sich von hier aus ein Zugang darzubieten scheint.
Die scheinbar keiner Erklärung bedürftige, aber doch so selt-
same Tatsache, daß eine Reihe bedeutender Dichter oft Jahrhunderte
hindurch nicht müde wird, denselben Stoff mit immer neuen Wir-
kungsmöglichkeiten zu behandeln, ist psychologisch tief begründet.
Die vieldeutige Bestimmtheit, die alle höheren seelischen Leistungen
kennzeichnet und die wir auch am Stiefmutter-Thema studieren konnten,
läßt es begreiflich erscheinen, daß es nicht ohne weiteres jedem gelingt,
den beträchtlichen Aufwand an seelischer Energie, gleichsam an unbe-
wußtem Geist, aufzubringen, der zur Schöpfung eines solchen Kom-
promißausdruckes erforderlich ist. Der Dichter, dessen literarisches
und historisches Interesse — ebenso wie das Wohlgefallen des Zu-
schauers — von seiner seelischen Konstellation bestimmt ist, wird eine
solche Kompromißidee, wenn er irgendwo auf sie stößt, freudig auf-
nehmen, da sie ja zur Schlichtung seiner inneren Konflikte zwischen
den Wünschen uud ihrer Abwehr wie gerufen kommt. Diese Über-
nahme und Weitergabe einer hochkomplizierten und charakteristischen
seelischen Leistung dürfen wir uns aber keineswegs äußerlich vor-
stellen wie etwa der Literarhistoriker oder so oberflächlich wie selbst
der Dichter. Der Dichter eignet sich nur etwas an, w^as seinem
innersten Empfinden entgegenkommt, er muß zur Aufnahme eines
Stoffes im wahren Sinne prädisponiert sein. Aber auch dann über-
nimmt er, entweder von einem Vorgänger oder aus der gemeinsamen
Quelle, das Motiv nicht bloß, sondern er eignet es sich psy-
chisch an, verleibt es sich gleichsam ein und macht es so zu seinem
seelischen Eigentum. Er übernimmt nicht bloß das fertige Schema,
sondern er modifiziert es seiner Individualität und dem Empfinden der
Zeit entsprechend in einzelnen Punkten, er belebt die vorgebildete
Form und den gegebenen Inhalt von neuem aus seinen eigenen Mitteln :
er erfüllt gleichsam die überlieferten Vorstellungsformen mit seinen
Die psychische ,, Aneignung" überlieferter Stofife. 121
eigenen Affekten^) und schafft so das lebendige, eindrucksvolle Kunst-
werk. Dies gelingt ihm, wie wir annehmen dürfen, indem er sein
Tun sexualisiert, wodurch er die für den Schöpfungsakt erforderliche
Leidenschaft aufbringt. Den komplizierten Prozeß der Aneignung
eines Stoffes oder einer dichterischen Idee vermag man sich nur
durch sein pathologisches Analogon beim Hysteriker klar zu machen,
wo wir in denselben, nur riesig vergröberten Mechanismus Ein-
blick gCAvinnen. Die „Nachahmung" von Symptomen ist eine bei
Hysterikern bekannte Erscheinung ; sie geht so weit, daß in An-
stalten oft alle Zimmergenossen eines Patienten eines seiner Sym-
ptome annehmen. Den Forschungen Freuds verdanken wir die
Erkenntnis, daß es sich dabei keineswegs um eine bloße Nach-
ahmung, vielmehr um eine „Aneignung" handelt, der ein gleicher
ätiologischer Anspruch zu Grunde liegt (Traumdeutung S. 104), Ahn-
lich verhält es sich nun mit der Aneignung literarisch überlieferter
Stoffe durch den Dichter, von dem wir zeigen konnten, daß er sich
nicht, im Sinne Goethes, lediglich aktuelle Konflikte vom Halse
schafft, sie psychisch abreagiert, sondern diese selbst immer wieder auf
Grund seiner infantilen Fixierungen produzieren muß, wenn sie auch
notwendig in der Realität niemals zur völligen Auflösung gelangen
können und ihn zur Befriedigung auf sein unbewußtes Phantasieleben
zurückverweisen. Es ist darum auch, wie wir Aveiters dargetan haben,
psychologisch verfehlt, für jede dichterische Motivgestaltung nach dem
entsprechenden realen Erleben suchen zu wollen, da es sich ja um
Phantasieprodakte handelt, zu denen die Erlebnisse nur ein der weitest-
gehenden Verarbeitung unterworfenes Rohmaterial darbieten. Schafft
also der Dramatiker nach inneren Erlebnissen und nicht nach äußeren,
die oft selbst durch die inneren bestimmt sind, so wird es begreiflich, daß
er auf Grund dieser „gleichen ätiologischen Ansprüche" im Seelen-
leben nach solchen ihm von außen gebotenen Konstellationen greifen
muß, wenn sie seiner psychischen Einstellung entsprechen. In unse-
rem besonderen Fall wäre der gemeinsame ätiologische Anspruch die
im unbewußten Gefühlsleben fixierte inzestuöse Neigung der Dichter,
die von den Abwehrregungen in der geschilderten Weise beeinflußt,
sich das Stiefmutter-Thema als entsprechende Ausdrucksmöglichkeit
aneignet. Der „unbestimmte Drang nach Ergießung (ganz bestimmter)
strebender Gefühle" (Schiller an Körner, 2b. Mai 1792) läßt den
Dichter vor allem die Form suchen und festhalten, die diesen
unter der Einwirkung von Abwehrregungen stehenden Gefühlen
den vollkommensten Ausdruck gestattet. Daß er diese vorbildliche
Form mit so auffallender Häufigkeit in den Schöpfungen früherer
Dichter sucht und findet, entspricht ganz den Annahmen, die wir
über die Uniformität des künstlerischen Seelenlebens postulieren mußten.
Als einen Ausdruck derselben müssen Avir eben den erstaunlichen
^) Welche Akzentverschiebungen dabei im Sinne der Verdrängung wirksam
werden, wurde schon an einzelnen Beispielen ausgeführt (z. B. am „Teil").
122 IV. Das Stiefmntter-Thoma.
Konservativismus der künstlerischen Motive und Formen betrachten,
der sich nicht etwa nur in unserer neuzeitlichen Dichtkunst, sondern
vielleicht in noch höiiereni ]\Iaße in der bildenden Kunst der Antike
zeio^t, wo eine ^erin<^e Anzahl künstlerischer Motive und Formen
jahrhundertelang^ mit kaum wesentlichen Modifikationen immer wieder
Verwertuno^ finden. Nur wenigen, ganz bedeutenden Dichtern ist es
gegeben, ihren Gefühlen auch in ganz eigenen selbstgeschafFenen For-
men einen wirksamen xVusdruck zu verleihen. Die Mehrzahl der an-
deren Dichter scheidet sich, von diesem Standpunkt angesehen, in
zwei Gruppen : in eine, die uns hier vornehmlich beschäftigt, deren
Vertreter sich an literarisch überlieferte Stoffe und Formen anschließt,
die „ Aneigner '^, deren persönlicher Anteil hinter dem Stoffinteresse
und den Formproblemen fast ganz zurücktritt, die gleichsam von
objektiven Anregungen auszugehen scheinen ; dieser Gruppe gehören
viele hervorragende und infolge der Verwertung erprobter Sujets sehr
volkstümlich gewordene Dichtungen an. Die zweite Gruppe betrifft
Dichter, deren Gefühlsleben eher nach selbständiger Gestaltung der
künstlerischen Ausdrucksformen drängt, die aber außer Stande sind,
ihre persönlichen seelischen Schicksale in allgemein-menschliche auf-
zulösen. Demonstriert uns die erste Gruppe die Abhängigkeit schein-
bar rein literarhistorischer Zusammenhänge von psychischen Bedürf-
nissen der Dichter, so lehrt uns die zweite Gruppe das Schicksal der
zahlreichen „verkannten" Dramatiker verstehen, die in mehr oder
minder aufdringlicher Weise immer nur sich selbst und niemals das
Problem schildern, weil es ihnen an der — nicht intellektuellen, sondern
psychischen — Fähigkeit mangelt, ihren Phantasieprodukten den letzten
allgemein menschlichen, dabei aber doch genügend idealisierten Aus-
druck zu geben, der sie erst sozial wertvoll macht. Für die psycho-
logische Ausbeute sind diese Dichter und ihre Schöpfungen (ich ver-
weise auf Otto Ludwig, Grabbe, u. a.) natürlich ebenso wertvoll "wie
die Werke der anerkannten Größen, vor denen sie noch eine gewisse
Offenherzigkeit voraus haben. Auch erleichtern sie uns das rein
menschliche Verständnis der überragenden Dichterwerke und in diesem
Sinne sind sie mit den ersten Entwürfen, deren Psychologie wir schon
erörtert haben, in eine Linie zu stellen : es sind gewissermaßen solche
erste Entwürfe, zu deren ausgeglichener Vollendung es jedoch nie
kommen kann. Auch der große Dichter geht, wie die Entwürfe
und Fragmente zeigten, von solchen persönlichen Interessen und
Problemen aus, aber er überwindet sie schließlich im Laufe der Aus-
arbeitung, indem er sie in allgemein-menschliche auflöst, eine Sub-
limierung, die dem subjektiven Dichter nicht gelingt. Wir merken
hier, daß wir diese Subjektivität als einen neurotischen Charakterzug
verstehen müssen und daß wir vom psychologischen Standpunkt kein
Recht und noch weniger einen Grund haben, eine Qualifikation der
dichterischen Leistungen vorzunehmen, die nur im Sinne der sozialen
Wertigkeit eine Berechtigung haben kann. Ja, wir müssen sogar noch
Die Stoffwahl ist keine „Wahl". 123
einen Schritt weiter gehen. In der Einleitung wurde als ein Ergebnis
unserer Untersuchung hervorgehoben, daß sich das Inzestmotiv bei
den bedeutendsten Dichtern der Weltliteratur finde und daraus die
Berechtigung abgeleitet, es in den Mittelpunkt dieser psychologischen
Untersuchung zu stellen. Es erklärt sich dies daraus, daß die Werke
dieser Dichter eben in das Gefühlsleben und in den geistigen Besitz
des Volkes übergingen, weil sie es vermochten, diese allgemein mensch-
lichen Motive in einer allgemein zugänglichen und wirksamen Form
darzustellen. Natürlich greift der Dichter oft genug auch voll bewußt
nach alten bewährten Stoffen; aber diese Stoffe haben sich eben
in bezug auf ihre durchgreifende Wirkung bewährt, die ihnen nur
durch eine allgemein-menschliche und formvollendete dichterische
Gestaltung ermöglicht worden war. Dieser soziale Charakterzug ist es,
der die Wertigkeit der dichterischen Leistung bestimmt und der den
Dichter zum gefeierten Nationalheros erhebt, während die lediglich
auf einen kleinen Kreis besonderer Menschen wirkende Leistung des
subjektiven Dichters mißachtet, bespöttelt, bald vergessen und — ähnlich
wie das antisoziale Verhalten des Neurotikers — durch Ausschaltung aus
dem jeweiligen Kulturkreis beantwortet wird.
Interessant ist die Stellung, die Schiller, gewiß der populärste
Dichter des deutschen Volkes, zu den beiden charakterisierten Arten
poetischer Schöpfung, der freien Erfindung und der Verwertung von Über-
lieferungen, einimmt. So schreibt er am 5. Januar 1798 an Goethe : „Ich
werde es mir gesagt sein lassen, keine andere als historische Stoffe zu
wählen, frey erfundene würden meine Klippe sein. Es ist eine ganz andere
Operation, das realistische zu idealisieren, als das ideale zu realisieren
und letzteres ist der eigentliche Fall bei freien Fiktionen. Es steht in
meinem Vermögen, eine gegebene bestimmte und beschränkte Mate-
rie zu beleben, zu erwärmen und gleichsam aufquellen zu
machen, während daß die objektive Bestimmtheit eines solchen Stoffes
meine Phantasie zügelt und meiner Willkühr widersteht". Daß sich aber
Schiller auch die Verwertung historisch überlieferter Stoffe im Sinne
einer persönlichen Aneignung dachte, geht aus einer anderen Stelle seines
Briefwechsels mit dem Dichterfreunde hervor. Im Jahre 1799, als er sich
mit Goethe über den Stoff des „Warbeck" bespricht, schreibt er an diesen :
„Überhaupt glaube ich, daß man wohl tun würde, immer nur die all-
gemeine Situation, die Zeit und die Personen aus der Geschichte zu
nehmen und alles übrige poetisch frey zu erfinden, wodurch eine mittlere
Gattung von Stoffen entstünde, welche die Vorteile des historischen Dramas
mit dem erdichteten vereinigte."
In ähnlich freier Weise haben ja tatsächlich die bedeutendsten
Dichter mit der historischen Überlieferung geschaltet und die Bedin-
gungen dieser Arbeitsweise erklären uns vielleicht zum Teil die mäch-
tige Wirkung, welche diese Dichtungen erzielten. Wie das gemeint
ist, zeigt am besten der Unterschied bei der Verarbeitung eines be-
reits literarisch vorgebildeten Stoffes oder der ihm zu Grunde liegenden
124 1V\ Das Stiefmutter-Thema.
historischen Begebenheiten. Wendet sich der Dichter auf der Suche
nach einer passenden Form für die Ergießung seiner GefUlile einem
literarisch überlieferten Sti)ft" zu (etwa der Carlos- oder Phädra-Fabel), so
hat er eine verhältnismäßig geringe seelische Arbeit zu leisten : die
Anknüpfung seines eigenen Gefühlslebens geht leicht von statten, da nicht
nur der 8totf den unbewußten Phantasien ents))rechend gewählt wurde,
sondern auch die Formung, die er von früheren Bearbeitern erfahren
hat, künstlerischer Empfindung und Wirkung bereits angepaßt ist.
Anders ist es mit der Wahl eines geschichtlichen Stoffes, der noch
nie dichterisch verwertet wurde. Historische Ereignisse, die Umwäl-
zungen realer Lebensverhältnisse herbeiführten, pflegen der anspruchs-
vollen und üppigen dichterischen Phantasie nicht so zu entsprechen;
der Dichter findet hier neben dem Motiv, daß sein Interesse zunächst
fesselte, noch eine Menge anderen Materials, dem er fremd gegen-
übersteht.') Aber gerade dieses unpersönliche Element kommt, wie sich
besonders im dichterischen Schaffen Schillers zeigte (Don Carlos, Maria
Stuart, Wilhelm Teil) der Abwehrtendenz zu gute, die nach Verhüllung
der persönlichen Komplexe strebt. Natürlich treten bei diesen Stoffen,
welche den Wunsch komplexen des Dichters minder entsprechen, jedoch
der verstärkten Abwehr zu gute kommen, bedeutende Affektverschic-
bungen ein, wie besonders an der Teil-Dichtung und in „IMaria Stuart"
gezeigt werden konnte. Aber auch die Veränderungen, die der Dichter
an überlieferten Stoffen vornimmt, haben wir als psychisch wohl mo-
tivierte Äußerungen verstehen gelernt. Von einem solchen Standpunkt
erscheint es erst gerechtfertigt, daß wir bei der Analyse der drama-
tischen Schöpfungen keinen Unterschied zwischen der frei erfundenen
Fabel und dem historisch überlieferten Stoff machten : denn beide
verraten uns auf ihre Art das innerste Empfinden des Dichters, das
sich über alle Überlieferung hinweg und durch alle historischen Ko-
stüme hindurch immer wieder in mächtiger aflfektiver Betonung durch-
zusetzen weiß.
In ähnlichem Sinne erkennt auch Lessing keinen prinzipiellen
Unterschied zwischen einer historisch überlieferten und einer frei erfun-
denen Fabel an : .,Nun hat es Aristoteles längst entschieden, wie weit sich
der tragische Dichter um die liistorische Wahrheit zu bekümmern habe;
nicht weiter, als sie einer wohleingerichteten Fabel ähnlich ist, mit der er
seine Absichten verbinden kann. Er braucht eine Geschichte nicht darum,
weil sie geschehen ist, sondern darum, weil sie so ge-
schehen ist, daß er sie schwerlich zu seinem gegenwär-
tigen Zwecke besser erdichten könnte." (Hamburgische Drama-
turgie, 19 Stück, 3. Juli 1767.) Ganz ähnlich drückt sich Schiller
') So begründet S c h i 11 e r die Verzögerung des I. Aktes der ,.Maria Stuart" ; „weil
ich den poetischen Kampf mit dem historischen Stoft' darin bestehen mußte und Mühe
brauchte, der Phantasie eine Freiheit über die Geschichte zu verschaflfen, indem ich
zugleich von allem was diese Brauchbares hat Besitz zu nehmen suche" (An Goethe
19. VII. 1709),
Die Identifizierung mit dem Helden. 125
über den Charakter des „Meister" gegen Goethe aus: „ich kann nicht
genug sagen, wie glücklich der Charakter des Helden von ihnen gewählt
worden ist, wenn sich so etwas wählen ließe" (S. VH, 96.) Und mit
psychoanalytischem Scharfblick beklagt sich Hebbel darüber, daß „ . . .
selbst einsichtige Männer nicht aufhören, mit dem Dichter über die Wahl
seiner Stoffe, wie sie es nennen, zu hadern^ und dadurch zeigen, daß sie
sich das Schaffen, de ss en er stes Stadium, da s e m pf angende,
doch tief unter dem Bewußtsein liegt und zuweilen in die
dunkelste Ferne der Kindheit zurückfällt, immer als ein,
wenn auch veredeltes Machen vorstellen, und daß sie in das geistige Ge-
bären eine Willkür verlegen, die sie dem leiblichen . . . gewiß nicht
zusprechen würden . . . dem Dichter dagegen muß man verzeihen, wenn
er es nicht trifft, er hat keine Wahl, er hat nicht einmal die Wahl, ob
er ein Werk überhaupt hervorbringen will oder nicht. (Vorwort zur Maria
Magdalena", 1844.)
Machen uns die Modifikationen, die der Dichter am überlieferten
Material vornimmt, darauf aufmerksam, daß es sich außer dem Was,
der eigentlichen StofFwahl, auch noch um das Wie, das wesentlich
in der Formgebung liegt, handelt, so erfordert es unser auf die gröb-
sten Umrißlinien eingestellte Standpunkt, noch einen wesentlichen psy-
chologischen Anteil bei der StofFwahl hervorzuheben. Die An-
knüpfung an ein Gegebenes erleichtert dem Dichter die hem-
mungslose Ergießung seiner Gefühle in eine überlieferte Form un-
gemein, indem sie ihn durch aufdringliche Betonung historischer Inter-
essen und ästhetischer Probleme in eine ähnlich lustvolle Situation
wie den Zuschauer bringt. Sie bietet ihm aber damit, wie wir gerade
am Inzestthema überdeutlich ersehen, eigentlich eine bei weitem lust-
vollere Befreiung durch die ästhetisch gerechtfertigte Aufhebung un-
bewußter Verdrängungen.^) Der Dichter findet seine eigenen verpönten
Phantasien und Empfindungen, die er sich, fast möchte man sagen,
auf eigene Verantwortung nicht darzustellen getraut, in dem sei es
mythisch überlieferten, geschichtlich beglaubigten oder dichterisch
dargestellten Helden gerechtfertigt, indem er sich gleichsam unter
Befreiung von einem unbewußten Schuldgefühl darauf berufen darf,
daß nicht er allein zu den Verworl'enen gehöre. Es liegt hier der
bedeutsame psychische Mechanismus der Identifizierung vor,
welcher eine wesentliche Vorbedingung alles künstlerischen Gestaltens ist
und gleichsam die Reversseite des Projektionsmechanismus; denn natur-
gemäß wird sich der Dichter mit jenen Gestalten am ehesten identi-
fizieren können, die er eben aus seinem eigenen Innern, gleichfalls
') Daß der eigentliche Kunstgenuß aus der momentanen Aufhebung innerer
Verdrängungen entspringt, glauben wir auch in Fechners Prinzip der ästhetischen
Kontrastwirkung angedeutet zu finden, nach dem „das Lustgebende um so mehr
Lust gibt, je mehr es in Kontrast mit Unlustgebendem (i. e. im psychoanalytischen
Sinne ehemals selbst Lustgebendem) oder weniger Lustgebendem tritt" und umge-
kehrt das Unlustgebende . . .(II, 231 ff.).
126 IV. Das Stiefmutter-Thema.
zur Rechtfertigung, hinausprojiziert hat.') Die Identifizierung mit dem
von außen gegebeneu historischen Helden gelingt natürlich nur so weit,
als die Kechtiertigungstendenz auf ihre Rechnung kommt, resp. sie
gelingt ganz, wo der Dichter das Fehlende dadurch ersetzt, daß er
dem Helden seine eigenen Empfindungen unterlegt, ohne Rücksicht
darauf, ob sie der historischen Wahrheit voll entsprechen können.-) So
erklärt sich das bei großen Dichtern so häufige freie Schalten mit der
historischen Überlieferung und in diesem Sinne dürfen wir, Schillers
eigenen Ausspruch über sein Verhältnis zu geschichtlichen Stoffen ver-
allgemeinernd, sagen: „Die Geschichte ist überhaupt nur ein Magazin
für meine Phantasie und die Gegenstände müssen sich gefallen lassen,
was sie unter meinen Händen werden" (10. X. 178ö). Soll diese
Rechtfertigung der ursprünglich egozentrischen Phantasie im beglaubigten
Heldenlebeu aber voll gelingen, so braucht der Dichter noch die
Sanktionierung durch das Volksurteil, den Erfolg, der ihm nicht nur
bestätigt, daß ihm seine Rechtfertigung gelungen ist, sondern ihm auch
zeigt, daß außer dem Helden und ihm auch die ganze vom Kunstwerk
ergriffene Menge in der künstlerischen Schöpfung die Rechtfertigung
ihres eigenen unbewußten Empfindens gefunden hat, und diese lust-
volle Befriedigung dem Dichter mit Erfolg, Ruhm, Verehrung, An-
betung lohnt. Der eigentliche, weder dem Empfänger, noch dem Spender
bewußte gegenseitige Lohn ist aber darin gelegen, daß das Volk die
Rechtfertigung des Dichters sanktioniert und ihn so von seinem per-
sönlichen unbewußten Schuldgefühl befreit, welchen Dienst er selbst
zuerst dem Volk durch sein Werk geleistet hatte. Daraus erklärt sich
der Stolz und die Zuversicht, mit der der große Dichter sein Werk
der Menge preisgibt, wie anderseits die intensive Scham, mit der der
Dilettant seine Dichtungen geheim hält, aus ihrem antisozialen Ur-
sprung und Charakter verständlich wird.
A. Das Carlos-Schema.
1. Carlos-Dramen.
Die Fabel des „Don Carlos" ist bekanntlich historisch überlie-
fert, Avenn auch nicht in der Gestaltung, wie sie uns durch die dich-
terischen Behandlungen dieses Stoffes geläufig ist. So ist vor allem
nicht erwiesen, daß Carlos die dritte Frau seines Vaters, Elisabeth,
liebte, ferner ist nicht sicher, ob er auf ausdrücklichen Wunsch und
Befehl seines Vaters starb. Gewiß ist nur, daß Don Carlos, vermutlich
') Bjron an More (4. Ilf. 1822); „Meine dramatischen Helden mögen mit
mir manchmal durchgehen ; wie alle Männer mit lebhafter Einbildungskraft iden-
tifiziere ich mich natürlich mit meinen Charakteren, während ich sie zeichne, aber
nicht einen Augenblick länger."
^) Die gleiche Kechtfertigung des allgemeinen Volksempfindens im Helden
ist der Schlüssel zum VerEtändnis der M\ thenbildung. Vgl. „Der Mythas von der
Geburt des Helden." S. 81 fg.
Lopes Carlos-Drama. 127
wegen seiner Sympathien mit den Aufständischen, ins Gefängnis ge-
worfen wurde, wo er 1568 starb. Auch hatte der historische Philipp
noch einen zweiten Sohn, der ihm als Philipp der Dritte in der Herr-
schaft folgte.
Unter dem noch frischen Eindruck vom Tod des Kronprinzen
Don Carlos verfaßte schon ein Zeitgenosse Philipps des Zweiten, L o p e
de Vega (1562 bis 1635) ein Drama*. El castigo sin venganza
(Die Strafe ohne Rache). Der Schauplatz der Handlung ist von
Spanien nach Italien verlegt, und die Namen sind mit Rücksicht auf
die damals noch lebenden Mitglieder der kaiserlichen Familie geän-
dert. Manche Literarhistoriker bestreiten übrigens, daß Lope bei der
Abfassung des Dramas an die Vorfälle im Hause Phihpps des Zweiten
gedacht habe. Ich gebe den Inhalt des Stückes nach W. v. Wurz-
bachs Buch über Lope der Vega wieder.
Der Herzog Luis von Ferrara, ein Wüstling, beschließt in vorge-
rücktem Alter die junge Prinzessin von Mantua, Casandra, zu hei-
raten, um einen Thronerben zu bekommen. Er sendet seinen natür-
lichen Sohn Federico der Braut zum Empfang entgegen. Auf der Reise
kommt Federico an einen Fluß, wo er Hilferufe vernimmt; er eilt hinzu
und rettet eine junge Dame a u s dem Wasser, die mit ihrem Wagen
gestiü*zt war. Er verliebt sich sogleich in sie, erfährt aber dann,
daß es seine zukünftige Stiefmutter sei. Nach der Hoch-
zeit vernachläßigt Luis seine junge Gattin, mit der er sein Bett nur ein
einzigesmal geteilt hat. Casandra erblickt darin einen Entscbuldigungsgrund
für ihre wachsende Liebe zu Federico, und als der Herzog in Rom weilt,
bricht sie ihm mit dem Sohn die eheliche Treue, Luis
wird durch einen anonymen Brief aufmerksam gemacht, kehrt zurück und
überzeugt sich durch die Belauschung eines Gesprächs von der
Schuld Casandras. Er läßt sie mit verhülltem Gesicht an einen
Stuhl fesseln und befiehlt seinem Sohn, sie zu töten (Gegensatz zur Ret-
tung), indem er vorgibt, der vermummte Mensch sei ein gefährlicher Staats-
verbrecher. Der Sohn vollführt den Befehl erst nach ahnungsvollem Zögern.
Nach Casandras Tötung wird derPrinz selbst auf Befehl des
Vaters von den Garden niedergestochen.
Lopes frei entfalteter Sinnlichkeit, seinen geringen Sexualhem-
mungen entsprechend, wird hier der Inzest zwischen Stiefmutter und
Sohn, abweichend von jeder historischen und von allen anderen dich-
terischen Überlieferungen, wirklich vollzogen. Aus denselben Gründen
ist das typische Motiv der Brautabnahme durch den Vater hier
umgekehrt: der Sohn versucht, dem Vater die Braut (die Mutter) ab-
wendig zu machen. Mit dieser vollkommenen Wunscherfüllung hängt
dann auch die besondere Schärfe der Strafe (Ausdruck der Abwehr)
zusammen. Den Tod der Mutter von der Hand des Sohnes nach voll-
zogenem Inzest (vgl. Nero) werden wir als höchsten Ausdruck der
Abwehr auch im Mythus öfter wiederfinden. Aber wie der Sohn sich
in die Mutter verliebt, ohne zu wissen, daß es des Vaters Braut ist.
128 IV. Das Stiefmutter-Thema.
so tötet er sie auch, ohne zu wissen, wen er tötet. Diese Unkennt-
lichkeit einer Person ist uns als Ausdruck der Abwehr aus dem
Odipus bekannt und es soll auf ihre psychologischeBedeutung später
eingegangen werden. Ein neues Wunschmotiv, dem auch große Be-
deutung zukommt, ist die Vereinigung der Liebenden in Abwesen-
heit des Vaters; diese Abwesenheit entspricht ganz der Vcjrstel-
lung des Kindes vom Totsein und läßt sich so psychologiscli als der
infantile Ausdruck des Vatermordes auffassen, oder richtiger der Vater-
mord als eine Realisierung des kindlichen Wunsches nach Abwesen-
heit des störenden Konkurrenten (diese infantile Wurzel des Mordes wird
in Kap. V näher besprochen). Von den inzestuösen Neigungen Lopes
soll später noch ausführlich die Rede sein (vgl. Kap. XIX).
Fünfzig Jahre nach dem Tod des Don Carlos machte ihn sein
Landsmann Don Diego da Euciso zum Helden eines Dramas:
Der Prinz Don Carlos. (Aus dem Spanischen übertragen von
A. SchäfFer, Leipzig 1887).^) Auch der englische Dramatiker Thomas
Otway (1651 bis 1685) schrieb im Alter von 25 Jahren eine Tra-
gedy Don Carlos, Prince ofSpain (deutsche Übersetzung
in : Neue Erweiterungen der Erkenntnis und des Vergnügens, Bd. 9,
1757). Auch Otway behandelt, ganz wie Schiller, die
Liebe des Prinzen als blutschänderische, gerade so
als wäreElisabethseineleibliche Mutter. Philipp schil-
dert er als furchtbar eifersüchtigen Tyrannen^). Im Jahre 1685 schrieb
JeanCampistrone, ein Zögling R a c i n e s, ein Carlos-Drama unter
dem Titel Andronice; er verlegt die Handlung vom spanischen
an den byzantinischen Hof.
Andronice. der Sohn des Kaisers von Konstantinopel, wird durch
den Vater seiner Braut beraubt. Er verfällt in Schwermut und
Untätigkeit. Da wenden sicli die unterdrückten Bulgaren an ihn mit der
Bitte um Hilfe. Er schlägt dem Vater vor, ihn nach Bulgarien zu senden,
erweckt aber damit das Mißtrauen des Vaters, der ihm die Reise ver-
bietet. Er beschließt zu fliehen. In einer letzten Unterredung mit der
Kaiserin Ireue, wo er von iln- Abschied nehmen will, wird er vom Vater
überrascht, verhaftet und getötet. Irene wird vergiftet und der König bleibt
vereinsamt zurück.
In seiner Tragödie: Filippo (König Philipp der Zweite) hat
der italienische Dichter Alfieri den Carlos-Stoff behandelt^). Auch
Alfieri beschränkt sich noch auf das reine Familiendrama. In der
Vorrede bemerkt er, er habe sich an die Überlieferung gehalten, die
') Vgl. auch in Minors Bach über Schiller die Carlos-Parallelen.
) Zar Vergleichang siehe J. Lüwenbergs Diss. : Otways und Schillers
Carlos Lippstadt 1886.
^j Auch der flämische Dichter Emile Verhaeren hat jüngst einen
„Philipp II. ■* geschrieben. Desselben Dichters Drama : „Das Kloster" liegt
das Motiv des Vatermordes and der daraus entspringenden Gewissensqualen zu Grande.
(Vgl. Emile Verhaeren. In drei Bänden übersetzt von St. Zweig, Leipzig, Insel-
verlag. Band III, Dramen.)
Alfieri's „Filippo". 129
Philipp als argwöhnisch, heftig, blutdürstig, kurz als den Tiberius
Spaniens darstelle. Bei Don Carlos habe er, den Berichten der meisten
Historiker folgend, die Liebe zu Philipps dritter Frau, Elisabeth, an-
genommen, die zuerst mit Carlos verlobt war, ehe Philipp sie heiratete.
Auch schließe er sich der Ansicht der Schriftsteller an, die behaupten,
Carlos sei auf Befehl seines Vaters getötet worden. Abweichend von
allen historischen Berichten aber lasse er Isabella zugleich mit
Carlos sterben, während sie ihn nach der allgemeinen Ansicht um
einige Monate überlebt habe und eines natürlichen Todes gestorben
sei. Schon Alfieris Wahl gewisser Versionen, ferner die Erweiterun-
gen und Modifikationen, die er an dem überlieferten Stoff vornimmt,
verraten seine individuellen Neigungen. Mit der gesteigerten Abwehr
der Liebe des Sohnes zur Mutter tritt, wie schon die Analyse von
Schillers Don Carlos zeigte, der Vater, das Hindernis, in den
Vordergrund. Bei Alfieri ist eigentlich Philipp, wie auch schon der
Titel andeutet, der Held des Dramas. Den Haß gegen den Vater
projiziert der Sohn nach außen; er glaubt sich vom Vater gehaßt:
Carlos: Ja tiefer weit als alle, die um ihn,
Haßt Philipp mich. — — — — — — ■ —
(Übersetzt von Seubert, Reclam Nr. 874.)
Denn längst hat er in seinem Blutdurstherzen
Den Tod mir zugedacht.
Die Stiefmutter Isabella versucht natürlich vergebens ihm die
Grundlosigkeit dieses Glaubens begreiflich zu machen:
Der Zorn verblendet dich, und einen Haß
Wähnst du in ihm, der nie dort treiben kann.
Aber Carlos ist es ja nur darum zu tun, den eigenen Haß zu
rechtfertigen :
— — — — — — Wahr ist es, daß
Vor ihm ich zittre, doch ich haß ihn nicht.
In dieser Abwehr und Rechtfertigung des eigenen Hasses durch
den Haß des Vaters liegt aber zugleich im psychischen Sinne die
Strafe für seine verbrecherischen Leidenschaften. Die letzte Konse-
quenz dieser Sslbstbestrafungs-(Abwehr-)Tendenz ist das Verlangen
nach der härtesten Strafe, nach dem Tode :
Carlos: Hier, meine Arme biet ich deinen Ketten,
Hier, meine Brust entblöß ich deinem Schwert.
Was zögerst du ?
Gomez, Philipps Vertrauter, sagt zu Isabella, die noch auf
Rettung für Carlos sinnt:
Vergebens ach !
Sein unbezähmbar Herz durch Todeskunde
Hinweg zu schrecken! Nein, ich sehe schon,
Wie er darauf be harrt, zu Grund zu gehn.
Rank, Bas luzestmotiv. 9
13U IV. Das StioifiuntttM- Tlioma.
Diese Selbstbostrafuno^stendeuz führt schließlich bei Carlos zum
Selbstmord. Piiilipi) lilßt Carlos iiud Isaljella, die beiden zum Tod
Bestimmten, zwischen Dolch und Gift wählen. Carlos durchbohrt
sich mit dem Dolch:
— — — - Ich sterbe — folg meinem licispiel!
Zum Becher greife — zögre nicht —
Isabella: Ja wohl !
Ich folge dir. O Tod, du bist mir Lust —
Philipp: 80 sollst du leben wider deinen Willen.
Isabella: Laß mich! schauderhafte Strafe! Wie?
Er stirbt und ich —
An deiner Seite leben?
Es tragen, dich zu sehn? Nein, nie! — ich sterbe!
Nimmst du den Becher mir, so tus dein Dolch.
(Sie entreißt Philipp rasch den Dolch und durchstößt sich.)
Als Ausdruck einer solchen Selbstbestrafungstendenz, die ver-
mutlich bei vielen Selbstmorden mitwirkt, müssen wir auch die
Blendung des Odipus ansehen. Aber der Tod enthält hier neben dem
Strafcharakter die Erfüllung des verbotenen Wunsches: denn das ge-
meinsame Sterben ist auch hier, -wie fast regelmäßig im Phantasie-
leben der Neurotiker und Künstler, ein symbolischer, von schuld-
bewußten Abwehrregungen beeinflußter Ausdruck der sexuellen Ver-
einigung ^).
Das Drama setzt mit der Äußerung von Isabellas Liebe ein :
— — — — — — Als Don Philipps
Untreues Weib wag ich den Sohn zu lieben !
Das gesteht sie sich jedoch nur ungern ein; deim gleich darauf
äußert sich ihre mächtige Abwehr dieser Neigung:
Weh mir, wenn jemals diese Glut vor einem,
Der lebt sich offenbarte! Wehe, wenn
Er je sie ahnte ! — — ■ — ■ — — — — —
*) Die Verknüpfung von Tod und Sexualität ist nur auf sado-masochistischer
Grundlage möglich uud auf Grund der psychoanalytischen Erfahrungen müssen wir
uns diese Vernichtung.slust, welche jedem Mordimpuls zu Grunde liegt, und die wir
uns beim tragischen Dichter in sehr intensiver Sublimierung vorstellen dürfen, in
jeder großen Liebe latent denken. Diese Phantasie des gemeinsamen Sterbens eignet
sich nun besonders zur symbolischen Verkleidung des Inzestwunsclies (vgl. Hamlet),
der ja an das Geheimnis von Zeugung uud Geburt rührt und im Leben meist un-
realisierbar ist. Der gemeinsame Tod von Mutter und Solin erfüllt dann in sym-
bolischer Verkleidung den Inzestwnnsch, während die reale Bedeutung ihres gleich-
zeitigen Sterbens der Abwehrslrümung Ausdruck verleiht. Ähnlich konnte Sadger
Kleists Wunsch nach dem gemeinsamen Liebestod, der ihn sein Leben lang er-
füllte, aufklären. — Zum Thema der sexuellen Wurzel des Selbstmordes vgl. man das
l. Heft der ,. Wiener psychoanalytischen Diskussionen": „Über den Selbstmord u, s. w."
(Bergmann 1910).
Alfieri's .Filippo". 131
Und dann der Ausdruck ihres eigenen Verdrängungsversuches
j,Wer liest im Herzen mir? Ach wüßte ichs
So wenig selbst, als es die andern wissen!
Dann könnt ich täuschen mich, vor mir entfliehn,
Wie ich vor jenem fliehe. — — — "
Im zweiten Auftritt treffen dann Carlos und die Königin zu-
sammen und gestehen einander, nach kunstvollen Zögerungen, die an
die Wirkung der psychischen Widerstände beim Neurotiker gemahnen,
ihre Liebe. Aber auch Philipps Eifersucht äußert sich nur in ver-
ßinglichen Andeutungen ; der Versuch ihrer Verdrängung läßt para-
noische Wahngebilde beim König entstehen: er hat die Idee, sein
Sohn verfolge ihn, um ihn zu töten ; denn ohne daß etwas Ähnliches
vorgefallen wäre und ohne den geringsten Schein eines Beweises klagt
er den Sohn vor seinen Räten an:
Um für verziehne Fehler sich zu rächen,
Schleicht leise er nach meinem Zimmer sich
Und mit dem vatermörderischen Stahl
Die Rechte waffnend nähert er sich mir
Von rückwärts schon. Schon hebt das Eisen er.
Fast stößt ers schon nach seines Vaters Seite —
Da unerwartet tönt von jenseits her
Ein Schrei: Gib acht, Philipp! gib acht! — Es war
Rodrigo, der zu Hilf mir kam. Ich fühle
Etwas wie einen Stoß, der an mir streift,
Ich blicke hinter mich, zu meinen Füßen
Liegt bloß ein Eisen, und im Schatten hin
Seh ich den Sohn in wildem Flüchten eilen.
Diese Mordphantasie des Sohnes ist auch im Munde des Vaters
sinnreich; denn auch der Vater will ihn töten und es ist eine aus
der Neurosenpsychologie bekannte Erscheinung, daß sich als Abwehr
dieses Wunsches die Furcht einstellt, von ihm getötet zu werden. Be-
zeichnend für den paranoischen Charakter dieser Idee ist hier die
warnende Stimme, die Philipp gehört zu haben vorgibt. Neben der
Abwehr des eigenen Hasses dient aber dieses Motiv dem König auch
zur Rechtfertigung des Hasses gegen den Sohn: wenn ihn Carlos
meuchlings ermorden will, dann haßt er ihn ja mit Recht. Daß diese
Wahnidee einer solchen unbewußten Argumentation entspringt, kommt
dann deutlich zum Ausdruck, wie Philipp dem Sohn diesen angeb-
lichen Anschlag vorhält:
Carlos: Was hör ich! Vatermörder ich? Doch nein!
Das glaubst du selber nicht. Was aber gab
Dir Grund, Verdacht, Beweis?
Philipp:Ver dacht. Beweis,
Ja Sicherheit gibt mir dein finstrer Groll.
Carlos aber bemerkt ganz richtig, daß der Haß gegen ihn diese
Wahnanschuldigung erzeugt habe:
Du hassest mich, dies meine Missetat! q*
132 IV. Das Stiefrautter-Thema,
Aus dem Leben Alfioris seien hier einige Hinweise auf die in-
fantilen Bedingunj]^en dioses ()dipus-Komplexes (nach Landaus Gesch.
d. ital. Lit. im Will, .lahrh. und lieyses Einleitung zu seinen Über-
setzungen Altieris) gegeben. Des Dichters zwcjiljündigc Selbst-
biographie war mir leider nicht zugänglich. Jcdunialls wird sein In-
teresse für das Stiefmutter-Thema schon daraus leicht erklärlich, daß
sein Vater im Alter von 55 Jahren (der alte Vater!) eine um
vieles jüngere Witwe (die junge iSIutter!) geheiratet hatte. Der
Vater starb jedoch schon nach fünfjähriger Ehe, ehe Vittorio noch ein
Jahr alt war. Schon drei Jahre später heiratete seine Älutter einen
gleichaltrigen Mann, mit dem sie viele Jahre glücklich lebte. Über
den Stiefvater soll sich Alfieri nie zu beklagen gehabt haben.
Seine Mutter hat. er sehr geliebt und war ihr während
seines ganzen Lebens in innigster Verehrung zugetan.
Sein Trauerspiel IMerope, bei dem ihm die gleichnamigen Tra-
gödien von ^ oltaire und Maffai als \ orbild dienten, widmete er
mit liebevollen Worten seiner Mutter als eine Tragödie der Mutter-
liebe. Bezeichnend lür die inzestuösen Regungen ist darin der Zug,
daß Agist, der Sohn der Merope, den Polyphont, der nach dem Thron
strebt, erst tötet, wie er auch nach der Hand Meropes trachtet.
Polyphont hatte dem Agist schon vorher den Vater und die Brüder
getötet, aber erst wie er auch die Mutter heiraten will, schreitet der
Sohn zur Rache. — Alfieris Vorliebe für „die Mutter", für das Weib
eines anderen, äußert sich auch darin, daß sich der Dichter im
Jahre 1777, also mit 28 Jahren, in eine ältere verheiratete
Frau verliebte; in die Gräfin Luise Albany, die Gattin des Prä-
tendenten auf den englischen Thron, Karl Eduard Stuarts, mit der er,
nach einer längeren Unterbrechung, bis zu seinem Tod (1803) lebte.
Von Alfieris inzestuösen Regungen und ihrer Äußerung in seinem
künstlerischen Schaffen wird noch die Rede sein. Hier sei nur flüchtig
auf die später noch zu besprechenden Dichtungen hingewiesen, die
mehr oder minder den Inzestkomplex, insbesondere die Auflehnung
gegen den Vater (Tyrannenmord) widerspiegeln. Wie Schiller schrieb
er eine Verschwörung der Pazzi, zwei Bücher über die Tyrannei (vgl.
Schillers Gesch. d. Rebellionen) und eine Maria Stuart; ferner zwei
Brutusdramen, eine Tragödie „Agamemnone" u. v. a.)
Auch der deutsche Dichter Fo u q u e (1777 — 1843) hat in Anlehnung
an Schiller ein Trauerspiel : Don Carlos, Infant von Spanien
verfaßt, in dem der Dichter in väterlicher Einstellung auf Seite Philipps
steht. Das seltene Buch (Danzig 1823) war mir leider nicht zugänglich.
Nur aus Kochs Einleitung zur Ausgabe einiger Werke Fouqu es in
Kürschners deutscher Nationalliteratur seien einige Stellen angeführt.
Koch schreibt : „Wie weit „dieausgezeichnet schöneund hold-
selige Mutter" (Fouque), die erste Deutsche in der altfranzösischen
Adelsfamilie, auf den poetischen Sinn ihres Sohnes gewirkt hat, wissen
wir nicht. Otto von Trautwangen im „Zauberring", Alwin und Sintram
Fouqu^'s Mutterkomplex. 133
zeigen ein besonders inniges Verhältnis zurMutter, das
einen Rückschluß auf des Dichters eigene „zärtlichste
Anschließ ung an sein holdes Mütterlein" gestattet. (Vgl.
Gedichte III, 280.* Das Bild der Mutter.) Ein für Sintram und die
Novelle „Rosaura und ihre Verwandten" verwertetes Motiv, „ein ent-
setzlicher Traum", dessen Andenken den Wachenden Jahre hindurch
mit Schauer erfüllt, gehört zum Selbsterlebten der Kinderzeit."
Koch scheint aus Fouqu^s Selbstbiographie (Halle 1840) ge-
schöpft zu haben, die mir leider auch unzugänglich war. Für seine
Liebe zur Mutter spricht auch der Umstand, daß er, als seine Mutter
zu Ende des Jahres 1788 starb, infolge des Schmerzes und der Auf-
regung in eine schwere Krankheit verfiel. Bezeichnend ist auch sein
Verhältnis zu seiner zweiten Gattin Karoline von Briest. Sie war
viel älterals er und hatte schon die Liebe des Knaben
entzündet (ganz wie die Mutter), später vermählte sie sich aber mit
einem anderen Mann (auch Avie die Mutter, die ihm ja der Vater
vorweggenommen hatte). Als sie dann endlich F o u q u e heiratete, er-
zählte er, sie sei verwitwet, andere aber berichten von ihrer Scheidung,
die der Vermählung mit Fouque vorausgegangen sein soll. Damit
hätte er gleichsam die in der Kindheit versäumte Erfüllung seines
infantilen Wunsches nachgeholt, indem er nun dem Mann, der ihm einst
die Geliebte weggenommen hatte (dem Vater), jetzt dieses Weib wieder
abnimmt.^) Das wäre etwa als reale Wunscherfüllung zu seiner im
Carlos-Drama ausgestalteten Kindheitsphantasie anzusehen.
Kurz seien schließlich noch (nach Minor) erwähnt die Carlos-
Dramen von: Montalvan, Rüssel, Rose (Carlos und Elisabeth,
1802) und Mercier, der die Handlung in 52 ohne Unterbrechung
fortlaufenden Szenen abwickelte; auch G. Dörings Trauerspiel „Posa"
(Frankfurt 1821).
2. Byrons „Parisina".
Dem Carlos-Schema gehört auch der Stoff an, den Byron in
seiner poetischen Erzählung Parisina behandelte. Das Gedicht ent-
stand im Jahre 1815, in der Zeit des kurzen Zusammenlebens Byrons
mit seiner Gattin.
^) Auf Anregung' Schlegels sollFouque nicht nur den „Carlos" in Anleh-
nung' an Schiller behandelt haben, sondern auch das Motiv der feindlichen
Brüder. Koch (1. c.) sagt darüber: Das in der Familie Hallersee gemilderte,
in Alf und Yngvi bis zur vollbrachten Labdakidentat durchgeführte
Motiv des Bruderzwistes bildet auch den Inhalt der beiden Trauerspiele: Die
Pilgerfahrt (1816), in 5 Aufzügen, und Die zwei Brüder (1817), in 4 Auf-
zügen. In der Familie Hallersee lieben zwei Brüder dasselbe Weib, die Gräfin Massi.
In den „zwei Brüdern" verläßt Lothar von Sternfels um eines anderen Weibes willen
seine Braut; er läßt sie unter dem Schutz seines Bruders zurück, der sie aber heim-
lich liebt. Wie im U. Abschnitt dargelegt werden soll, ist das Motiv der Rivalität
zweier Brüder, um den Besitz desselben Weibes (oftmals der eigenen Schwester wie
z. B. in Schillers „Braut von Messina") ein Surrogat des Konflikts zwischen
Vater und Sohn um die Neigung der Mutter.
134 TV. Das Sriefmutter-Thema.
In seiner Einleitung sagt Byron: „Das nachstehende Gedicht ist auf
einen Vorfall gegründet, der in Gibbons Antiquities of the House of
Brunswick erwHhnt wird. Ich fürchte, daß zu den jetzigen
Zeiten das Zartgefühl oder der Hochmut des Lesers solche
Gegenstände als ungeeignet für den Zweck der Poesie
erachtet. Die griecliischen Dramatiker und einige unserer besten alten
englischen Dichter waren anderer Meinung, ebenso wie Alfieri und neuer-
dings Schiller auf dem Kontinent. Der folgende Auszug wird die Ge-
schichte erklären, worauf sich das Gedicht gründet. Der Name Azo ist
als mehr metrisdi für Nikolaus gebraucht. Unter der Regierung Nikolaus
des Dritten wurde Ferrara durch eine Familientragödie erschüttert. Durch
die Aussage eines Dieners und .seine eigene Beobachtung entdeckte der
Markgraf von Este das verbrecherische Einverständnis sei-
nes Weibes Parisina mit Hugo, seinem außerehelichen
Sohne, einem schönen, tapferen Jüngling. Sie wurden im Schlosse ent-
hauptet, auf den Richtspruch eines Vaters und Gatten, der seine Schande
offenkundig machte und ihre Hinrichtung überlebte. Er war unglücklich,
wenn sie schuldig waren : wenn sie unschuldig waren, war er jedenfalls
noch unglücklicher. Es ist hiebei keine Lage denkbar, in der ich
diese Handhabung strenger Gerechtigkeit von selten
eines Vaters billigen könnte." (Übers, v. 0. Michaeli, Bibl. d.
Ges. Lit. Nr. 422).
Byrons Befürchtung, mit dem anstößigen Stoff das Zartgefühl
seiner Zeltgenossen zu verletzen und seine Berufung auf die alten
Dichter, beruht auf einer psychologisch allerdings tief begründeten
Verwechslung des Stoffes mit der Art seiner Behandlung. Denn Byron
behandelt die sexuellen Verhältnisse bei weitem nicht so unverhüllt wie
die alten Dichter, sondern infolge der vorgeschrittenen Verdrcängung
viel zarter. Das Liebesverhältnis zwischen Hugo und Parisina tut er
in wenigen Zeilen ab und streift dabei das Sexuelle so oberflächlich,
daß man daraus, wie es ja in seiner Absicht lag, kaum auf einen
geschlechtlichen Verkehr der beiden schließen kann; gleich darauf
berichtet er von Inzestträumen:
Sein einsam Bett sucht Hugo nun
Und träumt von ihr in sündiger Lust;
Ihr schuldvoll Haupt jedoch muß ruhn
An des vertraunden Gatten Brust.
Von unruhvoller Träume Not
Glüht ihre Wange fiebrisch-rot.
Dagegen malt Byron die Entdeckung des Verhältnisses und ins-
besondere die Strafe (Abwehr) sehr breit aus; die Bestrafung der
beiden bildet fast den ganzen Inhalt des Gedichtes. Parisina verrät
sich im Traum, indem sie Hugos Namen flüstert. Es fehlt auch
hier nicht zur Abwehr und Rechtfertigung des Sohnes das Motiv der
Braut abnähme durch den Vater. Hugo sagt zu ihm :
Die psychologische Beziehung von Erlebnis und Dichtung. 135
Wahr ist's, verwundet hab ich dich,
Doch Wund um Wunde : diese da,
Die sich dein Stolz zum Spiel ersah.
Du weist's, war lang bestimmt für mich.
Du sahst sie, wardst von ihr entzückt — — —
Der Zufall will es, daß sieh für Byrons inzestuöse Neigung, die
in dem Gedicht zum Ausdruck kommt, die psychologische Bestätigung
aus seinem Leben, in dem merkwürdigen Verhältnis des Dichters zu
seiner Mutter, erbringen läßt. Vorher aber sei an unsere prinzipielle
Auseinandersetzung über das Verhältnis von Erlebnis und Dichtung
erinnert. Wir sind weit entfernt davon, den Einfluß der unmittel-
baren Erlebnisse des Dichters auf sein Schaffen zu unterschätzen. Aber
in Vergleichung mit den infantilen Erlebnissen und Eindrücken und
ihren unbewußten Erinnerungsspuren und Affekten, an die man bisher
nicht dachte, kommen alle späteren Erlebnisse nur als Erwecker und
Wiederbeleber dieser infantilen Gefühle in Betracht. Auch kann der
Nachweis eines wirklichen Erlebnisses, das mit einem in der Dichtung
dargestellten Verhältnis aufs genaueste übereinstimmt, also etwa eines
wirklichen inzestuösen Verhältnisses'), durchaus nicht immer als einzig
zulässiger Beweis für die Richtigkeit der Deutung im Sinne dieses
Erlebnisses gelten. Ja, dieses seltene Zusammentreffen wäre sogar ge-
eignet, die falsche Meinung zu erwecken, es müsse sich regelmäßig
im Leben des Dichters ein mit dem Inhalt der Dichtung völlig über-
einstimmender Vorfall nachweisen lassen. Demgegenüber sei
nochmals nachdrücklich darauf hingewiesen, daß es sich in der
Dichtung regelmäßig um die Äußerung verdrängter, also unbewußter
Gefühle, Regungen und Phantasien handelt, die sich auch im Leben
nur entstellt und den Verhältnissen angemessen äußern können. Wir
werden also auch bei Byron die Erlebnisse des Dichters in die Deutung
einbeziehen müssen, um sein Verhältnis zur Mutter in seinen weiteren
Folgen psychologisch zu verstehen.
Byron war das einzige Kind aus der zweiten Ehe seines
Vaters mit Katherine Gordon of Giglit; er wurde im dritten
Jahre dieser Ehe (1788) geboren. Aus der ersten Ehe hatte sein
Vater eine Tochter Augusta. Sein Vater, der wegen seiner exzentrischen
Neigungen und seiner leichtsinnigen Verschwendung unter dem Namen
,,der tolle Jack"' bekannt war, starb drei Jahre (1791) nach der Ge-
burt Byrons, und seine Mutter siedelte mit ihm nach Aberdeen in
Schottland über, während Augusta bei ihrer Großmutter, der ver-
witweten Gräfin von Holdernesse, erzogen wurde. Da der Vater die
Familie in sehr bedrängter Lage zurückgelassen hatte, mußte die
Mutter selbst die Erziehung ihres Sohnes übernehmen. Bis zu seinem
^) Wie wir es im zweiten Teil in Byrons Verhältnis zu seiner Stiefschwester
Augusta finden werden, durch die das Stiefmutter-Thema (Ersatz der leiblichen
Mutter durch eine jüngere nicht in dem Grade Blutsverwandte) bei ihm in ent-
scheidender Weise bestimmt ist.
136 IV. Das Stiefmutter-Thema.
zehnten Jahre war er immer mit der Mutter beisammen, dann kam
er in die höhere Schule zu Harrovv, wälircnd die IMutter nach Notting-
ham zog, wo er sie aber noch oft, besonders in den Ferien, besuchte
Aus dem letzten Jahre seines Aufenthaltes in Harrow (1804) datiert
nun ein Brief, den er an seine von ihm überaus geliebte Stiefschwester
Augusta richtete, und worin es heißt:
^Du sagst, du werdest bald an meine Mutter schreiben. Nun A u-
gusta, merk auf: ich habe dir ein Geheimnis zu erzählen. Vielleicht
werde ich dir als pflichtwidriger Sohn erscheinen ; aber glaube mir, meine
Liebe fiir dich ruht auf festerem Grunde. Meine Mutter hat sich
letzthin gegen mich so überspannt betragen, das ich nicht
nur keine Sohnesliebe empfinde, sondern nur schwer
meine Abneigung beherrsche Sie ist so heftig, so
ungeduldig, daß ich mich -vor dem Nahen der Ferien mehr
fürchte, als die meisten Jungen vor dem Ferienschluß.
In früheren Zeiten hat sie mich verhätschelt; jetzt ist sie
ins Gegenteil umgeschlagen. Um die geringste Kleinig-
keit schilt sie mich in der beleidigendsten Weise" (Byrons Tagebücher
und Briefe, herausgegeben von Engel). Eine Woche später schreibt er
wieder an die Schwester: „Mutter hat eine hohe Meinung von ihren
persönlichen Beizen, mindert ihr Alter um reichlich sechs
Jahre, erzählt, sie sei bei meiner Geburt erst achtzehn gewesen, während du
doch weißt, liebe Schwester, so gut wie ich, daß sie großjährig war, als
sie meinen Vater heiratete, und daß ich erst drei Jahre nachher geboren
wurde Nun komme ich aber zu etwas, was dich ebenso entsetzen
muß, wie es mich entsetzt : so oft sie mir Vorhaltungen zu machen hat,
tut sie es in einer Weise, die keine Achtung erzeugt und keinen Eindruck
macht. . . . . Sie gerät in einen wahren Tobsuchtsanfall,
beschim pf t mich, als sei ich der ungehorsamste Bösewicht, wühlt
in der Asche meines Vaters und beschimpft ihn, nÄint mich
einen echten .Byron", was das schlimmste Schimpfwort ist, das sie er-
finden kann. „»Soll ich diese Frau Mutter nennen? — — — "
Auch noch an verschiedenen anderen Stellen seiner Briefe äußert
sich seine auffällige Abneigung gegen die Mutter in
geradezu aufdringlicher Weise. Diese übertriebene Betonung der
Abneigung gegen die Mutter ist psychologisch höchst bedeutsam. Zu
ihrer Aufklärung muß an eine schon hervorgehobene Erfahrungs-
tatsache aus der Freudschen Neurosenpsychologie erinnert werden.
Wenn die sexuelle Neigung zu einer Person aus irgend welchen
Gründen die Verdrängung erßihrt, so äußert sie sich als Haß oder
als Abneigung gegen diese Person ; besonders verschmähte Liebe ist
— wie wir gleich beim Phädra-Thema bestätigt finden werden —
einer solchen Verwandlung in Haß leicht fähig. Umgekehrt kommt
wieder jemand, der eine Person im Unbewußten haßt und diese
Regung abwehrt oder nicht äußern darf, dieser Person im Leben
mit auffälliger Zärtlichkeit oder Zuvorkommenheit entgegen. Bei
Byron's Mutter. 137
Byron haben wir nun einen solchen Fall. Anfangs verhätschelt
ihn die J\Iutter, wie er schreibt, und da wird wohl auch er keine
Abneigung gegen sie gefühlt haben. Mit dem zunehmenden Alter des
Knaben muß natürlich die Mutter ihr Zärtlichkeitsbedürfnis dem Sohn
gegenüber einschränken, da ja die Beziehungen zu dem Knaben den
unschuldigen Charakter verlieren. Verrät schon das Verhätscheln des
Kindes einen neurotischen Zug an der Mutter, so wird diese Vermu-
tung noch dadurch bestärkt, daß sie die Einschränkung ihres Zärtlich-
keitsbedürfnisses nicht glatt zu stände bringt, sondern es mit der den
Neurotischen eigentümlichen Charakterbildung, ins Gegenteil umschla-
gen läßt, wie Byron sich ausdrückt. Erfahren nun zwar auch nor-
malerweise die infantilen Inzestneigungen des Sohnes im Laufe der
Reife die Verdrängung, so wurde dieser Prozeß bei Byron durch die
zuerst eingetretene ablehnende Haltung der Mutter in unliebsamer
Weise unterstützt und beschleunigt. Es wäre also die spätere Abnei-
gung der Mutter auf ihre Hysterie, die des Sohnes auf seine von der
Mutter gleichsam verschmähte Liebe zurückzuführen.^) Aber auch
sonst weist das Verhältnis Byrons zu seiner Mutter eine Reihe neuro-
tischer Züge auf. Die Furcht vor dem Beisammensein mit der Person,
die man liebt, während man zugleich diese Liebe abwehrt (Haß), ist
auch eine aus der Neurosenpsychologie bekannte Erscheinung der
Abwehrform: Byron fürchtet sich vor dem Nahen der Ferien, vor
dem Zusammenleben mit der Mutter; das ist eine Reaktion auf die
Erlebnisse der früheren Kindheit, denn als sie ihn noch verhätschelte,
war er gewiß sehr gerne mit ihr beisammen gewesen. Auch die
Altersverminderung der Mutter und ihr Stolz auf ihre jugendlichen
Reize entspringen dem unbewußten Wunsch, besser zum Sohne zu
passen, während Byrons Aufklärung dieser kleinen Lüge seiner spä-
teren Abwehr entstammt. Das Motiv der Altersverminderung der
Mutter ist uns schon in seiner großen Bedeutung als Grundthema des
Stiefmutter -Problems bekannt, und wir haben vielleicht in dieser per-
sönlichen Erfahrung Byrons auch einen Grund dafür zu suchen, daß
ihn Hugos junge Stiefmutter Parisina anzog, die dem Sohn vom Vater
vorweo:o:enommen wurde. Dafür nun, daß ihm in seiner Kindheit
die Mutter, die Frau eines andern (des Vaters), entgangen ist, rächt
sich Byron später in seinem Leben, ähnlich wie R. Wagner^), da-
^) Dazu vgl. man das auffällig ähnliche Verhältnis Schopenhanera zu
seiner Mutter in Hitschmanns Darstellung. Wie der große Pessimist hat denn
auch Byron nach einer Eintragung im Tagebuch (Engel: Byron, Berlin 1876)
„keine sehr hohe Meinung vom weiblichen Geschlechte", was auch in seinem un-
glücklichen Eheleben zu Tage tritt.
^) Es sei schon hier auf die im Verlaufe der Untersuchung immer deutlicher
werdende Erscheinung hingewiesen, daß den typischen infantilen Komplexen nicht
nur typische Phantasien, Träume, Symptome, Dichtungen entsprechen sondern daß
auch die meisten Dichter nach einem im großen und ganzen gemeinsamen und auf
eine intensive Mutterfixierung zurückgehenden Typus lieben, und zwar im weitesten
Sinne unglücl^licb, wie es eben auch die erste Liebe ihres Lebens war. In einem
\'^H IV. Das Stiefmnttor-Tlioma.
durch, daß er als Don .luan anderen Männern ihre Frauen abwendig
maclit. Nach seiner mißglückten Heirat mit einem violumwurbenen
Mädchen tlüchtet er nach Italien, wo er eine Menge Liebesverhältnisse
anknüpft und unterhält, aber meist — wie er sagt der Landessitte
gemäß — mit verheirateten Frauen; so mit jMarianna, der jungen Frau
seines Hauswirtes, mit ^largarita, der Frau eines I^äckers, mit der
Gräfin G uiccioli, die er drei Tage nach ihrer Hochzeit mit dem öOjäh-
rigen Grafen kennen lernt und dem er sie nach heftigen Kämpfen
mit dem alten Mann („Vater") schließlich entreißt. Seine verhüllte
Neigung zur Mutter und seine Eifersucht auf sie offenbart sich auch
in seinem Haß gegen den vermeintlichen Liebhaber seiner Mutter
(den „Vater").')
In dem schon erwälmten Brief an die Stiefschwester (vom 1 1 . No-
vember 1804) heißt es darüber: „Sie ist so furchtbar heftig, und in ihren
Bitten und Befehlen wegen meiner Aussöhnung mit dem abscheulichen
Lord G. derart peinigend, daß ich annehmen muß, sie ist in seine Lord-
sdiaft verliebt. Ich bin jedoch überzeugt, daß er keine Gegenneigung
fühlt (Byrons Wunsch!), sie ist ihm eher unangenehm als sonst etwas,
wenigstens soweit ich es beurteilen kann." (Die Briefe Lord
Byrons übers, v. Jarno Jessen, Keclam Nr. 4872 — 74).
Bezeichnend für den neurotischen Charakter der Mutter ist der
von Byron wiederholt erwähnte Umstand, seine Mutter habe ihn
wegen dergeringsten Kleinigkeit in einer unverhältnis-
mäßigen Weise beschimpft. Auch diese ,, Verschiebung der psychi-
schen Intensität (Freud) von einer affektbetonten Vorstellung auf
eine indifferente ist ein Grundprinzip der Neurosen psych ologie. Es kommt
übrigens nur zu oft im alltäglichen Leben vor, daß jemand wegen
einer Kleinigkeit in maßlose Wut gerät, die zu dem Anlaß nicht im
entsprechenden Verhältnis steht. Es sind eben in jedem Menschen
eine Menge unterdrückter Haßregungen und verschluckter Zornes-
ausbrüche aufgestappelt, die dann gleichsam summiert, bei gewissen
Artikel des „Nineteenth Century" (Sommer 19 9) hat Sidney Low an Hand eine»
reichen Materials den Nachweis erbracht, daß die Genies der Literatur, soweit sie
nicht anverheiratet geblieben waren, in sehr schlechter Ehe gelebt hätten (Shake-
speare, Milton. Swift, Shelley, Kuskin, Dickens etc.). So erhält also die
scheinbar frivole Behauptung von der unglücklichen Dichteiliebe ihre tiefe Begrün-
dung ans dem unbewußten Seelenleben. Wer unglücklich liebt, hat die Begrün-
dung dafür nicht in der Kealität zu suchen, sondern sein „Unglück" ist ein subjektiv
bedingtes, wie eigentlich jeder sog. Pechvogel im Grunde das Unglück in sich
selbst trägt.
') Von welchen schweren Folgen diese Eifersucht auf den Liebhaber der
Mutter (den Vater) sein kann, möge ein Fall für viele illustrieren. In Biksoder
(Ungarn) überraschte der 23jährige Bauer U. seine Mutter bei einem Rendez-
vous mit ihrem Geliebten. Er geriet in eine derartige Wut, daß er auf das
Paar wie besesst-n losstach, die Mutter tötete und ihren Geliebten lebensgefährlich
verletzte. (Zeitungsbericht.) Daß auch die weibliche Eifersucht zu ähnlichen Aus-
brüchen führen kann, lehrt ein aus Paris (am 31. Jänner 1912) berichteter Fall,
wonach eine 19jährigc Konservatoristin ihre 51jährige Mutter und deren 39jährigen
Geliebten in deren gemein.samem Schlafgemach aus Eifersucht tötete.
Byron' s Verhältnis zur Mutter. 139
— scheinbar indifferenten — Anlässen hervorbrechen. Die früher ange-
nommene bewulite Verstellung und Verhüllung seiner Abneigung
gegen die Mutter, die sich in der übertriebenen Betonung seiner feind-
seligen Gesinnung verrät, finden wir in seinen Briefen direkt einge-
standen.
Am 2. November 1808 schreibt er an die Mutter: „Wir wollen,
wenn es Dir recht ist, die Dinge vergessen, die Du erwähnst. Ich habe
kein Verlangen, mich ihrer zu erinnern. Wenn meine Zimmer fertig sind,
werde ich Dich mit Freuden empfangen. Da ich prinzipiell nur
die Wahrheit sage, wirst Du mir keine Ausflucht zutrauen." Gegen Ende
desselben Monats aber schreibt er an Augusta : „Ich lebe hier allein, denn
es entspricht meinen Neigungen besser als irgend welche Gesellschaft.
Meine Mutter habe ich seit zwei Jahren abgeschüttelt und werde zukünftig
ihr Joch nicht wieder auf mich nehmen. Ich fürchte, mein Charakter
wird in Deiner Schätzung einbüßen, aber trotzdem kann ich dieser Frau
weder vergeben, noch unter einem Dach mit ihr in Bequem-
lichkeit atmen. ^")
Diese Flucht vor der Mutter (vor der Liebe zur Mutter) ist ge-
wiß eine der Wurzeln seines Reisedranges, der ihn bis an sein Le-
bensende beherrschte. Schon in den Ferien des Jahres 1806, also
mit 18 Jahren, war er — allerdings erst in kleinem Maßstab — vor
seiner Mutter aus South well nach London geflohen, „da es zwischen
ihr und dem Sohn geradezu zu gefahrdrohenden Szenen gekommen
war." (Jessen, S. 24, Anmerkung.) Drei Jahre später schon tritt
er seine große Reise an, die ihn über Gibraltar, Malta, Konstantinopel,
Athen u. s. w. führt und ihn zwei Jahre von der Heimat fernhält. Er
fährt ab, ohne von der Mutter Abschied zu nehmen und schreibt ihr
unter anderem: „Die ganze Welt liegt noch vor mir, und ich verlasse
England ohne Bedauern und ohne den Wunsch, irgend etwas inner-
halb seiner Grenzen wieder zu besuchen — außer Dir selbst und
Deiner gegenwärtigen Residenz." (22. Juni 1809.) Im Hinblick auf
Byrons Abneigung gegen das Beisammensein mit der Mutter, werden
wir wohl diesen Satz richtig deuten, wenn wir annehmen, er solle das
Gegenteil besagen, nämlich daß Byron alles andere in seinem Vater-
land wiedersehen wollte, außer der Mutter. Ein seltsames Schicksal
sollte diesen Wunsch erfüllen: „Anfang Juli (1811) landete Byron
in Portsmouth. Er erhielt in London Ende Juli die Nachricht von
der Erkrankung seiner Mutter und reiste sofort nach Newstead. Kurz
vor seiner Ankunft hatte sie ein plötzlicher Tod ereilt." (Jessen,
S. 64, Anmerkung 2.) Es hat fest den paradoxen Anschein, als wäre
die Mutter absichtlich noch rasch vor seiner Ankunft gestorben, um
dem unerwünschten Wiedersehen auszuweichen. Denn ähnlich wie
der Sohn, hoffte und wünschte auch die Mutter, daß sie einander
nicht mehr begegnen möchten. Die Abwehr dieses Wunsches aber
') Dipselbe räumliche Trennung war auch bei Schopenhauer die Folge
seines Verhältnisses zur Mutter.
140 IV. Das Stiefmutter-Thema.
steigerte sich \>v\ der neurotischen IMutter zu Selbstvorwürfen,
die sich nun als aberglllubische Furcht äußerten, sie Averde den Sühn
nicht mehr sehen. Jessen (S. G4, Anm.) sagt darüber: „Byrons
Mutter war während des Sohnes langer Reise schon ver-
schiedentlich von abergläubischen A n fällen, daß sieden
Sohn nicht wiedersehen würde, befallen worden." Dieser
Aberglaube ist natürlich nur ein Ausdruck ihres Wunsches (ihrer
Furcht) den Sohn nicht Aviederzusehen, Avahrend die psychische Ge-
genströmung, die ursprüngliche, jetzt unbewußte (verdrängte) Liebes-
neigung zum Sühn, auf diesen Zwangsgedanken mit einem Anfall
reagiert. Diese Umwandlung eines abgewehrten Wunsches in die
abergläubische Furcht vor der Erfüllung dieses Wunsches ist für den
Mechanismus der Zwangsneurose typisch, und wir werden ihn auch
bei Aufklärung der Zwangsvorstellung Karl Grill parzers (im II.
Abschn. Kap. XIV) in ähnlicher Einkleidung wiederfinden: es liegt
ihm die Verdrängung mittels „Reaktionsbildung" zu Grunde. Wie sehr
die Abneigung des Dichters selbst gegen seine Mutter eine reaktive
und die enttäuschte Liebe zu ihr verdeckende war, zeigt der trotz
der manifesten Feindseligkeiten bei ihrem Tode durchbrecliende
zärtliche Ton, in welchem der Dichter (2. August 1811 an Pigot)
schreibt: „Ich fühle jetzt die ganze Wahrheit, daß wir nur eine
Mutter haben können."^)
Vom Standpunkt dieser unglücklichen Mutterliebe wird aber
nicht nur die dichterische Phantasiegestaltung der „Parisina", sondern
auch Byrons unglückliche Ehe verständlich, die nur eine Wieder-
holung des Verhältnisses zur Mutter ist. Anfangs liebt er seine Frau,
aber sehr bald fühlt er eine solche Abneigung gegen sie, daß der
Bruch unvermeidlich w^ird^). Und genau so, wie vor der Mutter, flieht
Byron nun vor seiner Frau ins Ausland, ohne je wieder seine Heimat,
sein Mutterland möchte man sagen, zu betreten.
Besonders bezeichnend für die Determinierung alles Psychischen
und geradezu beweisend für das zeitweilige Vorherrschen gewisser
seelischer Komplexe erscheint mir die Stelle eines Briefes, den Byron
aus Verona an seinen Freund Moore schrieb. An Bedeutung ge-
winnt diese Stelle durch den Umstand, daß der Brief aus demselben
Jahre stammt, in dem die Parisina, Byrons Mutterinzest-Dichtung
erschien;' der,! Dichter schreibt:
„Der Zustand der Moral ist in diesen Ländern in j^ewissen Be-
ziehungen ziemlich lax. Im Theater zeigte man mir eine Mutter und
einen Sohn, die die Mailänder Welt der thebauischen Dynastie zuzählt,
aber das war alles. Der Erzähler (einer der ersten Männer jMailands),
*) Wie viele Menschen mit unglücklicher Inzestliebe, und wie fast alle Helden
unserer Dramen, sucht Byron, als sich ihm in den griechischen Freiheitskämpfen
die Gelegenheit dazu darbot, den Tod vorzeitig herbeizuführen (Vgl. Kap. XXIUj.
'^) Inwieweit die Frau an dem Ikuch schuldlragend gewesen sein mag, lassen
wir hier unerürtert.
Byron's neurotischer Charakter. 141
schien mir über den Geschmack oder das Verhältnis [0 d i p u s und
Jokaste] nicht genügend entrüstet" (Jessen, a. a. 0. S. 129 u. fg.).
Byron scheint selbst auch geahnt zu haben, daß die Quelle
seiner späteren neurotischen Leiden in seiner Kindheit zu suchen sei ;
in den nachgelassenen Tagebuchblättern heißt es:
„Meine Leidenschaften entwickelten sich in früher Jugend, so früh
schon, daß man mir nicht glauben würde, wollte ich den
Zeitpunkt und die näheren Umstände nennen. Vielleicht ist
dies eine der Ursachen, die die frühe Schwermut in meinem Denken her-
beiführten : ich hatte eben zu früh angefangen zu leben. '*
Diese Frühreife führte schließlich, so weit sich jetzt noch
schließen läßt, zur Neurose. Schon in Harrow führte er „ein tolles
exzentrisches Leben" (Identifizierung mit dem Vater), sein Ehezwist
hat ausgesprochen neurotischen Charakter und seine Flucht vor allem
Peinlichen in der Heimat, seine überspannte Leidenschaft für Eeisen,
ist unverkennbar auf neurotischem Boden erwachsen. Schließlich kam
es dann auch zu einem — wie es scheint hysterischen — Aufall, den
Byron in seinem letzten Lebensjahr, zwei JMouate vor seinem Tode,
in Missolounghi erlitten hatte ; er trägt ins Tagebuch ein :
„Am 15. Februar hatte ich einen heftigen Krampfanfall; ob es sich
um Epilepsie, Paralyse oder Apoplexie handelt, darüber sind die beiden
mich behandelnden ärztlichen Herren noch nicht im klaren. Es war sehr
schmerzhaft . . . Ich war ohne Sprache, meine Gesichtszüge waren ver-
zerrt, Schaum aber hatte ich nicht vor dem Mund, wie man mir sagte . . .
Der Anfall dauerte 10 Minuten und kam unmittelbar nachdem ich einen
Becher Cider mit kaltem Wasser gemischt . . . getrunken hatte. Ich hatte
nie etwas davon gehört, daß solche Anfälle in meiner Familie erblich
wären ^), wenn auch meine Mutter an Hysterie gelitten
hatte."
Die Bemerkung, seine Mutter habe an Hysterie gelitten, be-
stätigt unsere Deutung ihres Verhaltens dem Sohne gegenüber voll-
auf und rechtfertigt unsere daraus gezogenen psychologischen Schlüsse,
deren Bedeutung natürlich dem Dichter bei der Niederschrift dieser
W^orte nicht klar sein konnten.
3. Das Motiv der Brautabnahme und Brautabtretung.
Zum Carlos-Schema gehört noch — gleichsam als Grenzfall gegen
die Phädra-Fabel — Racine's Mithridate (1673), der zugleich ein
neuer Beweis für des Dichters inzestuöse Eegungen ist. Die beiden,
') Brief an Murray vom 20. Sjptemter 1821 : „Ich leide an einer erblichen
Schwermut". Der Großvater mütterlicherseits soll sich das Leben genommen haben.
Ein anderer naher Ver^vandte^, aach von Seite der Mutter, nahm Gift und wurde
nur mit Not gerettet (vgl. das Auftreten von Byrons Anfall beim Trinken). Als Byron
im Alter von 16 Jahren die Kunde bekam, daß die von ihm Geliebte im Begrift'e
stehe, sich zu vermählen, fiel er heftigen Krämpfen zur Beute. ,.Ich war dem Er-
sticken nahe" ruft er aus. Noch kannte ich den Unterschied der Geschlechter nicht,
14-2 IV. Das Stiefmntter-Thoma.
von verschiedeueii Müttern stammenden Söhne des Mithridates,
Xiphares und Pharnaces, lieben Monime, die Verlobte ihres
Vaters. Aus Furcht vor dem Vater vermeiden sie die Offenbarung
ihrer Leidenschaft, bis die plötzliche Nachricht vom Tode des Vaters
(unbewußter Wunsch der Söhne) sie kühner macht:
Xiphares: Ich liebe sie und wills nicht mehr verschweigen,
Da jetzt ein Bruder nur mein Nebenbuhler.
Wie man sieht ist hier der Vaterhaß mit der Rivalität des
Bruders kombiniert, eine Komplikation, deren psychologische Grund-
lao-e erst im zweiten Abschnitt ganz deutlich werden wird. So viel
läßt sich jedoch ohne weiteres schon hier entnehmen, daß nach der
Beseitigung des Vaters an seine Stelle der Bruder als Nebenbuhler
bei der Mutter tritt, wie an Stelle der verpönten und alternden Mutter
die Schwester (Byron). Aber Xiphares begründet seine Priorität
mit der uns bereits gut bekannten Brautabnahme durch den Vater;
Daß selbst der Name Monime dem Vater
Nocli unbekannt war, als ich schon für sie
Von reiner Neigung glühte — - — —
Dafür rächt sich nun wieder der Sohn, indem er jetzt dem Vater
die Braut (die Mutter) abwendig machen will. Aber auch Monime
liebt ihren zukünftigen Stiefsohn Xiphares; jedoch auf die Frage
ihrer Sklavin, ob sie ihm ihre Liebe auch gestanden habe,
antwortet sie:
Noch weiß er nichts; die Götter waren
Mir hilfreich ; kräftig mich bekämpfend, sagt
Ich nichts ihm, oder nur ein halbes Wort.
Bald aber wird die falsche Meldung vom Tode des Vaters wider-
rufen, ein Zug, dem wir auch in der Phädra begegnen werden, wie
überhaupt der ganze Charakter der Monime — als Grenzfall —
schon der Phädra nahekommt. Denn als Mithridate, der sich von
Pharnaces allein verraten glaubt ^), den Xiphares zur Bewachung
der Monime zurückläßt, da gesteht sie ihm — wie Phädra —
ganz offen ihre Liebe, flieht ihn aber von nun an. Mithridate
schöpft bei seiner unerwarteten Rückkehr aus dem Land „aus des
Bezirk kein Wandrer wiederkehrt", Verdacht gegen seine Söhne,
die er wäder sein Gebot noch bei Monime antrifft ; der eifersüchtige
Vaterhaß regt sich in ihm; er sagt zu Arbates:
Immer siehst
Du mich von gleicher Liebesglut entl)rannt,
Dies Herz, von Blut genährt, nach .Schlachten dürstend,
Der Jahre Last und dem Geschick zum Trotz,
doch war meioe Neigung so stark, daß ich nicht weiß, ob ich seit jener Zeit je
wieder mit derselben Heftigkeit geliebt habe". (Nach Lorabroso: Genie und
Irrsinn, Keclam 8. 22.)
') Der Aufstand des Pharnaces und der darauf folgende Seibsimord des
Mithridates sind historisch überliefert.
Die Brautabtretnng an den Sohn. 143
Trägt überall die Fesseln Monimes,
Und haßt mit glühendem Zorn, vor allen Fein den,
Zwei dankvergeßne Söhne, die hier weilen.
Durch eine List weiß Mitliridate der Monime das Ge-
heimnis ihrer Liebe zu Xiphares zu entlocken. Als sie den Betrug
merkt, weist sie seine Hand zurück und bekennt sich offen zu ihrer
Leidenschaft für den Stiefsohn. Der Gedanke einer Werbung des
Pharnaces dagegen, des älteren Bruders, ist ihr peinlich, und sie
spricht auch die Befürchtung des Vater- und Brudermordes aus:
Und ich lebe,
Ich warte noch, bis Pharnaces, mit ihrem
Herzblut gebadet, von der Römer Schar
Begleitet, noch im Aug die grimmige Lust
Des Vater- und des Brudermörders, hier
Vor mir erscheint?
Bald jedoch wird M it h r i d a t e vom Tode ereilt und sterbend verlobt
er seinen Sohn Xiphares mit seiner Braut Monime. Die Wunsch-
erfüllung des Sohnes kommt also hier voll zum Ausdruck, denn der
Vater tritt ja — allerdings sterbend — dem Sohn die Braut (die
Mutter) ab. Diese offenkundige Wunscherfüllung kommt aber nur
auf Kosten der verschobenen Inzestregungen zu stände, die daliin ab-
geschwächt sind, das Monime erstens nicht die leibliche j\lutter des
Xiphares ist, aber zweitens auch nicht einmal noch seine Stief-
mutter, da sie ja noch nicht des Vaters Gattin, sondern nur seine
Verlobte war. Diese weitgehende Abschwächung, Zensurierung der
Inzestgefühle möchte man sagen, ist aber die Vorbedingung für das
Zustandekommen der vollkommenen Wunscherfüllung, die sich nicht
scheut, die Liebe der Mutter (der Braut, Verlobten des Vaters) mit
dem Tod des Vaters zu erkaufen; aber nicht auf dem Wege des
Vatermordes wie bei d i p u s, sondern auf dem harmloseren des vom
Sohn zwar gewünschten aber von ihm nicht herbeigeführten Todes
mit Umgehung jeder verpönten Handlung; ja die Abwehr der Haß-
gefühle gegen den Vater geht so weit, daß als ihre Reaktion die durch
den Tod eben motivierte Abtretung des Weibes an den Sohn erscheint.
Hinter dieser doppelten Entstellung (Abschwächung), die statt des
Vatermordes und der gewaltsamen Eroberung der ,, Mutter" die frei-
willige Abtretung setzt, und an Stelle der wirklichen leiblichen Mutter
die Verlobte des Vaters, ist jedoch — im Zusammenhang mit den
bisher angeführten Beispielen — die Tendenz nach Durchsetzung der
ursprünglichen Inzestregiingen nicht zu verkennen. Das Motiv der Braut-
abtretung, ohne die späteren Abschwächungen, enthält die Erzählung Ap-
pians (X, 59) von dem syrischen König Antiochus, dem Sohn des
Seleukos der sich in die Gemahlin seines Vaters, Stratonice, verliebte. Er
verschloß seinen Kummer in sich, wurde elend und lag krank und
schwach da, ohne jedoch Schmerzen zu empfinden. Der Arzt Eri-
sistratos weiß ihm bald durch eine List das Geheimnis seiner Liebe
144 IV. Das Stiefmntter-Thema,
zu entlocken und überredet den Vater, dem Sohn seine Ge-
mahlin abzutreten. Diese auch von Plutarch überlieferte
Geschichte der Liebe des Antiochus zu seiner jungen Stiefmutter
Stratunice h.it Bandello (II, 55) breiter erzählt und Painter
15GG ins Englische übersetzt. Auch Petrarca hat sie im Trionfo d'
Amore, c. 2, erzählt. (Über andere Versionen vgl. M. Landaus „Bei-
trüge" p. 107; Ztschr. f. vgl. Lit. Gesch. N. F. VI, 414).
Eine ähnliche Behandlung des gleichen Motivs findet sich in
Corneille's ,,Kodogune'", die Lessing in seiner ,, Hamburgischen
Dramaturgie'' (29 — 31 Stück) scharf kritisiert.
Nach dem Tode des Demetrius verlieben sich — in eigener Erfin-
dxmg: des Dichters, — dessen beide Söhne in Rodogune, die Braut ihres
Vaters ; ihrer Rivalität um das Mädchen stellt der Dichter die Rivalität um
die Herrschaft gegenüber, die ihre Mutter Cleopatra demjenigen von
ihnen -verspricht, der ihre Nebenbuhlerin Rodogune töte. Diese erfährt
jedoch den Anschlag und verspricht wieder ihre Hand dem von den
Brüdern, der seine Mutter ermorde.
Deutlicher kann es kaum gesagt werden, daß die Brüder, die
um die Braut des Vaters rivalisieren, letzten Endes um die Mutter
kämpfen. Wie diese Inzestphantasie von der Brautabtretung an
den Sohn die Modifikation des tiberlieferten Stoffes beeinflußt, zeigt
L e s s i n g s Bemerkung über das Alter der Rodogune : „Allerdings durfte
Corneille mit den historischen Umständen nach Gutdünken verfahren.
Er durfte z. B. Rodogunen so jung annehmen, als er wollte; und
Voltaire hat sehr unrecht, wenn er auch hier wiederum aus der
Geschichte nachrechnet, daß Rodogune so jung nicht könne ge-
wesen sein; sie habe den Demetrius geheiratet, als die beiden
Prinzen, die jetzt wenigstens zwanzig Jahre haben müßten, noch in
ihrer Kindheit gewesen wären. Was geht das den Dichter an? Seine
Rodogune hat den Demetrius gar nicht geheiratet ; sie war sehr
jung, als sie der Vater heiraten wollte, und nicht viel älter, als sich
die Söhne in sie verliebten. Voltaire ist mit seiner historischen
Kontrolle ganz unleidlich. Wenn er doch lieber die Data in seiner
allgemeinen Weltgeschichte dafür verifizieren wollte!"
Dieses Motiv der Brautabtretung an den Sohn ist das volle psy-
chologische Gegenstück zum ]\Iotiv der Brautabnahme durch den Vater,
welches der typischen Knabenphantasie entspricht, daß der Vater die
eigentlich dem Sohne bestimmte und innerlich angehörige Mutter —
in ihrer Verjüngung als Braut des Sohnes, als Stiefmutter dargestellt —
weggenommen habe. Eine Art der Realisierung einer solchen Phantasie im
späteren Leben berichtet Herodot im 9. Buch seines Geschichtswerkes
(Kap. 108 u. ff.) in der Geschichte des Xerxes, der sich in das Weib
seines Bruders Masistes verliebte, und da sie ihm nicht zu willen
war und er sich scheute, der Frau seines Bruders Gewalt zu tun,
auf ein sonderbares Auskunftsmittel verfiel.
Die sexuelle Rivalität zwischen Vater und Sohn. 145
„Er verheiratete seinen Sohn Dareios mit der Tochter dieses Weibes
und des Masistes, in der Hoffnung, sie dadurch um so eher zu ge-
winnen .... und nahm das Weib des Dareios (seines Sohnes) zu sich
in sein Haus und ließ dadurch ab von dem Weibe des Masistes, denn
er wechselte seine Neigung und verliebte sich in das Weib des Dareios,
des Masistes Tochter, und gewann sie." Aber Amestris, seine Ge-
mahlin, entdeckt die Sache, hält das Weib des Masistes für die An-
stifterin des ganzen und verstümmelt sie grausam. Ehe Masistes noch
Zeit hat, die Baktrier für seine Sache zu gewinnen und gegen den Bruder
ins Feld zu führen, wird er samt seinen Söhnen auf Befehl seines Bruders
ermordet.
Zu der Phantasie der Brautabnahme durch den Vater bildet
die Brautabtretung an den Sohn die positive Wunscherfüllung und
gleichsam die Revanche. Nach einer Bemerkung von Storfer (Zur
Sonderstellung des Vatermordes, Deuticke 1911) sollen ähnliche Motiv-
gestaltungen in den Werken des russischen Dichters Gorki häufig
zu finden sein. „Es sei hier auf seine Erzählungen „Malva", „Auf
dem Floß" und besonders auf die Sage vom „Tartarenchan und seinem
Sohn" hingewiesen. In der ersten Erzählung hat es der Sohn auf
die Geliebte seines Vaters abgesehen, in dem Mittelpunkt der zweiten
steht ein Liebesverhältnis zwischen Schwiegervater und Schwieger-
tochter^) (Brautabnahme: Gegenstück zum früheren) und in der zuletzt
genannten Sage fordert der siegreich heimgekehrte Sohn vom Vater
seine schönste Lieblingssklavin" (1. c. S. l'J Anmkg). Ein ähnliches
^) Za welch tragischen Konsequenzen im Leben diese inzestuösen Konflikte
führen können, zeigt folgende von Zeitungen aus Rom berichtete „Italienische
Schicksalstragödie": „In eioem Dorfe bei Avelino lebte vor Jahren ein junges
Ehepaar. Der Mann wanderte nach Amerika aus, um dort Arbeit zu suchen und
sich ein neues Heim zu gründen. Er war fleißig und wollte sein junges Weib zu
sich nach Amerika kommen lassen. Ein Brief aus der Heimat zerstörte jedoch alle
seine Träume. In dem Brief wurde ihm mitgeteilt, daß sein eigener Vater seine
junge Frau verführt bat. Mit dem nächsten Schiff kehrte der Auswanderer in
seine Heimat zurück und stand plötzlich vor seinem ^'^ater. Es gab eine heftige
Szene, und der Vater sank, mit dem Dolche des Sohnes im Herzen^ tot zu Boden.
In demselben Dorfe und zur selben Zeit war ein junger Ehemann ebenfalls
nach Amerika gegangen und ließ seine Frau zurück. Sie wurde ihm untreu und
ihre Schwiegermutter machte der jungen Frau Vorwürfe. Es kam zu Streitig-
keiten, und eines Tages erschlug die junge Frau ihre Schwiegermutter mit
einem Beil. Sie und der Vatermörder kamen vor dieselben Geschworenen. Man
billigte ihnen mildernde Umstände zu, und beide wurden bloß zu vier Jahren
Kerker verurteilt. Die vier Jahre gingen um, und dem Mörder und der Mörderin öffneten
sich die Kerkertüren. Beide lernten sich lieben und fingen ein Verhältnis an. Darüber
war die Mutter der jungen Frau empört. Sie traf den Liebhaber ihrer Tochter in
der Kirche und schoß ihn nieder, ohne ein Wort zu sagen. Unter den Gläubigen
entstand eine Panik. Die Kirche war geschändet. Die wütende Menge verfolgte
die tliehende Mörderin. Sie flüchtete in das Gemeindehaus, die Menge ihr nach. Da,
als ob die Hölle ihre Pforten öffnete, brach der Fußboden des Saales ein,
und die Mörderin und ihre Verfolger stürzten in die Tiefe. Vierzig Menschen
wurden schwer verletzt und lagen, sich in Schmerzen windend und stöhnend,
am Boden."
Bank, Das luzestmotiv. 10
146 IV. Das Stieiniutter-Thenia.
Thema behandelt ein kürzlich erschienenes Renaissancestück von Paul
Althuf: Der heili<,'o Kuß (Stuttgart, Cotta 1911), wo der erst nach-
träglieh erkannte JSohn die junge Frau seines Vaters verführt, der
nach der Entscheidung eines Astrologen auf die Frau verzichtet und
ihre \'ermählung mit dem Sohne gestattet, ihn aber bald darauf töten läßt.
Bei den elisabethanischen Dramatikern, die als Zeitgenossen und
unmittelbare Nachfolger Shakespeares fast völlig unter seinem
Einfluß stehen, tinden die aus dem Elternkomplex stammenden Motive
der Hrautabnahme und Brautabtretung, die im „Hamlet"
ihren höchsten künstlerischen, zugleich aber neurotischesten Ausdruck
gefunden hatten, als sentimental wirkende dramatische Requisite aus-
giebige Verwendung. ^)
Von direkteren Anklängen an den Hamlet seien nur genannt:
John ]\Iarston's „ Antonio's lievenge", wo die Rache eines Hohnes an
dem Mörder seines Vaters und zweiten Gatten seiner Mutter die Haupt-
triebfeder ist; damit verbunden erscheint das Hauptmotiv von Kyd's
„Spanish Tragedy", die Rache des Vaters an den Mördern seines Hohnes
(Koeppel, Beitr. S. 21). Ferner Cyrill Tourneurs: vThe Revenger's
Tragedy", wo der Hastard Spurio seinen Vater, den Herzog, und seinen
legitimen Bruder haßt und mit der Herzogin buhlt, was auch an das
Schicksal Glosters und seiner Söhne im „König Lear" erinnert (1. c. S. 3!).)
Das Motiv der Brautabtretung findet sich in Beaumont's
und Fletcher's „Monsieur Thomas". Valentine, ein reicher, nicht
mehr junger Mann, kommt von einer langen Reise zurück nach London,
begleitet von dem jungen Francisco, den er unterwegs kennen gelernt
und herzlich lieb gewonnen hat. Valentine ist verlobt mit seinem
Mündel Cellide, ^) die trotz des Altersunterschiedes gern bereit ist,
seine Gattin zu werden ; in dieses schöne Mädchen verliebt sich der fremde
Jüngling. Sorgfältig verbirgt er seine Gefühle, um das Glück seines
Gönners nicht zu stören, aber seine innere Qual ist so groß, daß er gefährlich
erkrankt. Ein unbeteiligter Freund errät den Grund seines Leidens, setzt
Valentine in Kenntnis, dieser verzichtet zu Gunsten des jüngeren Mannes
und wird für sein Opfer dadurch belohnt, daß er in Francisco seinen tot-
geglaubten Sohn findet (1. c. 96). Ferner in John Marston's „Pa-
rasitaster; or, The Fawn.'" Tiberio, der Hohn des Herzogs von Ferrara,
wird an den Hof des Herzogs von Urbino gesandt, um für seinen Vater
^) Das folgende Material ist zwei fleißigen Arbeiten von Emil Koeppel ent-
nommon. 1. Quellenstudien zu den Dramen Ben Jonson's, John Marston's und
Beaumont's und Fletcher's (Münchener Beiträge zur rom. und engl. Philol.
XI, Lei[)zig 1895). 2. Quellenstudien zu den Dramen George Chapmau's,
Philipp Massinger's und John Ford's (Quellen und Forschungen zur
Sprach- und Kulturgesch. d. germ. Vülker, Bd. 82, Straßburg 1897).
^) Als Gegenstück ist hier Fagan's Lustspiel: „La Pupille" zu nennen, das
von Schlegel übersetzt und von Kotzebue bearbeitet Avurde. Arist, ein Mann
in den Jahren, ist Vormund einer Waise namens Julie. Als aber der junge Va-
lerias um sie wirbt und der Vormund nichts dagegen hat, stellt sich heraus, daß
das Mädchen den Vormund liebt, der sie auch heiratet.
Der Sohn als Brautwerber des Vaters. 147
die Haud der Prinzessin Dulcimel zu begehren. Die findet jedoch mehr
Gefallen am Sohn als am Vater und benützt ihren eigenen Vater in An-
lehnung an Boccaccio (III 3) als Kuppler. Der Herzog von Ferrara,
der seinem Sohne verkleidet nach Urbino gefolgt war, gibt schließlich seine
Einwilligung zu der Verbindung (1. c. S. 27).
Dieses Motiv des Sohnes, der seinem Vater als Brautwerber dient
und die Braut für sich selbst gewinnt, ist ein typisches Produkt der
Inzestphantasie; wir fanden es bereits in Lop es Carlos-Drama und
werden ihm in der Ermanrich-Swanhild-Sage (Kap. V.)
wieder begegnen. Einen vom Inzestkomplex scheinbar völlig los-
gelösten aber den Zusammenhang damit doch noch verratenden Ausdruck
hat es in der Geschichte des Combabus gefunden. In Lucians
Aufsatz Hipt TTp 2upi7]; Qtoo wird der schöne Combabus des Ehe-
bruchs mit der Gattin seines Königs angeklagt und zum Tode verur-
teilt. In der letzten Stunde kann er sich überzeugend rechtfertigen,
denn er hatte sich, als er zum Keisekavalier der jungen Königin
Stratonike ernannt worden war, selbst entmannt.^) Diese unge-
wöhnliche Vorsicht des Brautwerbers, der bereits den späteren Ver-
dacht voraussetzt, kann in dieser Form unmöglich als ursprüngliches
Motiv angesehen werden, ebensowenig wie das Fehlen der verwandt-
schaftlichen Beziehungen zwischen Combabus und dem König, da
wir sonst überall den Sohn (eventuell den Stiefsohn oder Neffen) als
Brautwerber und Brautabnehmer dem Vater gegenüber auftreten sehen.
Die Quellen der Luci ansehen Erzählung sind mir nicht bekannt,
doch scheint der Name der geliebten Frau, Stratonike, auf die von
Plutarch überlieferte Geschichte der Liebe des Antiochus zu
seiner jungen Stiefmutter Stratonike hinzuweisen, wo allerdings
^) Wieland, der die Lukianisclien Schriften meisterhaft übersetzte, hat (nach
Goedecke, Grandriß 4 Bd., S. 201) auch eine Geschichte „Combabus" (Leipzig
1770) geschrieben, die mir jedoch nicht zugänglich war. In fast allen Erzählungen
Wielands fiaden sich sogenannte „Putiphar-Szeneu'', in denen der Held nach dem
Typus des Phädra-Schemas den Verführungen der Frauen widersteht ; auch das gegen-
teilige Motiv des Carlos-Schemas, wo die Frau die sinnlichen Werbungen des
Mannes zurückweist, hat Wieland oft gestaltet (z. B. im Musarion), wie überhaupt
eines der Hauptmotive seiner Dichtung das Umschlagen der platonischen Liebe in
Sinnlichkeit bildet. Die inzestuöse Wurzel diesar Wandlung, die leicht daran
zu erkennen ist, daß der Held entweder von der Frau zurückgewiesen wird oder
selbst vor ihr flieht, liegt in dem Roman „Agathen" offen zu Tage. (Vgl. Kap. XVH).
Eine zweite damit in Zusammenhang stehende Wurzel dieses Liebesverhaltens wird
deutlich in dem von Wieland mit Vorliebe verwerteten Motiv, daß der Held im
Leben ein Weib sucht, dessen Bild er gesehen hat („Idris" unvollendetes Gedicht in
5 Gesängen ; „Der neue Amadis" 1771 u. a. m.). In dem 1764 erschienenen Roman :
„Don Silvio da Rosalva" wird der Held von dieser Schwärmerei geheilt durch die
eine Reihe von Putiphar-Szenen enthaltende Geschichte des Prinzen Biribinker. —
Dieses Suchen des Phantasieobjekts, dessen unzulänglicher Ersatz in der Wirklich-
keit nur abstoßend wirken kann, dürfen wir auf Grund gesicherter psychoanalytischer
Erfahrungen auf die zum realen Liebesgenuß unfähig machenden Masturbations-
phantasien zurückführen, die sich meist mit verbotenen (inzestuösen) Liebesobjekten
beschäftigen und als deren Korrelat wir die Kastrationsphantasie (Combabus) anzu-
sehen gewöhnt sind.
10*
148 IV. Daa Stiefmutter-Thema,
der \ liier dem Sohne die Frau abtritt. Doch scheint überhaupt
das Motiv der Brautiibtretung an den Hohn nur eine sentimen-
tale Umbildung der ursprünglichen Brautabnehmungs-Phantasie des
Sohnes zu sein, die — wie wir dem Abschnitt über den Kastrations-
komplex (IX, 2) vorgreifend bemerken — meist mit der Entmannung
des Sohnes wegen tles verbotenen Sexualaktes bestraft wird.
Das auch der T r i s t a n-Sage zu Grunde liegende Motiv der Braut-
werbung durch den Neffen, der die seiner Obhut Anvertraute für sich
gewinnt, findet sich in Massinger's Schauspiel „The great duke of
Florence" das auf ein volkstümliches älteres Drama: A Knacke to
knowe a knas^e zurückgeht, dessen romantische Handlung eine schlichte
Dramatisierung der Edgar-Sage bietet. Der gute König Edgar
sendet seinen Neffen Ethenwald als Brautwerber zu Alfrida, deren
Schönheit den Königsboten bezaubert. Kurz entschloßen vermählt sich
Ethenwald selbst mit Alfrida und meldet dem König, daß das
Mädchen seiner nicht würdig gewesen wäre. Aber Edgar erfährt
bald die Wahrheit und vergibt ihnen. Wie die P>manrichsage
zeigt (S. 166j, liegt auch dieser abschwächenden Motivgestaltung ur-
sprünglich das Verhältnis von Vater und Sohn zu Grunde, was bei
Massinger noch darin nachklingt, daß der Neffe Giovanni der
Erbe der Herzogskrone ist (Koeppel: Quellen 117), Die in später
Überarbeitung auf uns gekommene Tristan-Sage verrät Anklänge
an den „Mythus von der Geburt des Helden" und den inzestuösen
Familienroman noch darin, daß Tristan anfangs unerkannt am
Hofe seines Oheims dient, der ihn dann um Isolde werben schickt,
und im Motiv der Brautunterschiebung, dessen Zusammenhang mit
dem Inzestkomplex an anderer Stelle (Kap. XII) aufgezeigt werden
soll. Für Isolde, die sich dem Tristan bereits hingegeben hat, tritt
nämlich in der Brautnacht mit Marke ihre treue Gefährtin Brangäne
ein. ') Eine schon an das Motiv der Brautabnahme durch den Vater
anklingende Einkleidung, die aber doch mit der sentimentalen Braut-
abtretung an den Sohn endet, hat diese typische Phantasie des Sohnes
in George Chapman's „The Gentleman üsher" gefunden.
Der Herzog Alphonso wirbt um Margaret, die Tochter des
Grafen Lasso, vergeblich, weil das junge Mädchen seinen Sohn, den
Prinzen Vincentio, liebt. Der Argwohn des alten Herzogs wird geweckt
und genährt von seinem unwürdigen Günstling Medice, der den Prinzen
haßt. Die Liebenden werden überrascht, Vincentio wird von Medice
schwer verwundet und Margaret durch die falsche Kunde von dem
Tode ihres Geliebten in solche Verzweiflung versetzt, daß sie sich selbst
entstellt. Der Arzt heilt Vincentio und Margareta und der reuige
alte Herzog vereinigt die Liebenden (Koeppel: Quellen S. 8.) Das
Grundmotiv der Komödie: „The Gentleman Usher" könnte Chapman
') Weiteres Material aus diesem interessanten Sagenkreis findet sich in der
Diss. von P. Arfert: Das Motiv von der unterschobenen Braat etc. Schwerin 1897.
Die elisabethanischen Dramatiker. 149
aus einem älteren Stück erinnert haben, ans dem 1600 gedruckten, neuer-
dings Peele zugeschriebenen Drama : „The Wisdome of Doctor Dodypoll."
Alphonso, Duke of Saxony, liebt die junge Hyanthe, welche seinen
Sohn, den Prinzen Alberdune, liebt und von ihm geliebt wird. Auch
in diesem älteren Stücke siegt schließlich die junge Liebe, der Vater muß
zu Gunsten des Sohnes verzichten (1. c. 221).
Die gleichfalls für den Inzestkomplex typische Phantasie der Braut-
abnahme durch den Vater, der dem Sohne die Braut oder Geliebte
(die Mutter, Stiefmutter) wegnimmt, ist angeschlagen in der Vorgeschichte
von John Ford's „The lover's melancholy", wo die schöne Eroclea
aus der Heimat fliehen muß, weil der alte Fürst, der Vater ihres Geliebten,
ihrer Ehre nachstellt. Der junge Fürst, Palador, wird schwermütig und
Eroclea kommt in Männerkleidern an seinen Hof, wo sich schließlich nach
mancherlei Verwdcklungen alles löst (Koeppel: Quellen 172). In Beau-
mont's und Fletcher's „The humorous Lieutenant" hat Celia, die Tochter
des Königs Seleucus, als Kriegsgefangene unerkannt, das Herz des Prin-
zen Demetrius gewonnen ; aber der Vater des Prinzen will das schöne
Mädchen selbst besitzen, zuerst als Geliebte, zuletzt bietet er ihr sogar die
Krone an (Beiträge 83). In „Cupid's Eevenge" derselben Autoren ist eine
Geschichte aus Sidney's „Arcadia" verwoben. Der Sohn des Königs
von Iberien hat ein Liebesverhältnis mit einer leichtfertigen Bürgersfrau,
wird von seinem Vater bei ihr überrascht und beteuert, um die Frau zu
schützen, deren Unschuld und Tugendhaftigkeit mit so hinreißenden
Worten, daß der alte König selbst dieses seltene Weib für sich gewinnen
will und sie schließlich zu seiner Königin erhöht. Die Buhlerin versucht
die sträflichen Beziehungen zu ihrem Stiefsohne fortzusetzen, wird von
ihm zurückgewiesen und bringt es dann durch Verläumdungen und Ränke
so weit, daß der Sohn, um sein Leben zu retten, fliehen muß (Beiträge S. 46).
Finden wir in dieser vou der ursprünglichen Phantasieg-estaltuno-
stark abweichenden Einkleidung das Motiv der Brautabnahme durch
den Vater verbunden mit der verbotenen Liebe zwischen Stiefmutter
und Stiefsohn, deren sträfliches Verhältnis hier in die Zeit vor der
Ehe mit dem Vater verlegt ist, so finden sich noch weitergehende
Motivkombinationen und -komplikationen nach dieser Richtung in
dem Schauspiel: The costlie whore eines unbekannten Autors.
Der Duke of Saxony wird von dem Handschuh einer Dame gefesselt,
den sein Sohn auf der Straße gefunden hat. Prinz Frederick entdeckt
in der Buhlerin Valentia die Besitzerin, die der Herzog trotz Protestes
seines Sohnes heiratet. Der Prinz ergreift die Waffen gegen seinen Vater
und es gelingt ihm, Valentia gefangen zu nehmen. Auf fußfälliges
Bitten seines Vaters gibt er sie wieder frei, wird aber selbst gefangen
gesetzt. Der Herzog unterzeichnet das Todesurteil und gibt das Dokument
seiner Gattin zu beliebigem Gebrauch. Valentia will dem Gefangenen
sein Leben schenken um den Preis seiner Liebe. Frederick weist sie
mit Schmähungen zurück, sie läßt ihm den Giftbecher reichen und bringt
seine Leiche vor den Herzog. Zu spät erwacht in diesem die Vaterliebe,
150 IV. Das Stiefmutter-Thema.
in Wut und Abscheu wendet er sich von Valentia ab. Da erlicbt sich
der von einem Schlaftrunk nur betäubte Frederick, dem der Herzog die
Herrschaft abtritt. — Als Quelle };ibt Koeppel eine Novelle Green's
.Saturnes Tra<;edie" (1885) an, der einen einfachen, knappen Bericht
Aelians novellistisch verarbeitete. Es ist die Geschichte vom König
Psametich, dem von einem Adler der Schuh der Buhlerin Rhodope
zugetragen wird; er läßt sie im ganzen Lande suchen und erhebt sie zu
seiner Gemahlin. Bei (Jreen empfindet Philarkes, der Sohn des Psame-
tich, es als schwere Kränkung, eine Dirne au Stelle seiner verstorbenen
I^Iutter zu sehen. Vergeblich versucht er den Kiiuig von der Heirat abzuhalten.
Aber die gekrönte Rhodope verliebt sich in ihren Stiefsohn und auch
Philarkes unterliegt der Versuchung. Der alte König überrascht und
tötet das schuldige Paar (Koeppel: Quellen 201 fg.).
Au diesem Beispiel läßt sich deutlich die Auso^cstaltung und
Wiederabschwächuno^ der Inzestmotive durch die verschiedenen Bear-
beiter eines überlieferten Stoffes verfol<^en. Während bei Aelian,
der kaum mehr den ursprünglichen Sinn der Geschichte kennt, jedes
inzestuöse Motiv fehlt, findet sich bei Green die Liebe der Stief-
mutter zum Sohn mit tragischem Ausgang, während in dem daraus
geflossenen Drama das Phädra-Schenia, mit schließlicher Unibiegung
ins Sentimentale, festgehalten wird. Die Darstellung der Gattin des
Vaters als Buhldirne entspricht, wie wir wissen, den erotischen
Pubertätsphantasien des Knaben, der vom Geschlechtsverkehr der
Eltern Kenntnis gewonnen hat.
B. Das Phädra- Schema.
Zur Psychologie der Nachdichtung.
Im Gegensatz zum Carlos-Schema, das die leidenschaftliche Neigung
des Stiefsohnes zur Stiefmutter behandelt, haben wir die Darstellung
des umgekehrten Verhältnisses, der Liebe der Stiefmutter bei ab-
lehnendem Verhalten des Stiefsohnes, als Phädra-Schema bezeichnet,
nach der ebenfalls oft verwerteten und diese Gruppe scharf charak-
terisierenden Phädra-Fabel. Unser Interesse für diesen Stoff wird noch
erhöht durch den Umstand, daß Schiller bekanntlich Racine's
Phädra in deutscher Sprache nachdichtete. Bei dem doppelseitigen
und zwiesi)ältigen Charakter aller abnormen und aller überwertigen
Seelenäußerungen erscheint es nicht verwunderlich, daß der
Dichter des „Don Carlos" dem Abwehrausdruck der miß-
glückten WunscherfUllung seiner inzestuösen Leidenschaften nach
Überwindung und teil weiser Umwertung seines primären (jdipus-
Komplexes auf der Höhe seines Schaffens die positive Ergänzung in der
Phädra gegenüberstellte. Die Einwendung, daß es sich dabei nicht
um eine, gewisse Züge des individuellen Seeleniebens verratende,
originelle Schöpfung Schillers, sondern lediglich um eine einfache
Zur Psychologie des Übersetzers. 151
Übersetzung handle, ist mit dem Hinweis darauf zu erledigen, daß ja
— wie sich zeigte — auch die Wahl eines bereits vorhandenen
mythischen oder geschichtlichen Stoffes nicht willkürlich, sondern mit
strenger Notwendigkeit aus der gesamten seelischen Verfassung des
Dichters erfolgt. Daß sich in einer frei erdichteten Handlung nur
das eigene Seelenleben des Dichters offenbaren kann, wird wohl
niemand bestreiten wollen. Weniger einleuchtend, aber darum nicht
minder beweisfähig ist die Determination der Übersetzungen und Be-
arbeitungen fremder Werke. Hätten wir außer der Phädra-Über-
setzung von Schiller keine symptomatische Äußerung seiner Inzest-
gefilhle, so wäre aus der Pliädra-Übersetzung allein der Schluß wohl
sehr gewagt, aber keineswegs völlig unberechtigt. Da wir nun aber
Schillers inzestuöse Leidenschaften aus anderen Anzeichen erwiesen
zu haben glauben, dürfen Avir wohl die Phädra-Übersetzung nicht als
zufällige oder aus rein literarischen Motiven entsprungene Laune des
Dichters, sondern ebenfalls als Äußerung der uns schon bekannten
Inzestregungen ansehen. Dieses Zusammentreffen wird uns daher be-
sonders wertvoll als ein bedeutungsvoller Hinweis auf die psychische
Determination des Stoffinteresses überhaupt, die sich ja in gleicher
Weise auch auf den gänzlich unproduktiven Zuschauer bezieht, und
wir werden daher wohl kaum zu kühn erscheinen, wenn wir — vor-
behaltlich weiterer Beweisversuche — die Übersetzungen und Be-
arbeitungen im allgemeinen als im psychologischen Sinn gleichwertig
mit den Originalleistungen hinstellen, das heißt für sie eine ähnliche
strenge und vieldeutige Determinierung voraussetzen, wie für die eigenen
selbständigen Produktionen. Da sich aber doch die verschiedene Form
und Arbeitsweise, wie jede spezifische seelische Tätigkeit und jeder
psychische Effekt, als besonders determiniert erweisen müssen, so muß
auch der so verschiedene Hergang bei der originalen Schöpfung und
der Übersetzung einen psychologisch bedeutsamen Unterschied erkennen
lassen. Dieser Unterschied ist, wie wir vorausschicken können, nur
ein dynamischer, den man sich am besten an seinem extremsten Fall,
am Verhältnis des Zuschauers, des Empfangenden, zum Künstler klar
machen kann. Beim befriedigten Empfänger des Kunstwerkes, dem
das Werk also „gefällt", erfahren die gleichen seelischen Kegungen,
die den Künstler zum Schaffen drängten, auch eine ähnliche Be-
friedigung wie bei diesem ; nur mit dem Unterschied, daß der Künstler
für sich selbst die seelische Arbeit leisten muß, die diesen Regungen
ihre Äußerung ermöglicht, während der Geniesser des Kunstwerkes,
bei dem diesen Regungen übrigens stärkere (die normalen) Hem-
mungen entgegenwirken, die Leistung dieses psychischen Aufwandes
auch für sich vom Künstler besorgen läßt ^). Nun tritt aber auch
^) Vgl, Rank: „Der Künstler« S. 48 f . — B y r o n sagt im Tagebuch (1814):
„Um so zu schreiben, daß das Menschonherz im Innersten erschüttert werde, muß
das Herz des Dichters selbst erschüttert gewesen sein, oder noch besser, es schon
überstanden haben".
152 IV. Das Stiefmutter-Thema.
beim KUustltr dor Fall nicht allzu selten ein, daß sich gegen gewisse
Regungen in.-u'litigo Widerstilndo erheben, die eine spontane Auslösung
und Äußerung dieser Regungen verhindern — ähnlich wie beim un-
produktiven Zuschauer, der ja auch erst den äußeren Anlaß, das dar-
gebotene Kunstwerk, zur Befreiung seiner Hemmungen und zum Aus-
leben der unterdrückten Gefühle abwarten muß. Wir haben also
vom frei erfindenden, selbstschüpferischen Dichter bis zum unproduk-
tiven Zuschauer eine einzige über den Nachahmer und Übersetzer
hinwegführende Kette der gleichen unbewußten Regungen und ihrer
Befreiung im Kunstwerk anzunehmen. Die Wirkung des Kunstwerkes
beruht auf denselben nur stärker unterdrückten, unbewußten Re-
gungen, die wir beim schöpferischen Dichter als Triebkräfte seiner
Produktion aufdecken konnten, was uns schon äußerlich die be-
geisterte Annahme und Anerkennung des Werkes verraten kann.
Diese Befriedigung der unterdrückten infantilen Regungen löst dann
auch das befriedigende Urteil aus. Die ästhetische Lust ist dabei also nur
als Vorlust wirksam (vgl. „Künstler" S. 49), indem sie die Aus-
lösung tiefer wurzelnder Lustgefühle ermöglicht '). Im psychologischen
Sinn ganz ähnlich wie das Verhältnis des Empfangenden zum Künstler,
ist nun das Verhältnis des dichterischen Übersetzers (des Nachdichters)
zu seinem Vorbild. Stößt der Dichter im Bedürfnis, gewisse Gefühle
auszuströmen, sie künstlerisch zu verarbeiten, auf mächtige innere
Widerstände, die ihm nicht einmal die Identifizierung mit einer
historischen Gestalt gestatten, so wird er den künstlerischen Ausdruck
ähnlicher Gefühle eines anderen Dichters gleichsam als sein seelisches
Eigentum zu fühlen beginnen und es sich durch die Nachdichtung
anzueignen suchen, indem er sich mit dem fremden Dichter identi-
fiziert. Er vermag das, weil es ja bei ihm, im Gegensatz zum un-
produktiven Zuschauer, nur eines geringen Anstoßes bedarf, um seine
labileren Afi'ekte in Bewegung zu setzen. Dieses Nachschaflfen ist
also ein Mittelding, gleichsam ein Kompromiß, zwischen der Unmög-
lichkeit des eigenen Schaffens ^) (wegen zu großer Widerstände) und
^) Dieses Prinzip der ästhetischen Lustwirkung findet sich, wie ich nach-
träglich aus der Arbeit D i 1 t h e v s erfuhr, schon von G. Th. F e c h n e r in seiner
„Vorschule der Ästhetik" vorgebildet. Dilthey sagt datübcr (dicht. Schaffen
1. c. S. 37ü): „Es ist höchst bemerkenswert, wie an sich kleine Wirkungen des Einzel-
klangs, des Keims, des Khythmus einen erheblichen poetischen Effekt, in der Ver-
bindung mit ästiietischen Wirkungen aus dem Inhalt, hervorbringen . . . : Hieraus
hat F e c ii n e r das folgende ästhetische Prinzip ableiten zu dürfen geglaubt, welches
dann freilich ein sehr auffälliges psychologisches Gesetz zum Hintergrund haben
würde (I, 50). Aus dem widerspruchslosen Zusammentreffen von Lustbedingungen,
die für sich wenig leisten, geht ein größeres, oft viel größeres Lustresultat hervor,
als dem Lustweite der einzelnen Bedingungen für sich entspricht, ein größeres, als
daß es als Soinme der Einzdwirknngen erklärt werden könnte . . ."
'■') Die Phädra-Nachdichtnng ist im .Jahre 1805 innerhalb von 26 Tagen zwischen
der Vollendung des „Teil" und dem Beginn des „Demetrius^ entstanden, „um das ver-
stimmte Instrument wieder einzurichten" und weil das Trauerspiel von allen
Racine sehen „wirklich da.s meiste dramatische Interesse enthält" (an Iffiand
5. Januar 1805).
Schillers Phädra-Bearbeitnng. 153
der stärkeren Reaktionsweise des Künstlers, der das bloße Genießen
keine Befreiung gewährt. Der Dichter schaflFt das Werk in seiner
eigenen Sprache (im -t^eitesten Sinn genommen) nach, er erlebt es auch
innerlich, aber die psychischen Aufwände, die zur Überwindung seiner
inneren Hemmungen notwendig waren, hat sein Vorbildner für ihn
geleistet, mit dem er sich jetzt bloß zu identifizieren hat. Das
sprachliche und formale Interesse, die Freude an der Übersetzung, ist
auch hier wieder nur Vorlust, die zur Arbeit anspornt, während sie
gleichzeitig die Auslösung der durch Aufhebung der inneren Hemmun-
gen gewonnenen Endlust bewirkt.
Bei Schiller war nun, wie zu zeigen versucht wurde, die im
Unbewußten verankerte Liebe zur Mutter von mächtigen Gegen- und
Ersatzregungen (Vaterhaß) überdeckt und zurückgedrängt. In dem
einzigen vollendeten Drama Schillers, wo die Neigung zur Mutter
deutlich zum Ausdruck kommt, im Don Carlos, ist die Abwehr da-
gegen zum teil in die Mutter hinüberprojiziert, die sich ablehnend
verhält, zum andern Teil sind äußere Widerstände (Hofzeremoniell u. s. w.)
daraus geworden. Die positive Wunscherfüllung dazu, wie in Racine's
Phädra, wo die (Stief-)i\[utter dem Sohn mit ihrer Liebe entgegen-
kommt, selbstschöpferisch darzustellen, vermochte Schiller gleichsam
nicht über sich zu bringen (vgl. das Agrippinafragment) und nur in
Anlehnung und gleichsam auf Racine's Verantwortung zu gestalten.
Bei Racine gesteht nämlich die Stiefmutter Phädra dem Stief-
sohn Hippolytos ihre leidenschaftliche Neigung,^) die sie vergebens zu
unterdrücken (verdrängen) versucht:
Phädra: — — — — — Dich fliehen
War mir zu wenig. Ich verbannte dich !
Gehässig grausam wollt ich dir erscheinen;
Dir desto mehr zu widerstehn, warb ich
Um deinen Haß — Was frommte mirs ! Du haßtest
Mich desto mehr, ich — liebte dich nicht minder, — —
(II, 5 übersetzt von Schiller).
Und wie Phädra ihre Liebe durch erkünstelten Haß zu betäuben
sucht, so ist auch Hippolytos' Abwehr seiner Neigung zur Stiefmutter
nur auf Kosten der gegensätzlichen Schutzmaßregel, seines Hasses
gegen die Stiefmutter, möglich. Wie bei ihm die verdrängte Liebe
zur Mutter in Haß umgeschlagen ist (vgl. Byron), so verwandelt sich
später die vom Sohn verschmähte Liebe Phädras in Haß. In beiden
Fällen ist die Unmöglichkeit der Befriedigung der Leidenschaft (ein-
mal aus inneren, das anderemal aus äußeren Ursachen) der Grund für
die uns bereits bekannte Affektverwandlung. Diese Erkenntnis läßt
^) Eine ireffende auf das Phädra-Schema passende Bemerkung: nracht K.
Wagner (Zentrbl. f. Psa. I, S. 518) in bezug auf Stuckens „Lanval". „Daß die
Königin Lanval ihre Liebe gesteht, ist nur die Verdrängung ces bekannten, in-
fantilen Wunsches, ihre Anschuldigung und VerJäumdung beim König die Objekti-
vierung seiner geheimen Befürchtui/g, der Vater könnte etwas bemerken."
1Ö4 1\. l>a.s Stieluiutter-Thüiua.
Racino selbst in einer feinen Bemerkung den Theseus seinem Sohn
Hippulytos gegenüber aussprecht u :
— — — — — Deines Weiberljasses
Verbaßte C^uelle liefet nuniiiebr am Tag.
Nur l'bUdra rührte dein verkehrtes Herz,
Und ftibllos war es für erlaubte Liebe.
Diese Bemerkung enthält di(^ richtige ])sychologis('he Erkenntnis
vom Wesen der Scxuahiblehnung (in ihrer stärkeren Form als Weiber-
hiilü)), die ibren Grund in der Fixierung der Libido an infantile, in
der Kegel inzestuöse, Sexualobjekte hat. Daß dies auch bei Hippoly-
tos zutrifft, beweist sein Verhältnis zu Aricia, die er liebt, aber nur
als Ersatz der Mutter, indem er seine Inzestgefühle auf sie überträgt.
Als ibm der Vater seinen eifersüchtigen Verdacht vorhält, macht Hip-
polytüs endlich ein Geständnis:
Hier zu deinen Füßen
Bekenn ich meine wahre Schuld — Ich liebe,
Mein Vater, liebe gegen dein Verbot!
Aricia hat meinen Schwur. (IV, 2).
Und an einer anderen Stelle sagt er:
Ich selbst ganz einer Leidenscbaft zum Kaube,
Die er (der Vater) verdammt.
Darin, daß auch diese Liebe dem Willen des Vaters zuwider-
läuft und vor ihm geheim gehalten werden muß, liegt das Gemein
same mit der Neigung zur Mutter, als deren Ersatz sie sich so ver-
rät. Auch nennt er Aricia, ebenso wie seine Mutter, immer „Königin",
wie ja das Motiv der Thronfolge auch hier wieder, wenn auch nur
leise, angeschlagen wird:
Hippel y tos: Hat sie denn alle anderen Frauen überstrahlt
An Schfjnheit? oder hofft ich auch noch deinen Thron
Als Mitgift zu erobern durch des Weibes Eaub ?
Daß sein Verhältnis zu Aricia nur das zur Mutter widerspie-
gelt, äußert sich in charakteristischer Weise darin, daß er die Liebe
zu Aricia als geheime und verbotene auffaßt und diese Leidenschaft
zu unterdrücken versucht, ganz wie Phädra die ihrige zu ibm :
Hippolyt: Ich Königin, dich hassen! Was man auch
Von meinem Stolz verbreitet, glaubt mau denn.
Daß eine Tigermutter mich geboren?
So magst du ein Cieheimnis denn vernehmen.
Das diese Brust nicht mehr verschließen kann.
Sechs Monde trag ich schon, gequält, zerrissen
Von Scham und Schmerz, den Pfeil in meinem Herzen.
Umsonst bekämpf ich dich, bekämpf ich mich.
Dich flieh ich, wo du bist; dich find ich, wo du fehlst.
Racine' s Phädra. 155
Und an einer späteren Stelle sagt er mit Beziehung auf seine
Neigung zu Aricia, wegen deren Verheimlichung er den schweren
Verdacht der Blutschande auf sich ruhen läßt :
Sollt ich die Schande seines [des Vaters] Bettes
Enthüllen ohne Schonung und die Stirn
Des Vaters mit unwürdiger Röte färben ?
Du allein durchdrangst das gräßliche Geheimnis;
Dir und den Göttern nur kann ich mich öffnen.
Dir könnt ich nicht verbergen, was ich gern
Mir selbst verbarg. — Urteil, ob ich dich liebe !
Aber ähnlich wie Hippolyt in Aricia die Mutter liebt, so liebt
Phädra in Hippolyt nur das schönere Ebenbild seines Vaters^). Sie
sagt zum Sohn :
Ja, Herr, ich schmachte, brenne für den Theseus,
Ich liebe Theseus, aber jenen nicht,
Wie ihn der schwarze Acheron gesehn,
Den flatterhaften Buhler aller Weiber,
Den Frauenräuber, der hinunterstieg,
Des Schattenkönigs Bette zu entehren.
Ich seh ihn treu, ich seh ihn stolz, ja selbst
Ein wenig scheu. — Ich seh ihn jung und schön
Und reizend alle Herzen sich gewinnen.
Wie man die Götter bildet, so wie ich
— Dich sehe ! — — — — — — —
Diese freimütige Äußerung sowie Phädras Andeutungen ihrer Liebe
dem Sohn gegenüber (II, 5) sind nur möglich, da Theseus für tot
gilt, was dem Wunsch nach Abwesenheit des Vaters entspricht.^') Aber
auch da nicht, ohne die Verlockung von Phädras Amme Oenone
und ohne Äußerung des Widerstandes (III, 1) :
Phädra: „Ach, nur zu offen hab ich mich gezeigt.
Mein rasend Wünschen wagt ich kund zu geben,
Ich hab gesagt, was man nie hören sollte!"
Diese Abwehr schlägt nun bei der „wunderbaren" Wiederkehr
des totgeglaubten (i. e. totgewünschten) Theseus aus der Unterwelt
(vgl. den „Geist" von Hamlets Vater) in glühenden Haß gegen den
Sohn um. Im Einverständnis mit ihrer Herrin verläumdet nun Oenone
den Sohn beim Vater, daß er der Königin in verbotener Liebe nach-
^) Ähnlich vergleicht Hamlet den gegenwärtigen König mit seinem dahiu-
gemordeten schöneren Ebenbild. Dieses Motiv deutet immer wunscligemäß die Über-
tragung der mütterlichen Neigung vom Vater auf sein jüngeres, schöneres Ebenbild,
den Sohn an. Auf Grund dieser Beziehungen werden so manche Gattenmorde ver-
ständlich, die nicht selten ihre unbewußte Begründung in der Zuneigung des einen
Gatten zum andersgeschlechtlichen Kind haben, das dann im realen Liebesverkebr
durch das verjüngte Ebenbild des Ermordeten ersetzt wird (wie im Hamlet durch den
Bruder).
^) Phädra II, 5: „Des Theseus Witwe glüht für Hippolyt." Das gleiche Motiv
findet sich auch in Rac ine's „Mithridate" (S. 141 ff.).
15G IV'. l^as Stiefmutter-Thema.
stelle, eine Phantasie, die dem Durchbruch der Aggressivität des
Sohnes gegen die Mutter entspricht. Hier begegnen wir einem
bemerkenswerten Zug, der sich auch wieder als typisch erweisen
wird. Gegen alle Erwartungen, die man für das Verhältnis von Vater
und Sohn mitbringt, wirft sich Theseus, weit entfernt der Verleum-
dung zunächst zu mißtrauen, sofort ohne jede Überlegung auf den
Verdacht:')
Nachdem sich deine frevelhafte Glut
Bis zu des Vaters Bette selbst verwonjen,
Zeigst du mir frech noch dein verhaßtes Haupt V
Psychologisch ist dieser befremdende Zug sehr richtig moti-
viert: der Vater kann diesen gräßlichen Verdacht so leicht akzep-
tieren, weil er längst in seinem Unbewußten rege gewesen war, weil
er nur seine geheimen Befürclitun^en ausspricht;-) Oenone baut daher
ganz richtig auf „die vorgefaßte IMeinung seines Vaters" (III, 3). In
dem ])lötzlich so mächtig geweckten Haß gegen den Sohn ruft Theseus
den Fluch Neptuns auf ihn herab, der sich auch schrecklich erfüllt.
Auch hier tötet also, wie im Don Carlos, der Vater den Sohn nur
indirekt, durcli den Fluch, nachdem er selbst früher für tot gegol-
ten hatte. Der Sohn stirbt hier gleichsam durch den Wunsch des
Vaters, wie ja anderseits der Vater vom Sohne weggewünscht wird.
Nach dem Untergang Hippolyts gesteht Phädra die falsche Beschul-
digung und ihre sträfliche Neigung zum Sohn ihres Gatten. Dann
nimmt sie Gift und stirbt so mit dem Sohn gemeinsam (wie in Al-
fieris Philipp), eine vSymbolisierung der geschlechtlichen Vereinigung,
die in Schillers Carlos schon nicht mehr möglich war.
Von großem psychologischen Interesse ist es nun, den Fortschritt
der Verdrängung vom „Hippolytos" des Euripides bis zu
Rac ine's „Phädra" zu verfolgen. Bei Euripides steht der leibhaf-
tige Vater (wie im „Don Carlos") immer zwischen Mutter und Sohn,
die hier nicht einmal zu einer Aussprache zusammenkommen. Die
äußeren Hindernisse sind also hier gehäuft, denn die inneren Wider-
stände sind noch nicht so mächtig, um den unverhüllten Durchbruch
der verdrängten Regungen allein hindern zu können. Bei Racine sind
diigegen die inneren Hemmungen schon so groß, daß trotz der Ab-
wesenheit des Vaters (Tod) und des Geständnisses der Mutter der
wirkliche Inzest nicht vollzogen wird. Auch fehlt bei Euripides
die von Racine frei erfundene Person der Aricia, auf die Hippoly t
seine Neigung zur Mutter überträgt. Dafür ist aber Hippolyt als
Weiberhasser dargestellt, was ja auch auf eine bestimmte Abwehr-
') In ähnlicher Weise glaubt auch Alfieris Philipp, nur mit einer Verschie-
biinp vom Sexuellen aufs Politische (wie auch in SchillerH Carlos), unbedenklich an
die Auflehnung des Sohnes, indem er seinen Käten, ganz wie Schillers Philipp
mehr traut als dem Sohn.
'^) Trn rrjeichcn Sinn kn.nn Hamlot (T, 5), als ihm des Claudius Tat ge-
offenbart wird, ausrufen: „U mein prophetisches Gemüt! Mein Oheim!"
Der „Hippolytos" des Euripides. 157
form der Neigung zur Mutter zurückgeht. Je weiter also die in den
großen Dichterindividualitäten sich manifestierende säkulare Verdrän-
gung fortschreitet, die inneren Widerstände wachsen, desto mehr
kommt die Mutter dem Stiefsohn mit ihrer Liebesneigung entgegen
(ein Wunsch des Sohnes), desto geringer können also die äußeren
Hindernisse werden, ohne daß ein Durchbruch der unterdrückten
Regungen zu befürchten wäre.
Daß in dem freieren oder gehemmten Entgegenkommen der
Mutter dem Sohn gegenüber tatsächlich der Kern des Phädra-Problems
getroffen ist, dafür liefern die anderen Behandlungen desselben Stoffes
weitere Beweise. Vor allem hat Euripides selbst zwei Tragödien
unter dem Titel Hippolytos geschrieben : Der erhaltene, eben be-
sprochene, heißt der „bekränzte Hippolyt" (arscpavr^cpopoc) nach dem
Kranz, den Hippolyt der jungfräulichen Göttin Artemis weiht, und den
man also wohl auch den „keuschen Hippolyt" nennen könnte.^) Der
zweite, von dem nur wenige Bruchstücke erhalten sind, soll der „ver-
hüllte Hippolyt" (y.aXoTTTojxsvyc) geheißen haben, weil sich Hippolyt aus
Scham über das offene Liebesgeständnis Phädras das Haupt verhüllt
haben soll (Christ: Gesch. d. griech. Lit.). In diesem Hippolyt
war, dem Geständnis der Phädra entsprechend, ihr Charakter frecher
gestaltet (Fr. 433 und 436). Wilamowitz (Anal. Eurip. 210 ff.)
sagt sogar, daß im ersten Hippolyt Phädra herausfordernd bis zur
Schamlosigkeit gewesen sei. Diese Tragödie soll aber, wie Christ
bemerkt, Anstoß erregt haben, weshalb sie Euripides in die auf
uns gekommenen Gestaltung milderte. Während im ersten „Hippo-
lytos" Phädra ihre Liebe noch freimütig gesteht, versucht sie im zwei-
ten sogar die Abwehr:
— — — — — Ich begann
Damit, zu schweigen, und verbarg des Leidens Qual.
Und endlich als mit alle dem ich nicht vermocht,
Des Triebes Herr zu werden, wählt ich mir den Tod
Als sicheres Mittel. — — — — —
Erst die Amme muß ihr, ähnlich wie in Ra eine's Phädra, das Ge-
ständnis ihrer Liebe abringen, indem sie ihr den Gegenstand ihrer
Leidenschaft: „Hippolyt", nennt. Die Abwehr Phädras äußert
sich in der charakteristischen Wendung: „Von dir und nicht von
mir hörst du das Wort." (Ähnlich bei Racine: „Du nanntest
ihn, nicht ich" I, 3).^) Aus diesem und ähnlichen Details, sowie
^) Daß dem Stoff das Thema der erotischen Fixierung des Sohnes an die
leibliche Mutter innewohnt, ließe sich bei der Deutung des zu Grunde liegenden
Mythos daraus wahrscheinlich machen, daß der Weiberhaß und damit auch die Ab-
neigung gegen die Stiefmutter damit begründet wird, daß Hippolytos der jung-
fräulichen Artemis seine Liebe geweiht habe. Die Amazone aber, als deren
Sohn Hippolytos gilt, ist mit der Artemis irgendwie verwandt.
^) Vgl. Freuds Bemerkung im Bruchstück einer Hysterieanalyse (S. 61,
Anm. 1): Als er der Patientin einen unbewußten Gedanken, den sie sich noch ans-
lf)8 IV. Das Htieftnntter-Tlipma.
aus der ofanzcn Kolln, dif ihr in der Handluiip^ zufidlt, gewinnt man
den KindriK'k. da(j die Amme, idinlicli Avie der Seher Tereisias im
Üdij)us, nichts anderes als eine Projektion des Unbewußten, eine
Verkörperung der Regungen darstellt, die sieh Phädra selbst nicht
einzugestehen wagt.
Was den persönlichen Anstoß zu einer solchen ]\Iilderung des
ersten Hippolvtos bei P^uripides selbst gegeben haben mag,
läßt sich vielleicht vermuten, aber bei den spärlichen biographischen
CberliotVruTigen über die attischen Tragiker wohl schwer beweisen.
Jedenfalls kann diese Milderung nur einer verstärkten Ablehnung
entsprungen sein, welche die zweite gleichnamige Tragödie fast zu
einem Gegenstück (zur Abwehr) der ersten machte (wie bei Schillers
Carlos- und Phildra-Bearbeitung). Im ersten Hippolytos verhüllt der
Sohn sein Augesicht vor Scham, im zweiten die Mutter (Welcker: die
griech. Trag.). Auch will Welcker wissen, daß Euripides den
Hippolytos aus Verdruß über die losen Sitten seiner Frau Chorilla
geschrieben habe, wie er überhaupt seinen Zeitgenossen und dem spä-
teren Altertum als Weiberfeind galt. Auch das würde ja auf die
Verdrängung einer ursprünglichen Neigung zur Mutter hinAveisen (das
Thema des zweiten Hippolytos), die anderseits wieder seine beiden
angeblich unglücklichen Ehen begreiflich erscheinen ließe (vgl. Byrons
Ehe). Ob es auch in seiner Familie zu Konflikten mit seinem Sohn
wegen der Stiefmutter (der zweiten Frau) kam, ist nicht bekannt,
ließe sich aber aus seiner Parteinahme für den Vater schließen. Das In-
zestmotiv ist bei Euripides keineswegs vereinzelt und man darf
diese Tatsache trotz der damals — auch nicht zufällig — herrschenden
Stoffe gewiß auch psychologisch werten. Daß diese Häufung von Inzest-
stoffen und die Art ihrer Behandlung bei Euripides den Alten
bereits auffällig war, beweist die Polemik des Aristophanes, der
in seinen „Fröschen" den Tragiker Aischylos auftreten und dem
Euripides die Vorliebe für das Motiv der Blutschande vorwerfen
läßt. Dort findet sich auch der Hinweis auf eine verlorene Tragödie
des Euripides: Sthenebüa," die einen ähnlichen Stoff wie die Phä-
dra behandelt haben soll. In ähnlicher Weise wie den „Hippolytos"
behandelte Euripides einen anderen, auch sonst bei den Tragikern
beliebten Stoff: die Geschichte des Phönix, die Homer ihn selbst
in der Ilias (IX, 447 ff.) erzählen läßt:
„iSo wie ich Hellas verließ, das Land der rosigen Jungfraun,
Fliehend des Vaters Zorn, des Orraeniden Amyntor,
Der um die Lagergenossin, die schön gelockte, mir zürnte:
Diese liebt er im Herzen, die ehliche Gattin entehrend,
zosprecben scheut und wozu sie vielleicht auch noch nicht fähig ist, vorhält, ant-
wortet sie: „Ich wußte, daß Sie das sagen würden." Freud bemerkt dazu: „Eine
sehr häufige Art, eine aus dem Verdrängten auftauchende Kenntnis von sich wegza-
Bchieben."
Die Verführung durch die Stiefmutter. 159
Meine Mutter. Doch stets umschlang sie mir flehend die Knie,
Jene zuvor zu beschlafen, daß Gram sie würde dem Greise.
Ihr gehorcht ich und tats. Doch sobald es merkte der Vater,
Rief er mit gräßlichem Fluch der Erinnyen furchtbare Gottheit,
Daß nie sitzen ihm möcht auf seinen Knien ein i^öhnlein.
Von mir selber gezeugt; und Fluch vollbrachte der grause
Unterirdische Zeus, und die schreckliche l'ersephoneia.
Erst zwar trieb mich der Zorn, mit dem scharfen Erz ihn zu töten;
Doch der Unsterblichen einer bezähmte mich, welcher ins Herz mir
Legte des Volkes Nachred und die Schmähungen unter den Menschen :
Daß nicht rings die Achaier den Vatermörder mich nennten.
Eng anschließend an die Erzählung Homers behandete auch
der römische Tragiker Enuius den Stoff. Euripides aber ver-
änderte die Fabel in charakteristischer Weise : bei ihm ist Phönix
unschuldig wie Hippolytos. Phthia, das Kebsweib seines Vaters,
verfolgt ihn mit ihren Liebesanträgen, wie Phädra den Hippolyt,
und als er ihr widersteht, verleumdet auch sie ihn beim Vater, daß
er ihr in unerlaubter Leidenschaft nachstelle. Euripides modifiziert
also den Stoff ganz nach dem Muster des „Hippolytos'' und auch
die Strafe des Sohnes fehlt im „Phönix" nicht, die hier in seiner
Blendung durch den Vater besteht.^)
Das Motiv der falschen Beschuldigung durch das Weib des
Vaters („Potiphar-Motiv") ist in Mythus und Literatur weit verbreitet
und entstammt gleichfalls einer bestimmten Konstellation des Ödipus-
Komplexes: Es sucht einerseits die Inzestphantasie des Sohnes vorwurfs-
los zu realisieren und gibt anderseits der Befürchtung Ausdruck, daß
der Vater Verdacht geschöpft haben könnte. Aus dem in Fülle
vorhandenen Material seien hier nur zwei Proben eingeschaltet. In
Heliodors „Aethiopika" (c. 9 — 17) erzählt Knemon seine Geschichte.
Wie sein Vater eine zweite Frau nahm und diese sehr lieb gewann,
wie sie sich ihm mit unziemlichen Anträgen näherte: ..wie sie mich jetzt
ihr liebes Kind, jetzt ihren Süßen, dann wieder des Hauses Erben und
gleich darauf ihr Leben nannte — mit einem Worte die anständigen
Namen mit den verführerischen mischte, und dabei acht hatte, welche den
meisten Eindruck auf mich machten; indem sie sich in den würdevollen
Ausdrücken als Mutter darstellte, in den unziemlicheren aber ganz deutlich
als das verliebte Weib sich kund gab." — Eines Nachts schleicht sie in
Abwesenheit des Gatten zum Sohne, „und suchte den verbotenen Genuß
zu erlangen." Der Sohn widersteht hartnäckig und die Frau beschuldigt
ihn beim Vater, er habe sie mißbandelt, worauf der Vater den Sohn
peitschen läßt. — Die Stiefmutter spinnt aber weiter ihre Eänke. Sie
') Vgl. dazu sowie zur Blendung des Ödipus meine Abhandlung „Über das
Motiv der Nacktheit in Sage und Dichtung. „Tmago" I, 1912, ferner den von mir
im Zentrallblatt f. Psa. II, 1912 mitgeteÜteu „seltsamen Ödipus-Tranra" sowie Stor-
fers Bemerkung zur Blendung des Ödipus (ebenda S 202).
160 IV. Das Stiefmutter-Thema.
stiftet eine Sklavin an, sich in den Sohn verlieht zu stellen und dieser
nimmt das Müdclien jede Nacht hei sich auf. Einst verrät sie ihm, daß
der V.iter ahwesend sei und die Stiefmutter einen Buhler hei sich hahe
und spornt ihn zur Kache an. Mit einem Dolch bewaffnet dringt er in
das Schlafgemach der Mutter mit dem Ausruf: „Wo ist der Verruchte?
wo ist der Geliebte der großen Tngendheldin?'' Aber aus dem Bett stürzt
der erschreckte Vater und bittet kniefällig um Gnade. Vor Schreck ent-
fällt dem Sohn die Wafte, worauf ihn der Vater fesseln läßt und vor die Richter
stellt, die ihn verbannen. Die Stiefmutter aber, die den Sohn nun um so
heißer liebt, wird von den Furien verfolgt. Die Sklavin, die ihr bei der
Täuschung des Sohnes gedient hatte, erbietet sich Rat zu schaflfen, indem
sie sich anheischig macht, ihre Gebieterin bei Knemon an Stelle seiner
jetzigen Geliebten nachts unterzuschieben. Sie beordert aber einen eifer-
süchtigen Geliebten und den Gatten hin, wodurch alles an den Tag kommt
und die Frau Selbstmord begeht.
Das gleiche Schema zeigt auch die Rahmenerzählung der „Sieben
weisen Meister". Ein König in Indien, namens Kurusch, hat einen
Sohn, den der weise Sindibad unterrichtet. Nach Beendigung der Lehrzeit
soll er zu seinem Vater zurückkehren, als Sindibad in den Sternen liest,
daß seinem Schüler ein Unglück drohe ; um demselben zu entgehen, dürfe
er während sieben Tagen nicht sprechen. Eine der Frauen des Königs
sucht den zurückgekehrten Prinzen zu verführen und zur Ermordung des
Vaters zu bewegen. Der Prinz entgegnet ihr zornig, in sieben Tagen
werde er ihr antworten. Die Königin klagt nun den Prinzen an, er habe
ihr Gewalt antun wollen, und sein Vater verurteilt ihn zum Tode. Ein
Wesir erreicht durch eine Erzählung von der Falschheit der Weiber, daß
der König die Hinrichtung aufschiebt, die Königin durch eine gegenteilige
Erzählung, daß der König wieder Befehl zur Hinrichtung gibt. Dies
wiederholt sich an den folgenden sechs Tagen, so daß die Erzählungen
weiterer sechs Wesire mit denen der Königin abwechseln — bis der achte
Tag kommt, wo der Prinz wieder reden darf. Er enthüllt seinem Vater nun
den wahren Sachverhalt, und die Königin wird bestraft (nach E. Gries-
bach: Die Wanderung der Novelle von der treulosen Witwe durch die
Weltliteratur, Berlin 1886, S. 54.)
Eine ^Fhädra" hat auch der römische Tragiker Seneca ge-
schrieben. Er hielt sich an die ursprüngliche frechere Auffassung
des Verhältnisses, vde sie auch in der vierten Heroide Ovids zu
finden ist. Während bei Euripides Phädras Liebe von der
Amme ausgesprochen wird, gesteht sie bei Seneca selbst dem Sohn
ihre Liebe; das Wort „Mutter" erschreckt sie aus seinem Munde, sie
bittet ihn, Schwester oder noch lieber Magd zu sagen, da sie ihm fol-
gen wolle, wohin er auch gehe. Bei Euripides hinterläßt Phädra
ein Schreiben mit der falschen Beschuldigung des Stiefsohnes; bei
Seneca bringt sie ihre Anklage persönlich vor, offenbart aber schließ-
lich auch selbst die Unschuld des Sohnes. Sie will mit dem Gehebten
wenigstens im Hades vereinigt sein und gibt sich selbst an seiner
Der Verdrängungsprozeß am Phädra-Thema. 161
Leiche den Tod (nach Schantz: Gesch. d. röm. Lit.). Wie man
sieht benimmt sich Phädra hier viel ungenierter sowohl dem Sohn
als auch dem Gatten gegenüber, was auch darin zum Ausdruck kommt,
daß die Amme fast ganz ausgeschaltet ist, als bedürften die geheimen
Regungen hier nicht der Projektion zu ihrer Äußerung.
Besonders interessant ist in dieser Beziehung die verloren ge-
gangene „Phädra" des Sophokles, über die Welcker einige Ver-
mutungen mitteilt. Bei Sophokles hat Phädra schon so entscheidende
Schritte getan, daß nicht eine Bekämpfung der I-eidenschaft in ihr,
sondern ein ganz anderer Charakter als der bloß leidenden Phädra
des Euripides zu vermuten ist. Bei Sophokles mußte die Amme
ihrer Herrin vielmehr Widerstand leisten.^) Die Darstellung einer so
unverhüllten Leidenschaft der Mutter für ihren Stiefsohn wird uns beim
Dichter des Ödipus nicht wunder nehmen. Hier bestätigt sich aber
auch die Richtigkeit unserer Auffassung des Stiefmutter-Motivs als
einer Abschwächung (Verschiebung) der Liebe zur leiblichen Mutter.
Der Genealoge Epimenides berichtet nämlich, daß Lai'os den Ödipus mit
der Eurykleia gezeugt habe, und das Schol. Eur. Phoeu. 13 (Fr. 6 F.
G. H. 4, 405) fügt hinzu, daß Laios zwei Frauen, Eurykleia und
Epikaste (=:Jokaste), geheiratet habe. Danach wäre also Jokaste
nur die Stiefmutter des Ödipus gewesen, wozu in Ro-
schers Lexikon bemerkt ist, daß diese Erklärung der Dinge einem
späteren Bedürfnis nach Milderung der inzestuösen Greuel
entsprungen sei.
Ganz ähnlich wie wir im IL Kapitel an drei verschiedenen
Stoffen den Fortschritt der Verdrängung studieren konnten, so sehen
wir hier au einem und demselben Stoff einen ähnlichen Prozeß sich
vollziehen, dessen Verfolgung uns von der schamlos herausfordernden
Phädra des Sophokles über die schon weniger schamlose, aber
immer noch aufdringliche Phädra des „ersten Hippolytos" (Eu-
ripides), bis zu der ihre Leidenschaft unterdrückenden Phädra im
„zweiten Hippoly tos" des Euripides führt, wo Stiefmutter und
Sohn gar nicht mehr zusammenkommen. Von da geht die Entwick-
lung zur Phädra Senecas, der entsprechend dem schamlosen Zeit-
alter Neros wieder auf die ursprüngliche Fassung zurückgeht, bis
endlich das Thema in der stilisierten Tragödie Rac ine's seinen sub-
limsten künstlerischen Ausdruck findet.
Kürzlich hat Gabriele d' Annunzio ein Versdrama: Phädra ge-
schrieben, das mir nur aus einer kurzen Inhaltsangabe bekannt ist. Der
erste Akt, in dem des „totgesagten" Theseus Eückkelir nach Athen er-
wartet wird, zeigt Phädras maßlose Leidenschaftlichkeit, die sich darin
äußert; daß sie eine dem Theseus als Geschenk bestimmte .Sklavin in
^ I Dieser Sophokleischen Phädra folgte O v i d in seiner vierten Heroide
and Metam. XV, 497 bis 528.
Bank, Das Inzestmotiv. jj
162 IV. Das Stiefmntter-Thema.
einer eifersüchtigen Kegunp; ersticht. Überhaupt sucht der Dichter, soweit
der Inhaltsangabe zu entnehmen ist'), die walinsiunige, «iliiliende Liebe l'hädras
für ihren Stiefsohn aus ihrer sinnlichen Leidenschaftlichkeit überhaupt zu
motivieren. Denn im Anfang des zweiten Aktes liegt Phädra wollüstig
auf ihrem Ruhebett und schlürft die Liebesbeteuerungen des ihr ergebenen
Aedes ein. Die zweite Hälfte des zweiten Aktes bringt den Höhepunkt
des Dramas, die große Szene, in der ]'hädra ihre walin.sinnige, glühende
Leidenschaft für den Stiefsohn Hijjpolytos ausströmt und ihn zu verführen
sucht. Er ist ermüdet auf ihrem Kuhebett eingeschlummert, da bricht
ihre Leidenschai't mächtig hervor. Furchtbar in ihrer Begehrlichkeit und
Sinnlichkeit weckt sie den Schlafenden mit einem Kuß. Hippolytos fährt
verwirrt empor: Das war der Kuß nicht einer Mutter. Nicht deine Mutter
bin ich, antwortet Phädra, und ein Strom glühender Liebesworte quillt von
ihren Lippen. Um jeden Preis soll der Stiefsohn ihr eigen werden ;2) sie
fordert ihn auf, sie lieber zu töten, als von ilir zu gehen : Keiß' mir das
Herz aus und du siehst darin nur dich ! Aber Hippolytos weist sie kalt
und unerbittlich zurück. Nun folgt die Anklage der Phädra bei dem ein-
tretenden Theseus. Sie klagt Hippolytos an, daß er sie entehrt
und sich in sündiger Leidenscbaft an der Stiefmutter vergangen habe. Im
letzten Akt erscheint Phädra an der Leiche des von einem wilden Roß
getöteten Hippolytos, um seine Unschuld sowie ihr eigenes Verschulden
zu offenbaren und stirbt dann durch Gift. - — In einer Besprechung des
Dramas bemerkt de Gubernatis (Die neue Phädra, Deutsche Revue,
Juni 1909), d' Annunzio habe in seinem Drama ein wenig von dem
verlorenen Hippolytos relatus, der den Athenern nicht gefiel, mit dem be-
rühmten Hippolytos coronatus, den wir nocli als Werk des Euripides
bewundern, zusammenflicken wollen. Als charakteristischen und schon im
Titel ausgedrückten Unterschied von den Dramen des Euripides und
S e n e c a s hebt er hervor, daß d' Annunzio, wie schon Racine, Phädra
in den Mittelpunkt der Handlung gestellt habe. Für die persönliche
Leidenschaft des Dichters an der Konzeption und Ausführung spricht die
Tatsache, daß das Werk in 17 Tagen niedergeschrieben wurde (Schillers
Phädra in 26 Tagen). — Eine merkwürdige ,,Phädra" hat jüngst Hans
Jjimbach (Bern, A. Francke, 1911) geschrieben. Sie schließt mit der plötz-
lichen Tötung des Hippolytos durch Theseus und dem Selbstmord der Heldin.
Das Phädra-Thema in modernem Gewände hat Malwida von Meysen-
bug, die Freundin Nietzsches, in einem zur Zeit des französischen Krie-
ges spielenden Kuman „Phädra" behandelt, wo die Liebe der Weltdame zu
dem Sohne ihres Mannes, den sie nicht hat kennen wollen, mit der sozialen
Tragödie des unehelichen Kindes verbunden ist. Ein auffallend ähnliches
Thema hat Kleist in seiner Erzählung „Der Findling" behandelt, die
eine eigenartig psychologische lOinkleidung des Odipus-Motivs (mit gehemm-
'; Inzwischen ist d' Annunzio'» „Phädra" in deutscher Übersetzung erschie-
nen Pinsel- Verlag, 1910).
-) Ähnlich verführt in Massinger's „The Bondmau" (II, 2) Corisca ihren
Stiefsohn (Koeppel, Quellen S. 97).
Moderne Phädra-Dichttmgen. 163
tem Inzestakt und straf weiser Tötung des Sohnes) darstellt. Auch hier
kehrt das bei Kleist typische Motiv des Liebesgenusses mit einer Ohn-
mächtigen (Marquise von 0. u. a.) wieder, das dann in seinem Liebestod
realisiert wurde. Ins Lustspielhafte gewendet erscheint das Motiv des un-
ehelichen Sohnes in Bernard Shaws: Mesaliance, wo der außereheliche
Sohn den Vater als den Verführer seiner Mutter mit dem Revolver bedroht.
11*
V.
Der Kampf zwisclien Vater und Sohn.
Zur Psychologie des Verwandtenmordes.
„Und — erklärt mir, Örindur,
Diesen Zwiespalt der Natur! —
Bald mücht' ich in Blut sein Leben
Schwinden sehn, bald — (sanft, fast weich) ihm vergeben".
Müllner (Die Schuld).
Mit der Verdrängung der erotischen Neigung zur Mutter und
dem Uubewußtwerden der auf ihren Besitz gerichteten Phantasien
))flegt sich, wie wir gesehen haben, die daraus folgende eifersüchtige
Abneigung gegen den Vater zu glühendem Haß gegen den bevorzugten
Nebenbuhler zu steigern. Die Intensität und Unsterblichkeit dieses
HaßafFekts wird nur verständlich, wenn man seine Herkunft und
ständige Speisung aus den unbewußten erotischen Quellen kennt. Hatte
das Kind früher zum ungestörten Alleinbesitz der Mutter die zeitweilige
oder völlige Abwesenheit des Vaters rein negativ gew'ünscht, so tritt
mit dem geschilderten Verdrängungsschub der deutliche Todeswunsch
gegen den verhaßten Nebenbuhler auf, der sich bis zum Mordimpuls
steigern kann. Eine Hemmung erfährt diese typische, jedoch gleich-
falls l)ald der Verdränffunj: verfallende Phantasie des Vatermordes im
kindlichen Alter kaum durch die Strafandrohung des Gesetzes, die ja
bekanntlich nicht einmal den Erwachsenen vom Morde abschreckt, als
vielmehr durch die äußere Erfahrung, die den Vater als mächtigeren
und stärkeren Rivalen anerkennt und ehrt, vor allem aber durch die
innerhch gegebene Empfindung der ursprünglichen Zärtlichkeit gegen den
N'ater, die von der späteren Haßempfindung wohl zum größten Teil aufge-
zehrt und verdeckt, aber in ihren unbewußten Spuren doch nie ganz
vernichtet werden kann. Sie ist es ja auch, der nach vollbrachter
^lordtjit und dem damit verbundenen Wegfall der Haßimpulse ein
großer Teil des ihr ursprünglich entzogenen Aftektbotrages wieder zu-
strömt und zu der uns als Reue bekannten Empfindung steigert, die
ohne eine Spur zärtlicher Gegenregung kaum denkl>ar wäre, wie ja
Die Verdrängungsschichtuug in der Mythenbildung. 1(55
die Fälle von reinem Haß zeigen, wo nach vollbrachter Tat nur die
Befriedigung darüber zum Ausdruck kommt.
Die erste Verdrängungsstufe des infantilen Ödipus- Komplexes
spiegelt sich, wie uns der griechische Mythus zeigt, in dem Sagenzug
wieder, daß die beiden nunmehr verpönten Handlungen und die ihnen
entsprechenden der Verdrängung verfallenen Phantasien nur bei Un-
kenntlichkeit der Eltern durchgeführt werden können. Ein nächster
Verdrängungsschub löst — wie wir paradigmatisch an Schillers
Don Carlos und seinen Parallelschöpfungen gezeigt haben — den
Komplex in seine zwei Komponenten auf: die Neigung zur Mutter
wird, immer noch der Wunscherftillungstendenz zuliebe (Verjüngung,
Brautabtretung), in die Neigung zur Stiefmutter oder weiterhin die
gemeinsame Geliebte oder Braut des Vaters abgeschwächt ; der Vater-
haß wird auf Kosten der verdrängten Mutterliebe verstärkt und er-
scheint von seinem libidinösen Widerpart getrennt in abnormer Über-
treibung und Fixierung. Wie Avir nun eine Reihe in der Verdrängungs-
linie liegender Stiefmutter-Phantasien kennen gelernt haben, so können
wir auch das weitverbreitete und in der Sagenüberlieferung fast aller
Völker wiederkehrende Motiv vom Zweikampf zwischen Vater und
Sohn entwicklungsgeschichtlich verfolgen. Dieses Motiv ist, trotzdem
es uns in alter Überlieferung entgegentritt, psychologisch betrachtet doch
bereits das Produkt einer zweifichen, ja oft mehrfachen Verdrängung,
yor allem erscheint der meist harte und unerbittliche Zweikampf in der
Überlieferung oft gänzlich losgelöst von seiner Wurzel, der sexuellen
Rivalität, und also unmotiviert. Zweitens bekämpft der Sohn nicht
bewußterweise seinen Rivalen, sondern der Kampf wird unerkannt
begonnen und zu Ende geführt und erst nach Tötung des Rivalen
stellt sich dessen Blutsverwandtschaft mit dem Sieger heraus. In
manchen Fällen, wo bereits der dritte von uns psychologisch als das
Vaterwerden charakterisierte Verdrängungsschub eingesetzt hat und die
Sage auch dem Standpunkt der reuigen, väterlichen Gefühle Rechnung
trägt, bleibt der Zweikampf unentschieden, indem die Erkennung vor
Beendigung desselben erfolgt oder eine zweite, zur Tötung bestimmte
Ersatzperson (Abspaltung des Vaters) eingeführt oder endlich, in einem
zur reuigen Selbstbestrafung führenden Verdrängungsstadium, der Sohn
von der Hand des Vaters fällt. Wird nun auch in den folgenden
Überlieferungen, die wir nur kursorisch zusammenstellen, der Zwei-
kampf in der Regel in Unkenntlichkeit der Blutsverwandtschaft ge-
führt, so möchten wir mit der Charakterisierung dieser ]\Iotivgestaltung
als eines Ausdrucks der Verdrängung doch nicht behaupten, daß dieser
Zweikampf etwa auch mythologisch in älteren Versionen als ein
bewußter erhalten sein müsse, sondern nur, daß er psychologisch
eine solche Vorstufe voraussetze. Ja, da wir annehmen müssen, daß
die Mythenbildung, also die Befriedigung in Gemeinschaftsphantasien,
erst mit der Verdrängung der individuellen Phantasien einsetzt, dürfte
schon den ersten zusammenhängenden mythischen Gebilden der Stempel
der Verdrängung anhaften.
IG'i V. Der Ivaiupf zwischen Vater uuil Sohn.
Im Anschluß an das Carlos- Thema gehen wir von einer Über-
lieferuno: aus, -welche den Ursjirung des Zwiespalts von Vater und
Sohn in der sexuellen Rivalität noch deutlich erkennen läßt, dafür
aber, gauz wie Schillers C^arlus-Drama, mit der Tötung des Sohnes
endet. Es ist die isländisch-norwegische Jörmunrek-Svanhild-
Sage.
Der rnjichtif^e Köui}; Jörmuurek wirbt auf den Kat seines Vertrauten
Bikki um Svanhild, die Tocliter Gudruns und »Sigurds. Sein Sohn Kandver
holt die Braut. Der räukevolle Bikki bezichtigt die beiden beim König
eines sträflicheu Verhältnisses; da läßt Jörmuurek seinen Sohn an einen
Galgen aufknüpfen und Svanhild von wilden Rossen zerstampfen.
(Nach Jiriczek: Die deatsche Heldensage. Samlg. Göschen.)
Wir finden hier einige bekannte Züge wieder. Die Einholung
der Braut des Vaters durch den Sohn, wie in Lop es Carlos-Drama,
und auch den psychologisch tief begründeten Zug, der den Vater
auf den leisesten Verdacht hin sofort von der Schuld des Sohnes über-
zeugt sein und ihn töten läßt.
Hieher gehört ferner die Sage von den Harlungen, Emrika
und Fritila, die Sibich bei ihrem Oheim Ermanrich verleumdet, sie
hätten ihre Augen auf die Königin, Ermanrichs Gemahlin, geworfen
und drohten sie zu belästigen. Ermanrich, von Zorn über ihre Ver-
wegenheit und von Habgier nach ihrem Hort getrieben, bringt sie in
Abwesenheit ihres Pflegers Eckehart hinterlistig in seine Gewalt und
läßt sie aufhängen (a. a. O.). Hier bezieht sich zwar der Eifersuchts-
haß des Gatten auf seine Neffen, aber nach der nordischen
Sage ließ Ermanrich seinen Sohn aus Eifersucht töten.
Die spätere Verschiebung vom Sohn auf die Neffen sucht Jiriczek
(a. a. O.) folgendermaßen zu erklären: „Das Motiv, das Ermanrich
sowohl seinen Sohn (nach nordischer Sage) als seine Neffen aus Eifer-
sucht erhängen läßt, ist sicher nicht zweimal unabhängig in die Sage
aufgenommen worden. Einer dieser Parallelfälle muß das Vorbild des
andern sein. Als die Sage die getötete Fürstin zur Gattin Ermanrichs
gemacht hatte — ein Vorgang poetischer Konzentration, der sicher
schon in Deutschland erfolgt war — , wurde gleichzeitig eine andere
Begründung ihres Unterganges notwendig, und diese fand sich am
passendsten in dem uralten Motiv von der Liebe zwischen
der jungen Frau und dem Stiefsohn. Für die Harlungen-
Sage reicht der Goldhort der Harlungen aus, die Gewalttat Ermanrichs
zu erklären: Habgier und Eifersucht sind Doppelmotive, während
anderseits die Hinrichtung des Sohnes in der späteren deutschen
Sage jeder Begründung entbehrt und sicher nie durch Habgier des
Vaters motiviert sein könnte. Offenbar ist hier das Eifersuchtsmotiv,
das die ältere nordische Überlieferung in diesem Zusammenhang be-
wahrt hat. entfallen, da die Svanhild-Sage in Vergessenheit geraten
war". — Daß die Eifersucht des Vaters in einer Überlieferung nicht
Die Ortnit-Sage. 167
motiviert ist, wird uns nicht wundernehmen, wenn wir einerseits aus
unseren psychologischen Untersuchungen wissen, daß die Motivierung
dieser Blutsfeindschaft eben verdrängt, unbewußt geworden ist und daß
anderseits die den Sagenschöpfer wie den Sagendeuter so befriedigende
Motivierung durch die Habsucht nur ein zur Ausfüllung der logischen
Motivierung vorgeschobenes Ersatzmotiv, eine Rationalisierung, ist, die
in der Realität ebenso gute Dienste leistet wie im Phantasieleben. Sie
ist hier nötig, um die Tötung des Sohnes durch den Vater bewußterweise
zu rechtfertigen und zu ermöglichen, die eigentlich aus sexueller Ri-
valität erfolgt (Svanhildsage) ^). Sobald wir uns jedoch den Sagen zu-
wenden, in denen der Zweikampf in Unkenntlichkeit erfolgt, tritt
auch das sexuelle Motiv zurück. Angedeutet ist die Rivalität um die
Mutter noch in der deutschen Sage von Ortnit und Alberich.
Ortnit, des Müßiggangs müde, zieht auf Wafientaten aus und erhält
von seiner Mutter einen wundertätigen Ring. Auf seinem Wege findet er
im Wald eine Menschengestalt am Boden schlafend, herrlich gekleidet,
die nur die Größe eines Kindes hatte. Er faßt den Kleinen an, der
aber gibt ihm einen so wuchtigen Schlag, daß davon dem Ortnit, der die
Stärke von zwölf Männern hatte, der Atem verging. Darauf nimmt
Alberich ihm mit List den Ring ab, der ihm die Fähigkeit verlieh, ihn
zu sehen und will das Kleinod nur unter der Bedingung wieder heraus-
geben, wenn ihm gestattet würde, über Ortnits Mutter zu sagen, was er
wolle. Ortnit erklärt sich nach längerem Weigern einverstanden. Kaum
hatte er aber den Ring am Finger und sah den Kleinen vor sich, da er-
griff er ihn am Hals und schrie ihn an: „Jetzt hab' ich dich in meiner
Gewalt, nun rede, doch wenn dir dein Leben lieb ist, wage nicht,
meine Mutter zu beschimpfen!" Das Messer hatte er gezogen
und wollte den wehrlosen Zwerg erstechen, doch der begann ruhig :
„Willst du mich töten, so mordet ein Sohn den Vater". Da ließ
Ortnit die Waffe sinken und sagte vor Zorn bebend: „Du mein Vater?
Sprich, welch Rätsel ist das?" „Nun," fuhr der Zwerg fort, „wenn du mich
anhören willst, so sollst du die Wahrheit wissen. Dein Vater und deine
Mutter lebten schon lange in der Ehe und hatten Glück und Frieden •
aber ein Wunsch blieb ihnen unerfüllt : es fehlte ihnen der Sohn, der ihres
Reiches Erbe werden sollte. Eines Tages saß die Königin auf ihrem Ruhe-
bett und klagte wieder über ihr Geschick, da trat ich in ihr Gemach und
gewährte ihr das, worum sie so lange flehte." Nach dieser Mitteilung
wird Ortnit schwermütig, reitet in der Rüstung, die ihm Alberich schenkt,
wieder heim vor das Burgtor, gibt sich dort für einen fremden Recken
aus und sagt dem Wächter, er habe seinen Herrn (Ortnit) erschlagen.
Erst beim Anblick der Mutter lichtet sich seine Geistesumnachtung.
In dieser Sage erkennen wir leicht eine typische Knabenphan-
tasie in ihrer Umarbeitung wieder. Es ist die Phantasie des Sohnes,
^) Auch in der 218. Erzählung von 1001 Nacht befiehlt Kamar-es Samans
seine beiden Söhne zu töten, die von den beiden Gattinnen Kamars sträflicher An-
träge beschuldigt werden. Die Jünglinge werden jedoch durch die Vorsehung gerettet.
1(38 \- '*<■'■ l^^aiupf zwisclieu \'ut('r und Sohn.
der sich bei seiner uDg^ctreuen Mutter an die Stelle des Vaters setzt
und ihr ein Kind, w'w er selbst ist, zeugt. Die Verführung der Mutter
ist hier dem Zwerg«' Alberich zugeschrieben, mit dem sieh jedcch der
Held insoferne identifiziert, als er sich selbst zum miichtigcn Vater
(Stärke von 12 ^lännern) und den Vater zum kleinen Kinde (zu
seinem Kinde) macht, das ihm aber doch — ganz wie der Vater dem
Kinde — mit einem wuchtigen Schlag die Besinnung zu rauben ver-
mag. Der King, mit dessen Hilfe man sonst Unsichtbares sieht, er-
möglicht, hier wie anderwärts,*) die Belauschung des elterlichen Bei-
schlafs, der eben von dem sichtbar gemachten Alberich erzählt Avird.
Und wie ein Abschluß der Beweiskette erscheint es, daß gerade diese
Situation der Bclauschung es ist, die dem Sohne in der Kegel den An-
laß zur Identifizierung mit dem Vater und zur Verachtung der Mutter
(„wage nicht, meine Mutter zu beschimpfen'*) bietet. Daß es sich dabei
um eine nicht mehr realisierbare Phantasie des Sohnes handelt, geht aus
seiner Resignation gegenüber dem bevorzugten und siegreichen Vater,
aus der daraus folgenden Schwermut mit den Selbstmordgedanken (An-
gabe, er habe sich selbst erschlagen) hervor.
Gänzlich isoliert von jeder IMotivierung begegnen wir dem in
Unkenntlichkeit vollzogenen Zweikampf zw'ischen Vater und Sohn in
einer uns erhaltenen Episode des altdeutschen Hilde brandliedes,
die etwa um 800 n. Chr. nach einer älteren Vorlage niedergeschrieben
wurde. Den Inhalt der Episode bildet ein vor den feindlichen Heeren
geführtes Zwiegespräch zwischen Hildebrand, der vor 30 Jahren den
Dietrich auf seiner Flucht zu den Hunnen begleitet hatte und jetzt
heimkehrt, und seinem Sohn Hadubrand, den er als unmündiges Kind
zurückgelassen und der nun der Versicherung des Alten, er habe
seinen Vater vor sich, keinen Glauben schenken will :
Er ließ im Lande kläglich sitzen
Die Junscfrau im Gemach und ein unerwachsen Kind.
Vermutlich ist er nicht mehr am Lehen
Der Alte versucht dem Sohne noch einen Armring zu geben,
doch der wittert auch hierin Verrat und nimmt ihn nicht an. Da ent-
schließt sich der Alte, da er niemand davon überzeugen kann, daß
ihm sein Sohn gegenüberstehe und im Angesicht der zwei Heere
nicht den Vorwurf der Feigheit auf sich laden will, schweren Herzens
zum Kampf:
Jetzt soll mich das liebe Kind mit dem Schwert hauen,
Totschlagen mit seiner Klinge, oder ich soll ihm zum Verderben werden.
Das aus dem VIII. Jahrhundert erhaltene Fragment bricht je-
dfich mitten im Zweikampf ab und last also dessen Ausgang unent-
*) Vgl. meine Abltandlung „Über das Motiv der Nacktheit in Sage und Dich-
tang" („Imago" 1912).
Das Hildebrand-Lied. 169
schieden. Seiner ganzen Anlage und seinem Ton nach läßt es aber
einen tragischen Ausgang erwarten. Nach Jiriczek ist durch das
Zeugnis einer altisländischen Sage, die deutsche Sagenerinneruugen
verwertet, der Tod des Sohnes von der Hand des Vaters anzunehmen,
während die jüngere Sagenüberlieferung (Ihidrek-Saga, deutsches Volks-
lied) den Kampf mit einer Versöhnung enden läßt. Wir sehen also
an diesem Beispiel die Verdrängungs- imd Milderungstendenz direkt
am Werke und müssen darum auch ursprünglich eine — wenn auch
unwissentliche — Tötung des Vaters annehmen, die auch durch die
letztangeführten Verse wahrscheinlich gemacht wird, in denen der
Vater zweimal seinen voraussichtlichen Untergang betont. Dann bewirkte
die Umwandlung im Sinne der reumütigen Vatergefühle die Tötung
des Sohnes, während eine noch spätere, sentimentale Zeit den seelischen
Konflikt durch die Aussöhnung beilegte. Im Sinne dieser Verdrän-
gungen können wir es auch nicht als zufällig bezeichnen, daß der an
der Sage vermutlich auch persönlich interessierte Schreiber gerade vor
der in der Überlieferung bereits schwankenden Entscheidung abbrach
und so dem Leser die Ergänzung je nach seinem persönlichen Emp-
finden gestattete. Wir dürfen hier einen bei der dichterischen Schöp-
fung aufgestellten Grundsatz auch auf die Mythenbildung und -Über-
lieferung übertragen, da wir häufig Gelegenheit zu seiner Anwendung
und Bestätigung finden werden. Wie die gegensätzlichen Charaktere
im Drama nicht etwa bloß bewußte Kontrasteinstellungen des Dichters
vertreten sollen, sondern der notwendige Ausdruck seelischer Kon-
flikte, unbewußter Gefühlsspaltungen sind, so erweisen sich auch in der
mythischen Überlieferung widersprechende oder abweichende Versionen
desselben Themas als Erfolg eines aas der Verdrängung hervor-
gegangenen psychischen Widerspruchs und ergänzen daher einander
bei der psychologischen Analyse und Synthese.
Ehe wir den Vorläufern und weit verbreiteten Parallelschöp-
fungen der Zweikampfepisode im Hildebrand-Lied nachgehen, sei eine
vermutlich spätere Überlieferung angeführt, die — mit der uns schon
bekannten Doppelseitigkeit des Inzestkomplexes — auf Grund einer Ab-
schwächung des Vaterhaßmotivs, dessen Herkunft aus dem Verhältnis
zur Mutter deutlicher verraten darf. Es handelt sich um die von der
Marie de France^) poetisch bearbeitete Sage von Milun, den
Hertz^) als den bretonischen Hildebrand bezeichnet hat.
Milun, ein tapferer Ritter, schwängert ein Mädchen, welches die
Folgen fürchtet und ihm rät, das Kind ihrer weit entfernt wohnenden
Schwester zum Aufziehen zu übergeben. Der Ring, den sie von Milun
erhalten hat, sowie ein den Namen des Vaters enthaltender Brief werden
') Die Lais der Marie de France, herausgegeben von Karl Warnke. Mit
vergleichenden Anmerkungen von Keinhold Köhler (Halle 1885). Bibliotheca Nor-
mannica, Denkmäler norm. Literatur u. Sprache, herausgeg. v. Herm. Suchier, B. HI.
2) Poetische Erzählungen nach altbretonischen Liebessagen. Übersetzt von
W. Hertz. Stuttgart 1862.
170 V. DiT Kampf zwischen Vater und Sohn.
dem Kinde mitgegeben, damit es dereinst im stände sei, den Vater zu finden.
Nach der (reburt und Wogscliaffung des Knaben zieht Milun auf Aben-
teuer aus, während das Mädchen vermählt, aber von ihrem Manne als eine
(icfallenc ins (Jefängnis gewurfen wird. Nun .schaltet die Erzählung, um
den Sohn heranwachsen zu lassen, einen Zeitintervall von zwanzig Jahren
ein, während welcher Zeit Milun und seine gefallene fTcliebte mit Hilfe
eines als lirieftaube verwendeten Schwanes miteinander korrespondieren.
Nach Ablauf dieser Frist kommt der herangewachsene Jüngling auf der
Suche nach seinem Vater in die Bretagne, wo er sich als tapferer Ritter
bewährt und alle (Jegner besiegt. Milun bangt um seinen bis dahin un-
bestrittenen Kulan ; nach langer Ruhezeit entschließt er sich wieder aus-
zuziehen, um mit dem fremden Ritter zu kämpfen und dann seinen Sohn
aufzusuchen. Unerkannt stoßen sie in hartem Zweikampf aufeinander, bis
endlich der Jun.re den Alten aus dem Sattel hebt. Als sich dabei der
Helm verschiebt und der Jüngling das weiße Haar seines Gegners sieht,
nützt er seine Überlegenheit nicht aus, sondern bringt ihm ein Pferd, da-
mit er den Nachteil wieder ausgleiche. Dabei bemerkt der Alte den Ring
an der Hand des Jungen und fragt ihn nach seinen Eltern mit der Mo-
tivierung, daß er noch keinen so tapferen Helden bestanden habe. Der
Jüngling erzählt hierauf ausführlich seine ganze Geburts- und Jugend-
geschichte, sie erkennen einander an Ring und Brief als Vater und Sohn
und der Jüngling beschließt, seine Mutter aus der Gewalt des ihr ver-
haßten Mannes zu erretten und sie dem Vater zuzuführen :
.Der Sohn rief: Ich vereine dich
Mit meiner Mutter sicherlich.
Hingeh ich, ihren Mann zu töten,
Und schaffe Frieden Euern Nöten."
Auf dem Wege zum Schloß, in dem die Mutter gefangen gebalten
wird, begegnet ilinen aber ein Bote mit der Nachricht, daß ihr Mann eben
gestorben und sie also frei und erlöst sei:
Sie dankte Gott mit Herz und Hand,
Als sie den schönen Sohn erkannt.
Und dieser, ohne je zu fragen,
Ob's den Verwandten wollt' behagen,
Führt seine Mutter nun in Ruh
Dem Vater als Gemahlin zu.
In dieser späten, dem Hildebrand-Lied so auffallend ähnlichen
Sage erkennen wir unschwer eine durch mehrfache Verdrängung ent-
stellte und ins Sentimentale gewendete Od i pus-Mythe wieder, nach deren
ursprünglichem Sinn der Sohn den Vater tötet und sich selbst —
nicht wie hier den Vater — mit der Mutter vereinigt. Kennen
wir überdies bereits aus der Hamlet- Analyse den zweiten Gatten der
^lutter als eine Ersatzfigur, die einerseits dem Vaterhaß ein freies, unge-
Deutung der Milun-Sage. 171
hemmtes Austoben gestattet (hier will der Sohn den Gatten der Mutter
töten), anderseits dem Sühn auf dem Wege der Identifizierung zur Durch-
setzung seiner auf direktem Wege gehemmten Inzestphantasie dient, so
wird uns die Sagenbilduug in ihrem psychischen Mechanismus und ihrer
Tendenz toII verständlich. Es will dann nicht mehr viel besagen, daß
hier auch der Stiefvater (der zweite Mann), ähnlich wie bei Hamlet, nicht
einmal vom Sohn getötet wird, sondern in einer weiteren Abschwächung
eines natürlichen Todes stirbt. Daß hier die geplante Rache am Vater
mit der schlechten Behandlung der Mutter motiviert ist, wird den
nicht tiberraschen, der diese ^Motivierung als typisch für die Rettungs-
phantasie ^) kennt, welche die Befreiung der an der Seite des Vaters
unglücklichen Mutter durch den Sohn zum Inhalt hat. Da nun aber
auch Hildebrand, genau so wie Milun, sein unglückliches Mädchen
und sein unmündiges Kind skrupellos verließ, so gewinnt es an Wahr-
scheinlichkeit, daß auch er wegen dieser schlechten Behandlung der
Mutter vom Sohne gestraft wird. Darauf deutet auch der entsprechende
Vorwurf, den Hadubrand in unserem erhaltenen Fragment gegen den
Vater erhebt:
Er ließ im Lande kläglich sitzen
Die Jungfrau im Gemach und ein nnerwachsen Kind.
Diese Vorstellung vom Unglück und der ersehnten Erlösung
der Mutter, sowie die ihr entsprechende Rettungsphantasie ist aber selbst
nichts Ursprüngliches, sondern eine in den späten Knabenjahreu vor-
genommene Rationalisierung der eigenen Sehnsucht nach der Liebe
der Mutter, die nun durch die Sehnsucht der Mutter nach Befreiung
gerechtfertigt wird. Ihren eigentlichen Ursprung nimmt diese Phantasie
in den frühesten Kinderjahren, wenn das Kind gelegentlich der Be-
lauschung des elterlichen Geschlechtsaktes die aus seinen Rauf-
spielen geschöpfte Auffassung gewinnt, der Vater tue der Mutter
etwas mit Gewalt an („sadistische Auffassung des Koitus" nach
Freud) und darum müsse sie aus seiner Gewalt befreit werden. Aus
dieser Situation stammt auch der im Stiefvater (zweiten Mann) ver-
körperte Wunsch, die Stelle des Vaters bei der Mutter einzunehmen.
In der vorliegenden Sage ist nun eine Verwandlung all dieser Motive
ins Sentimentale vorgegangen. Statt der Vatertötung ist die einer
späteren Verdrängungsschichte angehörige Vaterrettung getreten,
die dann weiterhin zur kompensatorischen Vater räche (Hamlet)
führte. Denn Milun rettet oder schenkt seinem unerkannten Vater
das Leben, indem er, von dem Anblick des weißen Haares gerührt, seine
überlegene Situation nicht ausnützt, vielmehr dem erbitterten und um
seinen Heldenruhm kämpfenden Gegner noch einen Vorteil verschafft.
Auch im d i p u s-Mythus kommt es am berühmten Kreuzweg zu einem
Zweikampf zwischen dem Sohn und seinem unerkannten Vater. Während
^) Vgl. Freud, Jahrb. II, 1910 und ßank: Lohengrin-Sage.
17l* \. iJcr Kainj)l zwisclieu \ ater und .Sohn.
aber dort die Erkennung^ des verhängnisvollen Irrtums erst lange
nach vollbrachter Mordtat erfolgt, tritt sie hier ein, bevor noch etwas
Schwerwiegendes geschehen ist. Und zwar erfolgt sie hier mittels des
Ringt'S und Briefes, welche Requisite -wir aus der Untersuchung über
den »Mythus von der Geburt des Helden' als ty[)ische Erkennungs-
zeichen des gegen seineu Vater aufrührerischen und nach seiner Mutter
begehrlichen Sohnes bereits kennen (vgl. auch in Kap. IX die Legenden).
Auch im H i 1 d e b r a n d-Fragment spielt ein Ring, den der Vater dem
Sohne libergebon will, den dieser jedoch miljtrauisch zurückweist, eine
nicht mehr gan;s verständliche Rolle. Doch dürfen wir wohl annehmen,
daß er urs])rünglich zur Erkennung des getöteten Vaters führte. Denn
auch in der Udipus-Sage ist es ein solches Erkennungszeichen, die
durchbohrten Füße, das die furchtbaren Taten des Sohnes erweist;
denn sonst könnte ja auch üdipus, wie Hadubrand, fest dabei bleiben,
daß er nicht seinen Vater vor sich hatte und nicht jener ausgesetzte
Sohn sei. Ebenso erfolgt im Odipus die Erkennung der ]\Iutter erst
nach \'ollzug des Inzests, während hier mit einer starken Wendung
ins Sentimentale die Erkennung zwischen ]\Iutter und Sohn den Inzest
unmöglich macht. Überhaupt scheint die unbewußte Wirkung der Gemüt
und Tränendrüsen in so ausgiebigem Maßeaffizierenden Erkennungsszenen,
die nach Frey tags Technik des Dramas (S. 88 ff) im griechischen
Drama dieselbe hervorrao-eude Stellunof einnahmen, wie die Liebes-
Bzenen im modernen, auf der erschütternden') und endlich in er-
lösender Weise beseitigten Möglichkeit zu bestehen, daß die beiden
einander unwissentlich bekämpfen (Vater und Sohn, Brüder) oder hei-
raten (Mutter und Sohn, Geschwister) könnten. Der unerkannte Zwei-
kampf zwischen Vater und Sohn stellt also das feindliche Gegenstück
zur unerkannten Heirat mit der Mutter dar, und wenn auch in einer
großen Sagengruppe nur der verhängnisvolle Zweikampf erzählt wird,
80 zeigt uns doch die Ö d i p u s-Sage, die beide ]\Iotive psychologisch
folgerichtig verbindet, daß der Sohn den Vater tötet, um von der
Mutter Besitz ergreifen zu können. Der Umstand aber, daß beide
Taten in Unkenntnis geschehen, spiegelt nur die psychologische Tat-
sache der Verdrängung dieser beiden Kinderwünsche wieder, die in
ihrem weiteren Fortschritt zur Isolierung des Vatermordimpulses und
weiterhin zu einer Milderung desselben im Sinne der Vaterrettung
und Vaterrächung führt.
') Vgl. Aristoteles Poetik (Reclam S. 41). „Denn eine solche Erkenn0ng
und Peripetie wird mit Mitleid (Rührung) oder Furcht (Erschütterung) verbunden
sein und derartijre Handlungen soll ja die Trat^üdie nachahmen," — „Wenn aher
leidvolle Kreignisse in freundschaftliche Verhältnisse eintreten, wenn z. B. ein Bruder
den Bruder tötet oder ein Sohn den Vater oder eine Mutter den f^ohn oder ein Sohn
die Mutter, oder \.enn er dies beabsichtigt oder etwas .Ähnliches ausführt —
Bolcben Stoff muß mau suchen" (S. 45). Als ein sentimentales Beispiel der Erkennung
von Matter und Sohn sei das in unseren Tagen vielgespielte französische Drama:
„Die fremde Frau" von Alex. Bisson erwähnt.
Parallelen zum unwissentlichen Zweikampf. 173
In seinen Anmerkungen zu den Lais der Marie de France verweist
Köhler (p. XCVI squ.) auf eine interessante Parallele : „Mit dem letzten
Teil des Lais von „Milun" hat ein anderer französischer Lai große Ähn-
lichkeit, nämlich der „Lai de Doon", der von Gr. Paris 1879 in der
Romania (VIII, 61 bis 64) zum erstenmal herausgegeben wurde und früher
nur in der altnordischen prosaischen Übersetzung der ,, Streng! eikar '' (Nr. IX
Douns liod) bekannt war. Doon, ein bretonischer Eitter, — so erzählt
der Lai — hat die Hand der Herrin von Edinburg nach Bestehen ge-
wisser von der Dame ihren Freiern aufgegebenen Proben erhalten, aber
schon am vierten Morgen nach der Hochzeit verläßt er sie. Beim Ab-
schied gibt er ihr seinen goldenen Ring und sagt ihr, wenn sie einen
Sohn von ihm zur Welt bringen und dieser herangewachsen sein werde,
solle sie ihm den Ring geben und ihn zum König von Frankreich schicken.
Die Dame bekommt einen Sohn, und als er reiten kann, gibt sie ihm
Doons Ring und schickt ihn nach Frankreich. Dort wird er ein aussre-
zeichneter Ritter. Auf einem Turnier zu Mont Saint-Michel in der Bre-
tagne kämpfen er und sein Vater, ohne einander zu kennen. Der Sohn
verwundet den Vater am Arm und haut ihn vom Roß herab. Nach dem
Turnier bittet Doon den Sieger, ihm die Hände zu zeigen, entdeckt an
dem einen Finger seinen Ring und gibt sich ihm als Vater zu erkennen,
worauf dann beide nach England ziehen und der Sohn den Vater zu seiner
jMutter bringt.
In beiden Gedichten also kämpft ein Sohn in einem Turnier zu
Mont Saint-Michel gegen seinen Vater und wirft ihn aus dem Sattel, und
in beiden erkennt der Vater den Sohn an dem Ring, den dieser trägt.
Schon G. Paris hat (a. a, 0. S. 60) auf die große Übereinstim-
mung der beiden Lais hingewiesen, aber doch nicht mit Sicherheit auf
denselben Autor zu schließen gewagt. Die Übereinstimmung mit dem
Milun und die Annäherung dieser Überlieferung an die Abkömmlinge des
Odipus-Komplexes gewiunt noch an Wahrscheinlichkeit, wenn wir dazu eine
andere Notiz von Paris (p. 3233) halten, die auch im „Doon de la Roche"
und in den „Enfances Doon de Maiance" die Errettung der Mutter aus
scliwerer Bedrängnis hervorhebt.
Wir lassen nun ohne besonderen Kommentar die weitverbreiteten
und oft in überraschender Weise übereinstimmenden Parallelen des Zwei-
kampfes zwischen Vater und Sohn folgen, deren reichhaltige Zusammen-
stellung wir zum größten Teil der unermüdlichen Sammelarbeit des
leider zu früh verstorbenen Reinhold Köhler^) verdanken. luden
allermeisten Überlieferungen ist der meist erbitterte und harte Zwei-
kampf gar nicht oder höchst unzulänglich motiviert, was uns als Folge
seiner Ablösung von der eigentlichen, früher der Verdrängung ver-
fallenen, Motivierung in der unbewußten sexuellen Rivalität verständ-
lich geworden ist. Entsprechend der in ihrem weiteren Fortschritt
auf das Vaterverhältnis selbst übergreifenden Verdrängung (Vergel-
1) Kleinere Schriften Bd. H. 259.
174 V. Der Kampf zwischen Vater und Sohn.
tiing) fjillt in fast allen Überlieferungen der Sohn, während in ande-
ren der Zweikampf unentschieden oder mit der Erkennung und sen-
timeutaltMi Aussöhnung endet.
Zur llildebran d-Öage bemerkt J i r i c z e k (1. c.) : ,. Das geschichtliche
Vorbild llildebrands ist der treue Gensimund. Der Namenswechsel trat
ein, als — wohl erst in Deutschland — die Sage vom Kampf zwischen
Vater und Sohn auf seine Gestalt übertragen wurde. Die Sage ist weit-
verbreitet : die Iren sangen und sagten schon im VIII. Jahrhundert von
dem tragischen Fall Conlaochs durch die Hand seines Vaters Cuchullin
(vgl. Pfeiliers Germania, X, 338; Campbell: Populär tales of the West
Highland, III/184). Im „Biterolf" bekämpft Dietleib seinen Vater Diete
als Feind, ohne ihn zu erkennen. Die Brüder Grimm bringen in ihrer
Ausgabe des Hildebrands-Liedes') noch folgende deutsche Parallelen. In
dem Roman von Olger Danske trift't Galder auf seinen Vater Göde, König
von Dänemark, ohne ihn zu kennen; beide streiten mit aller Kraft gegen-
einander, bis schließlich ihr verwandtschaftliches Verhältnis oflfenbar wird.
Paltrian und Wigamer entdecken noch vor dem Kampf, daß sie Vater
und Sohn sind. ^) An Bogsweiga gerät mit seinem Sohne, den er noch nie
gesehen, in einen Zweikampf ; er erkennt ihn erst an dem Armring, den
er der Mutter des Jünglings zum Wahrzeichen hinterlassen hatte. ^) Von
romanischen Parallelen fuhrt Köhler*) bei Besprechung von C. C. Ca-
safs Schrift über den seither von W, Förster vollständig herausgege-
benen Roman „Richars li biaus", in welchem ein Kampf zwischen dem
Helden und seinem Sohne vorkommt, folgende an :
Dans un roman provenpal d'Arnaud Vidal de Castelnaudary le h6-
ros du roman, Guillaume de la Barre et son fils (v, P. Meyer, Guillaume
de la Barre, Paris 1868, p. 20 et 27), dans le poeme anglais Sir Egla-
mour of Artoys (Ellis, Specimens, p, 537), Eglamour et Degrabell, dans
le poeme italien Anchroja Regina, Renaud de Montauban et Gui (v. Du
Meril, Hist. de la poesie scandinave, p. 123), enfin les deux d'Ailly dans
la Henriade de Voltaire."
Dazu hat Gaston Paris in einer Redaktionsnote S. 414 folgendes
noch hinzugefügt: „On peut joindre a ces combats ceux de Nalabron et
Robastre dans Gaufrey, de Baudouin et du batard de Bouillon dans Bau-
douin de Lebaurc (eh. XXV), de Milon et des son fils dans le lai Milun
de Marie de France; celui de Renaud et d'Aimon dans Renaud de Mon-
tauban n'offre pas le mCme caractere. '^ Ferner trägt Köhler in seinen
Anmerkungen zur Marie de France als Beispiele des Kampfes zwischen
Vater und Sohn noch nach den Gauders mit seinem Sohne Gerant in Bert-
') Die beiden ältesten Gedichte aas dem 8. Jahrh, Cassel 1812, S. 77 u. ff.
^) V. d. Hagen: Deutsche Gedichte des Mittelalters. 1.
^) Vgl. Uhland: Schriften zur Geschichte der Dichtung und Sage, I, 1G5. —
In seiner dramatischen Dichtung: Herzog Ernst von Schwaben bat Uhland übrigens
die auch im Volksbuch überlieferte Auflehnang gegen den zweiten „Mann der
Mutter' (Kaiser Ottoj behandelt.
■•; Revue critiqne d'histoire et de litteratare 1868, 11, 413 fg.
Parallelen zum unwissentlichen Zweikampf. 175
holds von Holle Demantin (V. 4870 ff".) und den Sadoc's mit seinem
Sohn Apollo im Prosaroman von Tristan le Lt^onois (in des Grafen von
Trenan Auszug in der Bibliotheque universelle des Romans, Avril 1776,
I, 67 Oeuvres choisies du Comte de Tressan, T. VII, Paris 1788, S. 31).
Man vergl. auch A. Wesselofskys Bemerkungen (Arch. f. slav. Philol.
III, 588) und F. Lieb recht, zur Volkskunde (S. 406). Endlich hat Orest
Miller im I. Kapitel seines russisch geschrieben Buches „Hja Murometz
und das Kiewsche Heldentum", ISt. Petersburg 1869, abgesehen von sla-
wischen Beispielen noch (nach Köhler, Kl. Sehr. II) folgende ent-
ferntere Parallelen angeführt. Desrames und Rainouard in der „Bataille
d'Aliscaus", Malveris und Ysorö in der „Prise de Pampeluue", Androni-
kus und seiu Sohn in einem griechischen Volkslied (s. M. B ü d i n g e r, Mittel-
griech. Volksepos, Leipzig 1866). Ein anderer russischer Gelehrter,
A. Kirpif' niko w, hat in seinem Buche: ,, Versuch einer vergleichenden
Theorie des westländischen und russischen Epos. Die Gedichte des longobar-
dischen Zyklus" (Moskau 1873, S. 170) zu Millers Beispielen noch nachge-
tragen, 1. daß im „Gui deBourgogne" die Kinder Frankreichs unter Füh-
rung eines von ihnen gewählten Königs, des Gui, nach Spanien ziehen, wo
ihre Väter seit langen Jahren weilen, und daß ihre Väter sich, ohne sie
zu kennen, zum Kampfe gegen sie bereiten; 2. daß im „Gaydon'' Gay-
dons Kampf gegen Karl ein Krieg der Söhne mit den Vätern ist, in dem
die Söhne Sieger bleiben; 3. daß in „Parise la duchesse" der Vater seinen
Sohn, ohne ihn zu kennen, belagert, aber ein eigentümliches Mitgefühl
empfindet. „Die ersten zwei Beispiele" — bemerkt Kirpirnikow — „sind
interessant als kollektivisch, das letzte durch Verwandlung des Kampfes
in eine Belagerung". In bezug auf das dritte Beispiel ist K. ungenau: der
Vater — Raymond, Herzog von Saint-Gilles • — belageri nicht seinen
Sohn — Hugues — , sondern seinen Vasallen Clarembaut, in dessen Dienst
allerdings Hugues steht. Dagegen findet bei einem Ausfall der Belagerten
ein wirklicher Einzelkampf zwischen Raymond und Hugues statt, in wel-
chem der Sohn den Vater aus dem Sattel wirft. In diesem Kampf sagt
der Herzog in bezug auf Hugues (S. 65 der Ausgabe von Guessard und
Larchey) :
II ne sai que ce vant ne ä que ce puet aler,
Orandroit l'am je plus que nul home charnel.
Auch s s i a n s schönstes Gedicht, Karthon, behandelt die gleiche
Fabel (Vgl. Jahrb. f. rom. Lit. 2, 195). Klesamohr hat seinen Sohn
Karthon noch nie gesehen, weil er vor seiner Geburt fliehen mußte,
und weiß daher nicht, daß er ihm nun als Feind gegenübersteht.
Karthon sucht, wie der alte Hildebrand, den Streit zu vermeiden, da
ihm ahnt, der Gegner könne sein Vater sein. Der Alte aber besteht
— wie im Hildebrandlied der Sohn — auf dem Kampf und sticht
den Sohn in die Seite, der sterbend seinen Vater nennt. Aus Gram
darüber stirbt der Alte vier Tage nachher. Aus dem psycho-
logisch vollkommen zutreffenden Umstand, daß der Gegner, der auf
17(i \. Der Kampf zwischüu \ ater iiml Sohn.
dorn Zweikampf besteht, auch Sieger bleibt, möchten wir auch für
das llildebrand-Lied auf den ursprUn«>:lic'heu Tod des Vaters schlie-
ßen. Derjenige von den Gegnern, welcher mit inneren Zweifeln
in den Kampf zieht, wird nicht seine gesamte Energie im Streit
verwerten können und muß also eher fallen; im Hi]debrand-Lied
wäre der Sieg des Vaters gleichbedeutend mit dem bewußten Mord
des erkannten Sohnes und darum hat gerade der Ausgang die-
ses Zweikampfes so mannigfache Modifikationen erfahren. Die my-
steriöse „Stimme des Blutes", die zu Hiklebrand spricht und die auch
Karthon vom Zweikampf abhält, ist psychologisch nur ein Ausdruck
dieser aus der zwiespältigen infantilen Einstellung folgenden Unent-
schlossenheit.') Überaus deutlich zeigt sich dieses Schwanken der Emp-
findung, die bald dem Sohne, bald dem Vater den Sieg zuweist oder
ihre Erkennung und Versöhnung herbeiführt, in der russischen Sage
von Ilja von ]\Iurom, der mit seinem unbekannten Sohn kämpft
und ihn tötet. ^) „Nur einige Lieder kennen auch einen glücklichen Aus-
gang, aber diese sind unvollendet und mangelhaft. Merkwürdig ist,
daß in allen diesen Liedern der Kampf in zwei Teile zerlegt wird.
In dem ersten ist der Sohn immer siegreich und Ilja seinem Unter-
gang nahe, sammelt seine letzten Kräfte, bewältigt den Sohn, erzwingt
von ihm seinen Namen nach dreimal wiederholter Anrede, und er-
falirend, daß es sein unehelicher Sohn ist, entläßt er ihn. Der
Sohn kehrt zur Mutter Latigorka zurück, erfährt die Wahrheit der
Aussage und will nun seine und der Mutter Schande rächen.
Er greift Ilja im Schlafe an, wird aber von dem Erwachenden an
der Erde zerschmettert." (Das russische Volkepos von Bistrom, VI, 132 f.).
In dieser interessanten Überlieferung greifen wir nicht nur den Ver-
drängungsfortschritt im Haß gegen den Vater, sondern auch dessen
Ursprung aus dem Mutterkomplex mit Händen. Der erste Teil der
Lieder, in dem der Sohn siegreich bleibt, verrät noch deutlich
die ursprüngliche Tendenz der Vatertötung, die später zur Besiegung
des Sohnes und in der vorliegenden Überlieferung bereits zu einer
Begnadigung (Rettung) abgeschwächt wurde. Der zweite Teil verrät
uns aber aufs unzweideutigste den zu Grunde liegenden Ödipus-Kom-
plex, wobei die Unehelichkeit des Sohnes nicht so sehr der Abschwä-
chung wie der Rechtfertigung im Sinne des kindlichen Familien-
romans dient. ^) Die Auffassung des in seine Mutter verliebten Kindes,
daß die Mutter durch den Geschlechtsakt mit dem Vater geschändet
*) In Anzenprubers Roman: „Der Schandfleck" heißt es (Ö. 324): „Was
auch die Leute schwätzen von verwandtem Blut, das ordentlich aufsieden müßte,
wenn sich Kind und Eltern, auch uugekannt, zusammenfinden, das ist doch nur
gefabelt."
^) Fürst Wladimir und seine Tafelrunde. Altrassische Heldenlieder. Leipzig.
1819, S. 75 fF. Vgl. auch Orest Miller: „Da.s Hildebrand-Lied und die russischen
Lieder von Ilja Murometz" (Arch. f. d. Studium d. neueren Sprachen XXXIII,
1863 p. 267.).
*) Vgl. den Mythus von der Geburt des Helden.
Die iranische Rüstern- Sage. 177
sei, wird hier durch die uneheliche Geburt des Sohnes gerechtfertigt
(rationalisiert) und der Umstand, daß der Sohn versucht, dafür den
Vater im Schlaf zu töten, weist deutlich auf die infantile Situation
im Schlafgemach der Eltern, wo dieser Komplex seine entscheidende
Verstärkung und Fixierung empfängt. Die Tötung des Sohnes ist
entsprechend der schon im ersten Teil der Sage angedeuteten
reuigen Verdrängungstendenz im zweiten Teil wirklich durchgeführt.
Wir wiederholen hier die bereits erwähnte Einschränkung, daß wir
für unsere Rekonstruktion der ursprünglichen Motivgestaltung lediglich
psychologische und nicht auch literarische Geltung beanspruchen. Daß
es eine ursprünglichere Überlieferung von der Tötung, vielleicht sogar
dem bewußten Mord des Vaters gab, ist wahrscheinlich, aber nicht
unbedingt erforderlich. Die Auffassung der vorliegenden Überliefe-
rungen als sekundärer Bildungen bezieht sich nur auf ihre psycho-
logische Vorstufe, gleichgültig, ob diese nun literarischen Niederschlag
gefunden hat oder nicht, ^^'ie aber unsere psychoanalytische Durch-
forschung des individuellen Seelenlebens und die hervorgehobenen auf-
fälligen Merkmale der Sagenüberlieferung zeigen, kann die Überliefe-
rung von der Tötung des Sohnes nur als eine Reaktionsbild uug auf
die ursprünglich erfolgreiche Auflehnung des Sohnes gegen den Vater
aufgefaßt werden.
Der besonderen Hervorhebung wert ist die berühmte in
Firdusis Königsbuch (Schah-nameh, übers, v. Görres) erzählte
Episode vom Zweikampf des berühmten Helden Rustem mit seinem
unerkannten Sohn Sohrab ^). Auch hier zieht der noch knabenhafte
Sohrab auf die Suche nach seinem Vater aus, um die Schmach seiner
Mutter Tahminah, die nur als Geliebte Rustems gilt, zu rächen (sie ist
oben Mädchen, unten Schlange). -)
Rustem hatte sich einst, auf seinen Zügen außerhalb Jrans,
mit einer turanischen Fürstentochter, die sich ihm angetragen hatte,
im Geheimen vermählt, sie aber gleich nachher verlassen, wie die
Väter in der Hildebrand-, Milun- und anderen Sagen. Endlich treffen Vater
und Sohn unerkannt aufeinander. Im Gegensatz zum Hildebrand-Lied, wo
der Vater von unbestimmten Ahnungen vom Zweikampf abgehalten wird,
ist in der Jran-Sage der Sohn von Besorgnis und trüben Gedanken
ergriffen, während der Vater — Avie im Hildebrand- Lied der Sohn —
das Freundschaftsanerbieten des Gegners mißtrauisch zurückweist. Da
nun die Jran-Sage nach einigen, der ambivalenten Einstellung Rechnung
tragenden Wechselfällen, mit dem Fall des Sohnes endet, so dürfen
^) Eine solare Deutung dieser Überlieferung liat Siecke in d. Zeitscbr. f.
Rel. Wissensch. I, S. 139 versucht. — Auf die Ähnlichkeit mit dem Hildebrand-Lied
hat Anthes (Weim. Jahrb. IV, 1856) hiusewieseu.
-) Zum Mutterchurakter dieses Schlaugenweibes vgl. man meine Abhandlung
„über das Motiv der Nacktheit in Sage und Dichtung" („Imago" I, 1912) sowie:
„Völkerpsychologische Parallelen zu den infantilen Sexualtheorien" (Zentralbl. f.
Psa. n, 1912, H. 7 bis 81
Rank, Das Inzestmotiy. 12
178 V. Der Kampf zwischen Vater und Sohn.
wir darin eine Bestätigung unserer Auffassung vom ursprünglichen
Untergang dos Vaters im Hildebrand-Lied sehen; denn wir mußten
schließen, daß die dunklen Ahnungen, die jeweils einen der beiden
Gegner schrecken, sich auf seinen bevorstehenden Fall beziehen, der
im Hildebrand- Lied den Vater, in der Jran-Sage den Sohn trifft. Daß
aber auch die Rustem-Sage in der gegenwärtigen Gestalt nicht die
psychologisch ursprünglichen Motive aufweist, zeigt das Detail des
Zweikampfes, der mit seinen WechselfilUen an die erwähnten russischen
Überlieferungen erinnert. Bei Firdusi dauert der Kampf mehrere
Tage und wird dreimal erneuert. Beim zweiten Gang unterliegt
aber seltsamerweise der als Held berühmte Vater dem noch knaben-
haften Sohn ^). Schon reißt Sohrab den Dolch aus der Scheide, um
dem Vater, den er noch nicht erkennt, den Kopf vom Rumpf zu
trennen, als dieser auf eine List verfällt: er beruft sich auf eine
Landessitte, wonach der Sieger den Besiegten erst töten dürfe, wenn
er ihn zum zweitenmal zu Fall gebracht habe. Es kommt also zum
dritten Kampf, vor dem aber Rustem sich von Gott seine Riesenstärke')
wieder erbittet, von der ihm früher auf seinen Wunsch ein Teil ge-
nommen worden war. Unter dieser Riesenstärke bricht nun Sohrab
wie ein Rohr zusammen. Tödlich verwundet gibt er sich dem Vater
zu erkennen und bezeugt die Blutsverwandtschaft durch einen Onyx,
den ihm die Mutter gegeben hatte.
Indem wir auf die von Ehrenreich 2) erwähnten polynesischen
und amerikanischen Parallelen zum Zweikampf zwischen Vater und
Sohn nur hinweisen, wenden wir uns der bedeutsamen, für uns in-
teressantesten und wertvollsten, griechischen Überlieferung zu, welche
die gleiche Sage vom unerkannten Zweikampf zwischen Vater und
Sohn in zwei seltsamen und einander psychologisch ergänzenden
Varianten auf Odysseus übertragen hat. Diese Überlieferungen sind
uns hauptsächlich durch die griechischen Tragiker, vornehmlich durch
die Tragödienfragmente des Sophokles bekannt, was uns erwünschte
Gelegenheit bietet, in die Stoffwahl und damit die Psychologie des
Ödipus-Dichters Einblick zu tun. Es kann uns nicht wundern, auch
in anderen Werken des attischen Tragikers den unbewußten Vater-
mord behandelt zu finden. So dürfte Sophokles eine solche Episode
der Odysseus-Sage in seiner Tragödie: 'Oouaöi'j? ctxavOo-rrjS v-j Nirrpa
(Odysseus vom Rochenstachel getötet oder das Fußbad) behandelt haben,
in deren Verlauf Odysseus von einem seiner unehelichen
Söhne, von Telegonos, dem Sohn der Kirke, getötet wird.
Die Tragödie selbst ist zwar nicht erhalten, aber ihr Inhalt läßt sich
aus der ebenfalls verlorenen, in ihren Fragmenten jedoch reichlicheren
Tragödie Niptra des römischen Dichters Pacuvius ergänzen.
^) Diese Übertreibungen spiegeln getrea die infantile Einstellung des Kindes
zam Vater wieder ; vgl. besonders den Kampf r t n i t s mit seinem Vater
Alberich.
') Die allgem. Mythologie und ihre ethnolog. Grundlagen. Leipzig, 1910.
Der Vaterkomplex bei Sophokles. 179
Da Odysseus die Weissagung erhalten hatte, er werde durch seinen
Sohn den Tod finden, hütete er sich vor Telemachos, seinem ehelichen
Sohn, dessen Umgang er sich sogar verbat, Einst kommt sein Sohn
Telegonos, den ihm die Kirke geboren hatte, nach Ithaka und will nachts
in den ihm unbekannten Palast des Odysseus eindringen. Beim Versuch,
ihn daran zu hindern, entsteht ein Lärm, durch den Odysseus geweckt
wird. In der Meinung, sein Sohn Telemachos wolle ihn
nächtlicher Weile überfallen, eilt er mit gezücktem Schwert
hinaus und kämpft im Dunkeln mit Telegonos. Im Verlauf des Kampfes
erhält Odysseus eine Wunde, an der er stirbt.
(Nach K i b b e c k : Die römische Tragödie.)
Charakteristisch ist auch hier wieder der Zug, daß Odysseus
gleich an einen Überfall seines Sohnes denkt, als ihn der Lärm vv^eckt,
ähnlich wie König Philipp und Theseus das angeblich gehässige Ver-
halten ihres Sohnes nicht überrascht. Auch bei Odysseus werden
also ähnliche Befürchtungen als immer rege vorausgesetzt und der
Orakelspruch, der ihm den Tod von der Hand des Sohnes weissagt,
ist nur ein Projektionsausdruck dieser unbewußten Befürchtungen.
Das nicht zu vermeidende Schicksal des Orakels erinnert, in seiner
mißverständlichen Auffassung an das Orakel des Ödipus: wie Ödipus
seinen Pflegevater Polybos für den im Orakel Genannten hält, so hält
auch Odysseus seinen Sohn Telemachos für den im Orakel genannten
Mörder, ohne an seinen anderen Sohn Telegonos zu denken. ^)
Im Verlaufe seiner Entwicklung muß aber auch bei dem attischen
Tragiker jener bedeutsame, aus der Vergeltungsfurcht entspringende
Umwandlungsprozeß aus dem Sohn in den Vater vor sich gegangen
sein, den wir allerdings hier aus Mangel an biographischem und lite-
rarischem Material nicht so im Detail verfolgen können, wie bei
Schiller (Kap. III) oder Shakespeare (Kap. VI), der sich aber
doch in der Stoffwahl entscheidend äußert, da der Dichter sich späterhin
nicht mehr dem Vatermord und Mutterinzest zuwandte, sondern der Be-
strafung des Sohnes und dem abgeschwächten (Stiefmutter-) oder
gänzlich verhinderten Inzest (Telephos). Das wenige, was uns von
persönlichen Daten über Sophokles berichtet ist, reicht merkwürdiger-
weise gerade hin, um unsere Auffassung sehr wahrscheinlich zu
machen, daß auch die Stoffwahl des attischen Tragikers, wenn sie
gleich nach den Moden der damaligen Zeit und auf Grund der ge-
gebenen Überlieferung erfolgte, doch von persönlichen Momenten
entscheidend beeinflußt war. Nach Christ (Gesch. der griech. Lit.)
soll Sophokles selbst einige außereheliche Söhne gehabt haben, außer-
dem hatte er von seiner Gattin Nikostrate einen rechtmäßigen Sohn,
Jophon, der ebenfalls tragischer Dichter war und sogar mit seinem
Vater um den Preis kämpfte. Aber auch von ernsten Zwistig-
^) Neuerdings hat Gerhart Hauptmann in einem Fragment gebliebenen
Drama „Telemach" diesem Stoffwiedernäher zu treten versucht.(Dieneaeßand8ch. 1910.)
12*
180 V. Per Kampf zwischen Vater mul Solin,
keiten zwischen Vater und Sohn wird berichtet, ja der Sohn khi<;te
den Vater bei den Blutsverwandten (cpf,aTops;) wegen Geisteszerrüttung
(rapovai'-yc) an. Es ist bekannt, daß »Sophokles seine geistige Klar-
heit dadurch bewiesen haben soll, daß er angeblich aus dem „Odipus
auf Kolouds"^ das Chorlied, das Athen verherrlicht, vorlas, worauf ihn
die Kichter freisprachen. Im selben „Odipus" hat Sophokles in der
harten Behandlung des Odipus durch seine Söhne Polyneikes und
Eteokles, in der Bestrafung also des Odipus für seinen Vatermord,
wahrscheinlich seine eigene Wandlung vom hassenden Sohn zum ge-
haßten Vater dargestellt. Den vullkummenen künstlerischen Ausdruck
hat diese Gefühlswandluug dann in der dramatischen Darstellung einer
anderen, gleichfalls der Odysseus-Sage entnommenen Fabel gefunden,
die Sophokles in seiner Tragödie „E u r y a 1 o s" behandelte. Wie der
„Odipus" und der „Telegonos" die Empfindungen des Sohnes
realisiert, also den Haß gegen den Vater (nebst der Neigung zur
Mutter), so entsprach der nicht erhaltene „Euryalos" den väterlichen
Gefühlen, also dem Haß gegen den Sohn, der so zugleich im Sinne
der ^'ergeltung die Bestrafung empfängt.
Inhalt und Vorfabel der Trafrödie lauten nach W e 1 c k e r : Nach
dem Hietje über die Freier war Udysseus gewisser Orakel wegen nach
Epirus gegangen und hatte dort mit Enippe, der Tochter seines Gast-
freundes Tyrirrmas, einen Jtiohn gezeugt, namens Eluryalos, den seine
Mutter, als er herangewachsen war, mit einem Erkennungszeichen
und einem verschlossenen Brief nach Ithaka sandte, um den Vater auf-
zusuchen. Odysseus war gerade vom Hause abwesend und seine Gemahlin
Penelope, die inzwischen seinen Treubruch mit Enippe erfahren hatte, be-
schloß, sich zu rächen. Sie bewog also den heimgekehrten Odysseus, bevor
er noch die Wahrheit erfahren konnte, den Euryalos als einen Feind zu
töten. So wurde Odysseus, ohne es zu wissen, der Mörder
seines Sohnes.
Diese Zweikampfepisode bringt die Odysseus-Sage, die wir im
IIL Kapitel (S.l 1 4 Anm.) mit dem Teil-Mythus in Parallele stellten, diesem
insofern noch näher, als ja auch dort der Vater dem Sohn — allerdings ge-
zwungen — {ins Leben geht. Interessanterweise finden wir auch hier
bereits das Erkennungszeichen (Ping) und das Schreiben, das ander-
wärts als Uriasbrief den Tod des Nebenbuhlers bewirkt, hier je-
doch zu seiner Erkennung nach vollbrachter Tötung durch den Vater
und in einer Reihe angeführter Überlieferungen in sentimentaler Ab-
schwächung zur vorherigen Erkennung des Sohnes dient. Daß die Gattin
des Odysi?eus den Mord aus Eifersucht veranlaßt, weist nicht nur auf den
sexuellen Untergrund d(s ganzen hin, sondern erinnert auch auffiillig
an den Uriasbrief, den räch Ilias (VI, 16(5 ff.) König Proitos dem
Bell eroph ontes mitgibt, den die (iattin des Königs nach einem ver-
geblichen Verführungsveisuch beim König unerlaubter Nachstellungen
beschuldigt. Hier schimmert eine liefere Motivierung für die An-
schuldigung des Euryalos durch die auch sonst von zudringlichen
Die Telephos-Fabel. 181
Freiern belästigte Penelope und für die Mordtat des Odysseus aus
Eifersucht durch, der ja auch sonst die seiner Gattin unbequemen
Freier skrupellos tötet. Daß nun tatsächlich ein solcher Zusammen-
hang in der durch Homer überlieferten Odysseus-Sage verloren gegan-
gen ist, läßt sich aus einer epischen Fortsetzung des homerischen Ge-
dichtes, der „Telegonie" des Eugammon (in zwei Büchern) er-
kennen, welche die späteren Schicksale des Odysseus und seines Ge-
schlechtes, zum Teil vermutlich in Umbildung der im homerischen
Epos nicht verwendeten alten Züge, behandelte. Auch von diesem
Epos, dem sich Sophokles in der „Niptra" angeschlossen hat, sind
nur Fragmente erhalten. Es* endete bezeichnenderweise mit zwei
merkwürdigen Eheschließungen : es nahm nämlich Telegonos
die Witwe seines Vaters, die Penelope, zur Frau,
während Tele machos, sein ehelicher Sohn, die Kirke,
die Mutter des Telegonos, heiratete. Ob sich Sophokles
und Pacuvius auch dieser Lösung anschlössen, ist aus den wenigen
erhaltenen Fragmenten ihrer Tragödien nicht mehr zu erkennen. Es
läßt sich aber auf Grund unserer bisherigen Erörterungen vermuten,
daß sie sich diese großartige Kompromißbildung nicht entgehen ließen,
wo jeder der beiden Sohne eines Mannes, die er von verschiedenen
Frauen hat, nach dem Tode des Vaters die Mutter des Bruders, also
gleichsam eine Art Halbmutter oder Stiefmutter heiratet. So finden
wir also bei Sophokles neben den Variationen des Verhältnisses von
Vater und Sohn, auch das Verhältnis zur Mutter hier in einer seiner
Abschwächungsformen, dem Stiefmutter-Thema behandelt. In einer
zweiten, noch weiter gehenden Form der Abwehr dürfte Sophokles
das Begehren des Sohnes nach der Mutter, wie W e 1 c k e r ausführt,
in seiner Tragödie „Telephos" behandelt haben. Dieser aus dem
Atalante-Mythus geschöpfte Stoff ist von Pacuvius zu einer Tragödie :
Atalante verarbeitet Avorden, deren Inhalt und Vorgeschichte
Ribbeck wiedergil)t:
Atalante hatte von Meleager einen Hohn, Parthenopäus, den sie zu-
sammen mit Telephos aussetzte, dem Sohn aus einer heimlichen Verbin-
duuo- der arkadischen Könii^stochter Auge mit Herkules. Die Knabeu
werden von eiuer Hirschkuh gesäugt, dann von Hirten gefunden und dem
König Korythos gebracht, der sie erziehen läßt. Auge war mittlerweile
nach Mjsien geflüchtet, wo sie der kinderlose König Teuthras an Kindes
Statt annahm. Auf den Rat des delphischen Orakels begab sich nun
Telephos mit seinem Freunde Parthenopäus nach Mysien, um seioe Mutter
aufzusuchen. Er hilft dem König Teuthras aus schwerer Not, indem er
dessen Feinde besiegt, und erhält zum Lohne dafür die Hand
der angeblichen Tochter des Königs, nämlich der Auge,
seiner eigenen Mutter. Da sie aber als Geliebte des Herkules ge-
lobt hatte, sich keinem anderen Mann hinzugeben, beschloß sie, den ihr
unbekannten Telephos im Hochzeitsgemach mit dem Schwert zu durch-
bohren. Aber eine von den Göttern gesandte Schlange erhebt sich
182 ^ • l'"'!" Kampf zwischen Vater und Sohn.
zwischen beiden und schreckt Auge von ihrem Vorhaben ab. Auf
ihr Geständnis will sie Telephos mit derselben Waffe töten. Da ruft sie
in ihrer An^st den Herakles an, dem sie ihre Jungfrauen schaft geopfert
hatte, und Telephos erkennt sie daran als seine Mutter.
Auch diese Fabel enthält die zwei Jün^^rlinge (Bluts- oder
Zwillin«]:sbrlider), von denen in der Telegonie jeder die Muttor des
anderen liebt (i. e. heiratet), von denen uns aber die Telepho8-8age
zeiget, daß sie eiorentlich beide in die eigene Mutter verliebt sind und
darum auch in anderen Sagen, wie in der Odyssee mit dem Vater,
miteinander selbst in Streit geraten. Tatsächlich berichtet de
Gubernatis (Zoological Mythology II, 198) das gleiche Verhältnis
mit voller Erhaltung des wirklichen Mutterinzests. „The two youths
Aegipios and Nephron are another form of A9vinän, who, hating
each other on account of the love which each has for
the other's mother, are changed by Zeus into two vultures ^),
^) Die Tierverwandlang drückt hier wie anderwärts das sinnlich Abstoßende
des Sexualtriebes aus (vgl. meine Studie über das Motiv der Nacktheit) und findet
sich häufig mit dem Inzest verbunden, der ja als Ausdruck einer tierischen, selbst
vor den eigenen Erzeugern nicht zurückschreckenden Sexualbegierde angesehen wird.
So berichtet eine von St orf er (Vatermord, S. 29, Anmkg.) angeführte Überlieferung,
daß Apollo einen Thessalier, der seine Mutter beschlief, in einen Geier umwandelte,
„welcher Vogel von der .Sprache der Ehebrecher genannt wird". Daraus hat
St orf er auch die „Tiersymbolik bei Bestrafung des Vatermörders in Kom"
(Abschn. IVj treffend erklärt, bei der auch die Schlange eine wesentliche Rolle
spielte. Ihre phallische Bedeutung ist ja genügend bekannt und auf Grund anderer
Überliefelangen, die ich in den „Völkerpsychologischen Parallelen zu den infantilen
Sexualtheorien" angeführt habe, erkennen wir in der Schlange, die sich zwischen
Auge und ihrem Sohne Telephos erhebt und dem manifesten Texte nach den Inzest
verhindert, nichts als die hinter einer Symbolik verborgene Durchsetzung des Inzests
(Ähnliche Beispiele in Kap. X). Den gleichen Sinn hat ein Traum, den Gottfried
Keller am 15. September 1847 in sein „Traumbuch-* (Bächthold I, Stuttgart,
Cotta i einträgt. „Heute Nacht besuchte ich im Traume meine Mutter
und fand eine große Riesenschlange auf dem Taburett zusammen-
geringelt liegen, wie unsere rote Katze, welche gestorben ist. Die Schlange
bildete eine ordentliche Pyramide auf dem kleinen Stühlchen: auf dem obersten
engsten Ringe lag der kleine Kopf, und neben ihm ragte das spitzige Schwanzende
empor, welches aus dem hohlen Innern des Turmes vom untersten Ringe her auf-
stieg'. Da ich erschrak, so versicherte meir.e Mutter, es sei ein ordentliches
gutes Haustier und sie weckte dasselbe. Wirklich entwickelte sich
die Schlange sehr gemütlich, gähnte und reckte sich nach allen Seiten,
wobei (sie die schönsten Farben schimmern ließ. Dann spazierte sie in hohen
Wellenbewegungen in der Stube umher, über den Schreibtisch und
über den Ofen hin, stellte sich auf den Schwanz und fuhr mit dem Kopfe, da sie
sich bei weitem nicht ganz aufrichten konnte, rings an der Stubendecke umher, als
ob sie Raum suche. Dann folgte sie der Mutter in die Küche und auf den
Estrich, wo sie hinging. Auch ich tat bald vertraut mit dem Tier und
rief es gebieterisch beim Namen, den ich vergessen habe. Plötzlich
aber hing die Schlange tot und starr über den Ofen herunter,
und nun fürchteten wir sie erst entsetzlich und flohen aus der
Stube. Da wurde sie wieder munter, putzte sich, lachte und sagte: „So
ist es mit euch Leutchen! Man muß immer tot scheinen, wenn man von euch re-
spektiert werden soll." — Wir lachten auf, spielten mit ihr und streichelten
sie. Da stellte sie sich wieder tot; sogleich wichen wir ent-
Die Abschwächung des Mutterkomplexes bei Sophokles. 183
after that Aegipios, by a stratagem of Nephron, mixted
himself with his own mother."
Zur Telephos-Tragödie des Sophokles bemerkt R i b b e c k : „Es
ist unzweideutig bezeugt, daß jene Gefahr des T el e p h o s, dem Schicksal
des Ödipus zu verfallen, wirklich auf der griechischen Bühne dar-
gestellt wurden." Und Welcker vermutet, daß im Drama des
Sophokles diese Erkennungsszene zwischen Mutter und Sohn den
Mittelpunkt des Dramas bildete. Die Abschwächung des wirklichen
Inzests läßt sich da mit Händen greifen, denn Mutter und Sohn werden
zwar — ganz wie im Ödipus — miteinander verheiratet, aber die
sexuelle Vereinigung wird, durch die Erkennung vereitelt. Noch
weiter geht dann die Verdrängung der Neigung zur Mutter in der
Phädra des Sophokles, wo zwar die Liebe dem Sohn offen eingestanden,
aber von ihm abgelehnt wird, wo aber wegen des anstößigen weib-
lichen Liebesantrages die Mutter zur Stiefmutter gemildert ist.
So sehen wir also neben der „säkuleren Verdrängung", die sich
in den Mythenbildungen und der abschwächenden Wandlung ihrer
dichterischen Bearbeitungen spiegelt (Stiefmutter-Thema), die in jedem
Einzelfalle parallel verlaufende individuelle Verdrängung, welche nicht
nur die Ausarbeitung des einzelnen Werkes begleitet (vgl. Don Carlos),
sondern sich auch in der Aufeinanderfolge der verschiedenen Werke
eines Dichters äußert, die den Inzestkomplex von seinem stür-
mischen Ausbruch in der Pubertät über das Stadium der Vergeltungs-
furcht bis zum abgeklärten Vaterstandpunkt zeigen.
Der Kampf zwischen Vater und Sohn gehört, in verschiedener
Intensität und Ausprägung, zu den meist benützten dramatischen Re-
quisiten der Dichter aller Zeiten, deren künstlerische Entwicklung ja,
wie sich immer unzweideutiger erweist, vom Vaterkomplex ihren
Ausgang nimmt. Im folgenden können nur einige Proben aus dem
reichen Material geboten werden.
s e t z t z u r ü c k. Sie machte sich wieder lebendig, und wir näherten uns wieder.
Sie erstarrte nochmals und wir sprangen immer wieder fort. So trieb sie das
Spiel, während ich mich in andere Träume verlor, die sehr
schön waren. Denn es reut mich sehr, daß ich alles vergessen habe."
Auf Grund unserer Traumanaljsen erkennen wir in diesem Traume leicht
einen verhüllten Inzesttraum mit der Mutter, in dem die auf autoerotischem Wege
(spielen, streicheln) erzielte und jedesmal durch Erschlaffen der Schlange angedeutete
Ejakulation durch die Angst ersetzt ist. (V^gl. über diesen Mechanismus meine Aus-
führungen im Jahrb. II, 1910, S. 521.) Die Bsdeutong des Mutterkomplexes in
Kellers Schaffen aufzazeisen, würde hier zu weit führen. Es sei nur (nach B.icht-
hold, 3. Aufl., n, 47) ein Aussprach von Kellers Freund Schulz angeführt, der
in einem offenen Brief den „Grünen Heinrich" als Selbstbiographie bezeichnet und
dann fortfährt: „Noch nie ist ein Gedicht der Liebe zwischen Mutter und Sohn ge-
dichtet worden, so einfach und innig, so wahr und schön." — In der Geschichte
„FrauRegelAmrain und ihr Jüngster" wird neben dem Verhältnis des Knaben zur Mutter
auch das des Dichters zu seiner Schwester (Regula) dargestellt. Ähnlich lieben
in dem dramatischen Fragment „Therese" Mutter und Tochter denselben Mann. In
Gottfried Kellers „Ursula" wird nach einer Bemerkung Bleulers (Schizophrenie
S. 98, Anmkg.) der heilige Gal» zum Geliebtea und zugleich zum Sobu der Ursula.
1S4 V. Der Kampf zwischen Vater und Sohn.
In IMülipj) Massingers Tragödie „The unnatural combat" fordert
der junge Maletort seinen Vater, den Admiral von Marseille, als Rächer
seiner Mutter zum Zweikampf heraus; sie war von ihrem Gatten vergiftet
worden, weil er eine andere seiner Sinnlichkeit mehr Zusagende heiraten
wollte. Der Solin füllt in dem Kampf und der Vater frohlockt an seiner
Leiche (Koeppel, Quellen, S. 85j. Die inzestuöse Wurzel der Rivalität
zwischen Vater und Sohn ist mit Verschiebung in die zweite (Generation
(Verjüngung dei Mutter; Stiefmuttor) in der leidenschaftlichen Liebe des
Vaters für seine Tochter angedeutet (vgl. die Inhaltsangabe dieses Teiles
der Tragödie in Kap. XIj. Der Vaterkomplex bildet auch das Haupt-
thema in Massingers .,The fatal dowry^, wo der junge Charolois sich
für seinen im (xefänguis gestorbenen Vater opfert, indem er dessen
Stelle im Schuldturm einnimmt und so die Bestattung ermöglicht. Durch
dieses Beispiel der Sohnestreue gerührt, befreit ihn Rochfort und gibt ihm
seine Tochter zur Frau. Sie liebt aber Novall und wird von ihrem Gatten
in dessen Armen überrascht. Novall wird zum Kampf gezwungen und
getötet (Verschiel)ung des Zweikampfes); über das schuldige Weib spricht
der Vater das Todesurteil aus, das der Gatte vollstreckt. Charolois wird
nach richterlichem Freispruch von einem Klienten des Hauses Novall
niedergestochen. Die Aufopferung des Sohnes für den im Schuldturm
schmachtenden Vater erinnert Koeppel mit Recht an die von Cornelius
Nepos berichtete Aufopferung des Cimon für seinen Vater Miltiades.
Doch ist in beiden Fällen die ambivalente Einstellung des Sohnes nicht
zu übersehen, der sich zvvar auf der einen Seite für seinen Vater opfert,
aber offenbar nur aus einem mächtigen Schuldgefühl gegen ihn, dessen in-
zestuöse Wurzel in Cimons Verheiratung mit seiner Stiefschwester noch
angedeutet ist, während in Massingers Tragödie die ursprüngliche
Rivalität mit dem Vater durch die eifersüchtige Tötung des bevorzugten,
beneideten Nebenbuhlers vertreten ist. Den der Fabel zu Grunde liegenden
Vaterkomplex hat, Avie Reik in einer interes.santen Studie*) zu zeigen
versuchte, neuerdings Richard Beer-Hofmann in seiner Tragödie „Der
Graf von Charolais" (S. Fischer 1904) psychologisch tiefer zu fassen
gesucht.
Calderons .Leben ein Traum", wo der Vater den Sohn auf Grund
eines Orakelspruchs in grausamer Gefangenschaft hält, wird noch Erwäh-
nung finden; ebenso des gleichen Dichters „Standhafter Prinz", der auch das
Thema der Aufopferung des Sohnes behandelt. (Kap. VII, S. 247 Anmkg. 2.) In
L es sings geplantem .Kleonnis" sollte Euphaes seinen Sohn Kleonnis töten,
ohne ihn zu kennen. In Hebbels „Agnes Bernauer" liegt Herzog Ernst
mit seinem Sohn Albrecht in Streit, weil er sich weigert, die vom
Vater ausersehene Braut zu nehmen und sich heimlich mit der schönen
Bürgerstochter vermählt. Agnes äußert Bedenken wegen der Strenge
des Herzogs: .Und wenn er das Schwert zieht?" — Albrecht: „So
') „Richard Beer-Hnfmann" von Dr. Theodor Reik (Verlag R. Eichlor,
Leipzig 1912).
Der Vaterkonflikt in der modernen Literatur. 185
gibt er mir das Recht, auch nach dem meinigen zu greifen" (II 9). —
Und als der alte Herzog die Eheschließung des Sohnes erfährt (III, 13),
will er sich mit gezücktem Schwert auf den Sohn stürzen, und sie geraten
fast ins Handgemenge. Doch als der Sohn in der Schlacht mit dem Vater
zusammentrifft, da vermeidet er den Kampf mit der bedeutungsvollen Mo-
tivierung: „Ihr habt mir bei Alling das Leben gerettet! (Mit einer
Handbewegung) Fort! FortI'' (V, 9). — Diese Revanche für die eigene
Lebensrettung (i. e. Lebensschenkung) erinnert auffällig an die gleiche Re-
vanchephantasie des Sohnes in „Kabale und Liebe* ( „Vater ! Ihr hattet einmal
ein Leben an mich zu fordern"). Daß auch in der modernen Dichtung
der Kampf, oder in abgeschwächter Form der Konflikt mit dem Vater als
harmloserer Verdrängungsausdruck der inzestuösen Fixierung an die Mutter
in zahllosen Varationen erscheint, kann hier bloß angedeutet werden.
Die Zahl dieser Produktionen ist Legion und es seien nur einige bedeut-
samere hervorgehoben. Dostojewsky, in dessen Werken es sich fast
immer um einen Mord handelt, läßt in seinem großangelegten Roman
„Die Brüder Karamasow" die Söhne den Vater ermorden. Interessant im
Sinne der Getühlsum Wandlung ist auch seine dem Vaterkomplex entstammende
politische Stellung gewesen. In seiner Jugend gehörte er einer revolutio-
nären Partei an, die den Sturz des Despotismus und die Ermordung
des Zaren bezweckte. Als er nach verbüßter Strafe aus Sibirien zurück-
kehrte, wurde er loyal und ein Verteidiger des Despotismus. — In
Mereschko vszky s historischem Roman „Peter der Große und Alexei",
auf den Ferenczi im Jahrb. f. Psa. I, S. 448 das psychoanalytische
Interesse gelenkt hat, ist die grausame Behandlung des unterwürfigen Sohnes
durch den Vater dargestellt. — Auch Ibsen rückt, wie Freud in der
„Traumdeutung" (2. Aufl. S. 181) erwähnt, in seinen frei erfundenen
Stoffen den Konflikt zwischen Vater und Sohn gerne in den Vorder-
grund des Interesses. Am deutlichsten in der „Wildente", wo Gregers
Werle seinem Vater heftige Vorwürfe wegen der schlechten Behandlung
und Untreue gegen die früh verstorbene Mutter macht, die in der Erinne-
rung des Sohnes als infantiles Idealbild weiterlebt. Die ursprünglich der
Mutter geltende Rettungsphantasie sucht nun der überspannte Sohn an
dem glücklichen Eheleben Hjalmars zu realisieren. Im Verhältnis
Hjalmars zu seinem unglücklichen Vater, dessen er sich in vornehmer
Gesellschaft schämt, den er aber in seinen vier Wänden ehrt und liebt,
hat der Dichter die zweite den Vater schätzende Komponente der infan-
tilen Einstellung dargestellt. In dem großen Wort streit zwischen Vater
und Sohn fällt der an einen ähnlichen Ausspruch des Don Carlos^) ge-
I. Aufz. 2. Szene:
„Warum von tausend Vätern
Just eben diesen Vater mir? Und ibm
Just diesen Sohn von tausend bessern Söhnen?
Zwei unverträglichere Gegenteile
Fand die Natur in ihrem Umkreis nicht.
Wie mochte sie die beiden letzten Enden
Des menschlichen Geschlechtes — mich and ihn
Durch ein so heilig Band zasammenzwiogen?"
I8»i V. IW Kampf zwischen Vater uud 8ulin.
mahnende Satz von selten des Vaters: .Gregor, gibt es wohl einen
Menschen auf der "Welt, der dir so zuwider wäre, wie ich?"
— Gregor (leise): .Ich habe dich zu sehr aus der Nähe geschaut." —
Werle: .Du hast mich mit den Augen deiner Mutter angesehen?" —
Noch heftiger klagt der Sohn den Vater in dem .Familieudrama" :
„Gespenster" an, wo der verhinderte Geschwisterinzest noch deutlich auf die
inzestuöse Wurzel der Rivalität hinweist (vgl. Kap. XXIV). Oswald:
Vater — Vater — Vater! Ich habe meinen Vater ja niemals gekannt. Ich
habe keine andere Erinnerung an ihn, als daß er mir einmal Übelkeit verur-
sacht hat.*" Frau Alving: .Es it-t entsetzlich, das zu denken I Sollte ein
Kind nicht trotzdem Liebe für seinen Vater liegen?^ — Oswald: „Wenn
ein Kind seinem Vater für nichts zu danken hat? . . . Hältst du wirklich
noch an dem alten Aberglauben fest ..." (Reclam 8. 72). Auch hier
findet sich das gleiche Motiv wie in der .Wildente" von der duldenden
und unter der Untreue des ^'aters leidenden Mutter, das wir als Rettungs-
phantasie kennen. Auch zum Revanchemotiv der Lebensschenkung bieten die
.Gespenster" ein interessantes Gegenstück, das an die im III. Kap, (S. 105)
zitierten Spekulationen Franz Moors über die Geburt erinnert. Frau
Alving verweigert dem Sohn das Versprechen, ihm in seinem Anfall das
tödliche Gift einzugeben, mit dem Hinweis, daß sie ihm das Leben ge-
schenkt habe. Oswald: .Ich habe dich nicht um das Leben gebeten.
Und welch ein Leben hast du mir gegeben? Ich will es nicht! Du kannst
es zurücknehmen." Auch in dem Jugendwerk „Peer Gynt", das eine
überschwengliche Liebe zur Mutter und deren Identifizierung mit der Geliebten
Solveig verrät^), wird das Verhältnis zum Vater in paranoischer Ausge-
staltung des Familienromans behandelt : Peer Gynt, der abnorme Größen-
und Kaiserphantasien hat, wird im Irrenhaus für den Kaiser erklärt.
(Vgl. auch die paranoischen Stimmen. Reclam S. 133 ff.) — In der von
Ibsens Gesellschaftsdramen ausgehenden „naturalistischen" Richtung ist
der Konflikt zwischen Vater und Sohn an der Tagesordnung: und Ibsen
hat hier als Begründer des modernen Familiendramas eine ähnliche Rolle
gespielt, wie wir sie Diderot (Kap. HE. 8. 85) zuweisen mußten.
Aus der Fülle moderner Dichtung können hier nur einzelne Stichproben
des Konflikts zwischen Vater und Sohn geboten werden. So Hirschfelds
Drama: .Zu Hause'', Ernst Hardts: „Der Kampf ums Rosenrote" (in
2. Auflage unter dem Titel: „Der Kampf" im Insel Verlag zu Leipzig
erschienen), Bernsteins: „Israel", Heyermanns: „Ghetto", Gustav
*) Peer Gynt: „So wärst du gar
Des Irrenden Mutter! — O rede wahrl
Solveig: Uas bin ich auch, und an ihrer Seit'
Der Vater, der dem Sünder verzeiht.
Peer Gynt (sein Gesicht verklärt sich und er ruft).
O meine Mutter, du sprichst mich los — ?
Verbirg mich, verbirg mich in deinem Schoß I
Solveig singt nun das wunderschöne Wiegenlied, bei dessen Klängen der
alte Mann in ihrem mütterlichen Schöße eiuschläft. — Die gleiche Situation wurde
in Strindbergs „Vater" hervorgehoben (S. 33 Anmerkung).
Der Vaterkonflikt in der modernen Literatur. 187
Wieds Erzählung: „Aus jungen Tagen'', wo die Phantasie eines mit gezück-
tem Messer auf den Vater losgehenden Knaben geschildert ist, ferner das schon
erwähnte Drama von Verhaeren „Das Kloster", worin, mit bezeichnender
Ausschaltung aller Frauengestalten, die Eeue über den Vatermord darge-
stellt ist und endlich jüngst das Drama: „Herzog Heinrichs Heimkehr"
von Hans Franck (Berlin, Oesterheld 1911), das die Wiederkehr des
totgeglaubten (vgl. Theseus). Heinrich schildert, den der inzwischen
zur Herrschaft gelangte Sohn sich anzuerkennen weigert. In einer Novellen-
sammlung von Eudolf G. Binding: „Die Geige" (Insel Verlag 1911)
findet sich eine Erzählung „Die Waffenbrüder", die in Anlehnung an
Gestalten des Nibelungenliedes den unerkannten Zweikampf zwischen Vater
und Sohn behandelt. In einem preußischen Reiterregiment kämpfen gegen
die Armee des dritten Napoleon Schulter an Schulter der Waffenschmied
Thomas Woller, ein Eheinlandssohn, und ein Heimatloser, Daniel Eoux,
der Fechtmeister. Treueste Waffenbrüderschaft, in der heißen Esse flammen-
der Gefahr gehämmert, hat die beiden vereint und Daniel nach Friedens-
schluß bewogen, in des Waffenschmieds Heimatstadt seßhaft zu werden.
Und es ergibt sich, daß kein anderer als er den Freiwerber, für Thomas
machen darf, da sich der Freund in ein starkmütig wehrhaftes Frauen-
zimmer verliebt. Die schöne Gertrud, selbstherrliche Verweserin von ihres
Bruders Gutswirtschaft, reizt aber Daniel durch Trotz und Widerstand so
sehr, daß er, höhnischen Zuruf zur Tat wandelnd, an des Freundes Stelle
nächtlicherweile bei ihr eindringt und sie bezwingt. Dieses Geheimnis,
wohlverwahrt durch alle Jahre, die Thomas und Gertrud als Eheleute mit-
einander lebten, wird der Verwitweten eines Tages in rühmender Geschwätzig-
keit durch Daniels Gattin verletzend enthüllt. Die Veratene vertraut ihre
Schmach dsm heranwachsenden Sohne, der sie an dem bislang verehrten
Freunde und Lehrer zu rächen beschließt. So fällt Daniel im Zweikampf
mit dem eigenen unerkannten Sohn von eigener Klinge — und der dunkle
Fluß führt Gertrud mit sich, die zu spät dunkle Zusammenhänge erraten
hat. (Nach einer Inhaltsangabe von M. AVied in der „Zeit".)
Die auffällige Übereinstimmung in den Stoffen imd der Gestaltung
der wesentlichen Motive kann uns aber nicht so sehr als literarische
Nachahmung, Beeinflussung, Reminiszenz oder bei der Sagen-
bildung als j\Iotivwanderuüg erscheinen ; wir glauben sie vielmehr auf
Grund des gleichen seelischen Entwicklungsganges in einem tieferen
Sinne verstanden zu haben, wenngleich wir es als selbstverständlich
ansehen, daß diese in gleicher Weise wiederkehrenden psychischen
Konstellationen je nach der seelischen und intellektuellen Begabung
des einzelnen bald mehr, bald weniger der Anlehnung an bereits be-
stehende Phantasiebildungen bedürfen, wie sie ja in exquisiter Weise
die Mythen dem gänzlich Unproduktiven gewährt. Oft genug ist
aber auch dieses Ausleben der schlecht verdrängten unbewußten Kom-
plexe in der Phantasie nicht möglich und es resultiert — wieder je nach
der Veranlagung und dem daraus folgenden Schicksal — der Per-
verse, der Neurotiker oder der Verbrecher. Wir brauchen uns ja
188 \- 1 *<•'■ Kain|tt' zw isrlioii \'ator und Sidm.
nur den Fall vorzustellen, wo diese ehemals in der Kealitüt ausgelebten,
dann iui ent.>tellten Traum und den lüf;;isch abgeschliffenen Phantasien
zum Ausdruck kuninn'nden, dein Inzestkumplex zu Grunde liegenden
Impulse auf einer höheren Kulturstufe im realen Leben durchbrechen,
so haben wir den Perversen und Mörder vor uns. Und nichts kann
neben der Analyse neurotischer Störungen und unserer nächtlichen
Träume unsere Auffassung, daß diese verdrängten Impulse in uns
allen seit der Kindheit unbewußt weiterleben und unterirdisch tätig
sind, besser bestätigen, als ehen die Tatsache, daß unter Wegfall ge-
wisser Hemmungen und abnormer Verstärkung der infantilen Kegungen
— welche die Hemmungen zu überwältigen im stände sind — diese ur-
sprünglichen Impulse in voller Kraßheit wieder zum Vorschein kommen.
Zur Psychologie des Verwandtenmordes.
„Die Kriminaljustiz sollte sich bemühen, die
Unschuld zu entdecken, statt der Schuld."
Hebbel (Tageb.).
Die Bedeutung der infjintilen Inzestkonstellation für spätere im
Affekt verübte ^lordtaten kann bei der regelmäßig im Unbewußten
verborgenen IMotivierung hier nicht in ihrem ganzen %yeitreichenden
Umfang dargelegt werden. Doch deutet ja schon die Odipus-Sage
durch die Verknüpfung des Mutterinzests mit dem Vatermord darauf
hin, daß auch heute noch, wenigstens im Unbewußten des Vatermörders,
jener Konflikt tobt, Avenn er sich auch auf dem Wege der Affektver-
schiebung nur mehr in Form des einseitig übertriebenen und darum
unverstandenen Vaterhasses äußert. Indem wir auf die bereits vereinzelt
angeführten Fälle „krimineller"^) Inzestkonstellation hinweisen, sei das
unserer Untersuchung besonders naheliegende Thema der Rivalität
zwischen Vater und Sohn, die auch auf unserem Kulturniveau noch
überraschend häutig zu IMordversuchen gegen die nächsten Angehörigen
führt, zur Illustrierung der dargelegten psychologischen Zusammen-
hänge an einzelnen Fällen erläutert. Zunächst seien als bloß statistische
Belege für die Häufigkeit des Vatermordes einige infolge mangelnden
Materials nicht weiter zu erklärende Taten angeführt, die ich in den
letzten Jahren aus meiner täglichen Zeitungslektüre gesammelt habe.
Die meisten Fälle zeigen ein frühes, auffällig feindseliges Verhältnis
zwischen Vater und Sohn, das bald gänzlich unmotiviert erscheint,
bald durch materielle Motive rationalisiert wird, sich aber in den
') Auf die Bedeutung der ^kriminellen" Instinkte hat neuerdings auch Stokel
(Die Sprache des Traumes, Wiesbaden 1911; Krimiualiiilt und Berufswahl, Archiv
f. Kriminalauthropol. Bd. 41; Neurose und Kriminalität, die Umschau >'r.52, 1911)
hingewiesen ; er bringt sie aber in einen, wie mir scheint unberechtigten, Gegensatz
zur Suxualität, indem er von dem sozialen Begrift" der Kriminalität anstatt von dem
psychologischen des Triebes ausgeht.
Kriminelle Äußerungen des Vaterkomplexes. 189
Fällen, wo die äußeren Verhältnisse eine Auffrischung der infantilen
Tnzestkonstellation mit sich bringen, als Korrelat der sexuellen Riva-
lität erweist.
Fall 1: „(Den Vater ermordet.) Aus Lemberg, 14. d., wird uns
telegraphiert: Im Dorfe Horozki bei Bobrujski ermordeten die drei Söhne
des Bauern Mvslowic ihren Vater während eines Streites mit Axthiebeu.
Die Leiche des Vaters trugen sie auf ein zum Nachbarorte gehörendes
Feld und ließen sie dort liegen. Die Vatermörder wurden bereits verhaftet."
Fall 2: „(Vom Sohn erschossen.) Aus Petersburg, 22. d., wird ge-
meldet: Der Geheiirrat Buschoden wurde gestern durch sechs Schüsse von
seinem eigenen Sohn ermordet. Dieser scheint geisteskrank zu sein.
Als Grund seiner entsetzlichen Tat gab er an, daß sein Vater ganz
unnütz auf der Welt gewesen wäre. Ein Bruder des Mörders ist
ein bekannter politischer Flüchtling, der in der Schweiz lebt. "
Dieser bereits (S. 85 Anmkg.) als Beleg für die Herkunft der poli-
tischen Auflehnung (Bruder) aus dem Vaterkomplex angeführte Fall
zeigt deutlich die dem Sohne selbst unbewußte Motivierung seines Tuns,
was apriori durchaus nicht als Symptom einer Geisteskrankheit, sondern
bloß als psychologischer Ausdruck der Verdrängungstatsache zu gelten
hat. Wenn die öerichtspsychiatrie glaubt, mit der Konstatierung der
Geisteskrankheit, auch wo diese Diagnose zutreffen mag, der psycho-
logischen Motivierung überhoben zu sein, so irrt sie eben gewaltig. Gerade
die absonderliche Logik des Wahnes, welche die des unbewußten
Denkens ist, fordert erst recht zur Motivierung heraus. Und Avenn
auch mauche grauenvolle Tat dem normalen Denken und Empfinden
nicht zugetraut werden kann, so hat uns doch die Psychoanalyse ge-
lehrt, daß durch Geisteskrankheit oder Alkoholisierung ^) keine neuen
Gedanken und Impulse in den Menschen hineingebracht, sondern nur
uralte und längst verdrängte infolge Wegfalls gewisser Hemmungen
manifest werden.-) Ja, auf Grund unserer Erfahrungen müssen -sATir
sagen, daß diese Menschen in die Psychose oder den Alkoholismus
flüchten, um ihre verdrängten Komplexe ausleben zu können; oder
richtiger gesagt, daß die verdrängten, nach Auslebung verlangenden
Triebe in ihnen so übermächtig geworden sind, daß sie, ihr be-
wußtes Denken überwältigend, hervorbrechen. Der Avirklich Geistes-
kranke wird vielleicht auf Grund seines durchg-ebrochenen Unbewußten
^) Vgl. Abraham: Die psrchologischeu Beziehuugen zwischen Sexualität und
Alkoholismus (Zeitschr. f. Sexualwissenschaft 1908, IS'r. 8).
^) Als charakteristisch für die Auffassung derartiger Fälle, sei die folgende
Zeitungsnotiz vom 20. Februar 1007 mitgeteilt:
„(Ein Geisteskranker.) Einen ungeheuerlichen Plan, der nur dem Hirn
eines Geisteskranken entspiingen konnte, faßte ein 22jähriger. stellenloser Bursche,
Sohn eines in Hietzing wohnhaften Eisendrehers. Er war am 18. d. mit seiner
40jährigen Mutter allein zu Hause, machte ihr plötzlich Liebes-
anträge und versuchte, an ihr ein Verbrechen zu begehen. Die entsetzte
Mutter konnte sich des Wahnwitzigen erwehren. Der Bursche ist zur Prüfung seines
Geisteszustandes der psychiatrischen Klinik eingeliefert worden."
190 V. Der Kampf zwischen N'atcr und Solin,
uoch eher die eigentlichen Motive seines Tuns verraten, als der unter
einem niilchtigen, verdriingten Affekt stehende Neurotiker, der seine un-
bekannten Motive in einer für den Unkundigen irreführenden V\ eise
sich selbst zu rationalisieren sucht.
Fall 3 zeigt neben oberflächlichen Motivierungen die auf einen
schweren inneren Konflikt hindeutende Selbstbestrafung :
^(Ein dr ei fa c h er M o r d in En gl au d.) Aus London, 19. d.. wird
uns geschrieben : Die kleine Stadt Maldon ist durch einen dreifachen Mord
in Aufregung versetzt worden. Der Landbesitzer Cole le bte seit langem
im Streit mit seinem Sohne Eredrick. Kürzlich wurde dem Sohn
gerichtlich das Haus verwiesen, da er wegen Diebstahls angeklagt wurde.
Gestern nachts lauerte der Sohn dem Vater auf, als dieser ein Pferd in den
Stall brachte, und schlug mit einem Stock auf den Vater. Auf die Hilferufe
des Mißhandelten eilte sein Schwager Major Kitchen herbei. Der Sohn
nahm einen lievolver aus der Tasche und erschoß den Vater und
Major Kitchen. N'erfolgt, schoß er auf seine Verfolger, richtete aber
schließlich die Waffe gegen sich und jagte sich eine Kugel durch
den Kopf."
Fall 4 zeigt die Rationalisierung durch den Geldkomplex (Strenge
des Vaters), der aber hier^ wie in so vielen anderen Fällen, durch die Mittel-
vorstellung der Prostitution, das Sexuelle vertritt:
.(Die Ermordung eines Försters.) Man telegraphiert uns aus
Berlin, 25. dänner 1908 : Die Ermordung des Försters Schwarzenstein am
Mügelsee hat eine schreckliche Aufklärung gefunden. Der Vater ist jedenfalls
von seinem eigenen Sohn ermordet worden. Der Sohn ist 20 Jahre
alt, mit Vornamen Willi. Er wollte gleichfalls Förster werden und nahm
Dienste bei einem Forstmeister. Da er aber wegen körperlicher Schwäche
vom Militärdienst ausgeschieden war, so mußte er die Forstlaufbahn auf-
geben. Er arbeitete dann kurze Zeit in einer Holzhandlung, aber er konnte
nirgends lange aushalten, weil er leichtsinnig veranlagt ist. Er trieb sich
viel in Kneipen mit Damenbedienung umher und machte überall
Schulden. Als er nicht aus noch ein w'ußte, fälschte er Wechsel auf den
Namen seines Vaters. Oft ist es zu Streitigkeiten zwischen
Vater und Sohn gekommen. Der Vater hat sich häufig Bekannten
gegenüber über seinen leichtsinnigen Sohn beklagt. Der Sohn hatte kürzlich
auch von seinem Großvater ein Vermögen geerbt, er hat aber das Geld
nicht erhalten, weil sein Vater es an sich genommen und ein für allemal
erklärt hatte, solange er lebe, werde er es behalten und keinem anderen in
die Hände geben. Nach dem Bekanntwerden des Mordes fiel es auf, daß der
Sohn ein gleichgültiges Wesen zur Schau trug Schließlich verdich-
teten sich die Verdachtsmomente und die Polizei verhaftete heute den
jungen Mann. Er wurde an die Mordstelle hingeführt. Dort wurde er
leichenblaß und schrie: „Hilfe! Hilfe I"* Er wird demnächst an die Leiche
seines Vaters gestellt und dort konfrontiert werden".
Fall 5 zeigt den im Unbewußten latenten Mordimpuls gegen den
Vater, ohne dessen Annahme die sonderbare Tat kaum verständlich ist:
Kriminelle Äußerun;^en des Vaterkomplexes. 191
„(Ein Vatermord auf Anstiften des Vaters.) Aus Stuttgart,
27. d., wird uns telegraphiert: Der Wirt Weiß in Kalw (Schwarzwald)
forderte seinen 23jährigen, geistig nicht normalen und an
beiden Füßen gelähmten Sohn auf, ihn aus seiner Büchse zu er-
schießen. Der Sohn drückte das vom Vater selbst geladene Gewehr
ab. Als der Tod nicht gleich eintrat und der gräßlich Verwundete seinen
Sohn bat, ihn vollends zu töten, erschlug ihn dieser mit einem Beil. Der
Vatermörder wurde ins Gefängnis eingeliefert. Die Ursache der Tra-
gödie soll eine Geldaffäre gewesen sein.'"
Fall 6 mutet wie die ins Positive übersetzte Hamlet-Tragödie an
mit dem vom Sohn gedungenen ^lörder des Vaters und Stellvertreter bei der
Mutter, der die gehemmten Wunschregungen des Sohnes an seiner Stelle
realisieren soll:
„(Der furchtbare Plan eines Kindes.) Aus Marburg, 22. Sep-
tember 1909 wird telegraphiert: Vor dem hiesigen Schwurgericht wurde
heute über ein Familiendrama verhandelt, das in Lnter Steiermark großes
Aufsehen machte. Als der Direktor der Pettauer Sparkasse, Johann Kasper,
am 18. Juli um Mitternacht den Vorgarten seiner außerhalb Pettaus ge-
legenen Villa betrat, wurde aus der Dunkelheit gegen ihn ein Revolver-
schuß abgefeuert, der seine linke Hand durchbohrte. Direktor Kasper, der
zur Nachtzeit stets mit einem Revolver bewaffnet ging, feuerte mit der
rechten Hand ebenfalls einen Schuß ab. Im nächsten Augenblick krachte
schon ein dritter Schuß, durch den auch die rechte Hand des Direktors
durchschossen wurde. Der Entwaffnete flüchtete gegen sein Haus und rief
um Hilfe. Er rief seiner Frau, die am Fenster erschien, zu, ihm den
zweiten Revolver, der im Nachtkästchen zu liegen pflegte, zu geben. Aber
der Revolver war verschwunden. Die öffentliche Meinung bezeichnete so-
fort die eigene Gattin des Direktors als die Anstifterin des Mordversuches.
Das Eheleben Kaspers ist nämlich ein sehr unglückliches. Direktor Kasper
hatte kurz vorher einen Knecht fortjagen müssen, nachdem er die Frau
und den Knecht mit der Hundspeitsche gezüchtigt hatte. Die Gattin wurde
nach dem nächtlichen Vorfall verhaftet und auch ein 17 jähriger Knecht
namens Josef Gonsa. Er gestand nach längerer Untersuchungshaft, daß er
zu der Tat verleitet wurde, und zwar nicht von der Gattin, sondern dem
el feinhalbjährigen Sohn des Direktors, Heribert. Nun wurde
auch der Gymnasiast eingezogen und gestand nach längerem Leugnen, daß
er den Knecht dazu angestiftet und angeworben habe, den Vater
zu erschießen. Als Motiv gab der Knabe an, daß der Vater ihn streng
behandelte, wenn er schlechte Schulzeugnisse heimbrachte. Den Knecht
gewann er dadurch für seinen Plan, daß er ihm sagte, nach dem Tode
des Vaters werde Gonsa der Herr im Hause sein. Es wurde auch erhoben,
daß Gonsa sich geäußert habe, er werde nach dem Tode des Direktors
seine Witwe heiraten und dann ein glückliches Leben führen. Heute
war Gonsa des Verbrechens des versuchten bestellten Mordes angeklagt_,
Heribert Kasper mit Rücksicht auf sein jugendliches Alter nur wegen
Übertretung."
li»2 V. Der Kampf zwischen Vater und Sohn.
Fall 7 zeij^t bereits dentlicher in Form der Piirteinahme für die
mißhandelte Mutter den Anteil verdrängter und in llaßafl'ekt umgesetzter
Liebesrcgungen am Witermord, wobei als bezeichnend für die meisten die-
ser Falle das jugendliche und der Pubertät nahestehende Alter*) hervor-
gehoben sei, welches ja durch das intensive Kingen mit dem Inzestkomplex
charakterisiert ist :
.(Ein vierzehnjähriger \' a t e r m ö rd er.) Aus Lemberg wird
telegraphiert : In Zawadow hat ein vierzelinjähriger Knabe seinen eigenen
Vater ermordet. Der ortsbekannte Gewohnheitssäufer Johann Kalinczuk
verbrachte die ganze Nacht in einem Wirtshause und kam erst gegen
(i Uhr früh in stark betrunkenem Zustand nach Hause. Seine Frau
machte ihm wogen seines Lebenswandels heftige Vorw ürfe : so entstand
ein Streit zwischen leiden, der schließlich in Tätlichkeiten ausartete. Ka-
linczuk fiel über seine Gattin her, scliliig j-ie in seinem überschäumenden
Zorne blutig und riß ihr mit seinen Zähnen Stücke Fleisches aus dem
Leibe. Der vierzehnjährige Sohn nahm sich der Mutter an;^)
*) Aach Kovalevsky (Zur Psychologie des Vatermordes. Monatsschr. f. Krim.
Psych, etc. 1905, p. 309j kennt eine große Anzahl von jusendlicben Vatermördern,
die — entsprechend der noch nicht abgeschwächten Haßeinstellung — keinerlei Rene, oft
sogar Zynismas, ein Kenommieren mit der Tat und eine verblürt'ende Gleichgültigkeit
an den Tag legen. Andere dagegen, bei denen oftenbar die zärtlichen liegungeu noch
betont sind, suchen die Tat zu verheimlichen und „handeln mit echt kindischer
Unvernanft". ,.Za\veilen", beißt es bei K., „bleibt noch ein Funken Zuneigung zu
den Eltern erhalten, oder ein solches Kind liebt den einen Teil der Eltern
und haßt den anderen." — Einen für den infantilen Charakter dieser Taten
charakteristischen Fall berichten die Zeitungen wiihrend des Druckes dieser Arbeit
am 2tj. Februar 1912: „(Den Vater angeschossen.) Wie schon berichtet, hat
Sam>tag abends der dreizehnjährige Kutscherssohn Josef Kohout jun. in der
Wohnung seinen eigenen Vater Josef Kohout, der ihn züchtigen wollte, angeschossen
and in noch nicht bestimmbarem Grade verletzt. Der Schuß ist, wie sich später
herausgestellt hat, nicht ernst zu nehmen; denn die , Waffe", die der Junge
benutzte, ist eine Kapselpistole, die 40 Heller kostet. Übrigens wollte der Knabe
den Vater gar nicht verletzen, sondern bloß „schrecken". Der junge Kohout,
der, als er den Vaters verletzt sali, weggelaufen war, ist abends heimgekehrt.
Frau Kohout und ihr Sohn wurden einveruonjmen und gaben ein trauriges Bild des
Martyriums der Familie. Josef Kohout sen. ist nach ihrer Darstellung ein Trunken-
hold, der sie und die acht Kinder, die der Ehe entsprossen, fortwährend schlage und
im Zorn sogar am Leben bedrohe. Die Kinder seien im allgemeinen brav. Samstag
war Kohout sen. um 5 l'hr nachmittags von der Arbeit heimgekehrt. In seiner
rüden Art hat er von dem kleinen Josef ein Glas Wasser verlangt. Der Junge
brachte das Wasser nicht sofort, weshalb der Vater Miene machte, ihn zu züchtigen.
Der Junge lief aus dem Zimmer. Als er nach kurzer Zeit mit seinem fünfzehn-
jährigen Bruder Johann zurückkam, hatte der Vater, der wieder über den Durst
getrunken hatte, ein Messer in der Hand und wollte auf die Kinder losstürzen. Josef
und Johann liefen davon, und im Laufen schoß Josef die Kapselpistole, die ganz
ungefährlich ist, zweimal auf den Vator ab, um ihn zu schrecken. Unglückscliger-
wejse wurde Kohout sen. durch das l^alver am Auge verletzt. Nach Feststellung des
Tatbestandes nnd protokollarischer Einvernahme wurde der Junge seiner Matter
übergeben".
^) Eine ähnliche, aber naiv-infantil geschilderte Parteinahme für die von einem
Mann bedrohte Mutter findet sich in G Kellers Novelle „l'rau Kegel Amrain und
ihr Jüngster", wo der kleine Fritz mit der Qardinenstange auf den »eine Mutter be-
Beispiele krimineller Äußerung des Vaterkomplexes. 193
er ergriff eine Hacke, mit der er auf den Vater so lange losschlug, bis
dieser blutüberströmt zu Boden fiel. Im sterbenden Zustand versetzte er
dem Vater noch einen wuchtigen Hieb und ließ die Hacke in der zer-
trümmerten Schädeldecke eingekeilt stecken. Hierauf eilte er auf die Polizei-
wachstube und erzählte das Vorofefallene. Er wurde sofort dem Gerichte
eingeliefert. "
Fall 8 bietet das gleiche Bild: „(Um die Mutter zu erlösen.)
Mordversuch an dem grausamen Vater. Korneuburg, 17. Februar
1910. In Pernersdorf spielte sich am 12. d. ein tragischer Fall ab. Der Wirt-
schaftsbesitzer Richard Ecker bereitete seiner Familie ein Martyrium. Seit
Jahren quälte er seine Frau und ließ sie darben. Jeden Kreuzer mußte
sie von dem grausamen Gatten erbetteln, um sich das Notwendigste für
den Lebensunterhalt zu beschaffen, während er selbst sich nichts abgehen
ließ. Es häuften sich immer mehr häßliche Szenen in dem Hause Eckers.
Am 12. d. um ^/.,2 Uhr nachmittags wurde nun Richard Ecker in
einem Winkel seines Kellers mit schweren Verletzungen bewußtlos auf-
gefunden. Der Schädelknochen war teilweise zertrümmert. Neben Ecker
lag ein sogenannter Maurerhammer, mit dem die fürchterlichen Schläge
gegen Ecker ausgeführt worden waren. Als Täter stellte sich der neun-
zehnjährige Sohn Eckers namens Richard der Gendarmerie selbst.
Er gab an, daß er die Tat aus Haß gegen seinen Vater voll-
brachte, weil er das Unglück, welches dieser der Mutter bereitete, nicht
länger ansehen konnte. An dem Aufkommen Eckers wird gezweifelt. Der
junge Mensch wurde dem hiesigen Gerichte eingeliefert."
Diese Fälle erinnern mit ihrer in der Realität nur durch den Vater-
mord durchzusetzenden Rettungsphantasie in bezug auf die Mutter an die
der gleichen infantilen Einstellung entsprechende Motivierung des Zwei-
kampfes zwischen Vater und Sohn als Rache für die schlechte Behandlung
der Mutter (Hildebrand, Milun, Sohrab etc.).
Fall 9 verrät uns, allerdings nicht völlig im Rahmen des Inzest-
komplexes, aber doch der Inzestkonstellation, als Motiv des Vatermordes
die sexuelle Rivalität um die gemeinsame Geliebte (Brautabnahme).
„Eine Familientragödie in NewYork. Der Millionär Georg Sterry
wurde gestern mittags in seinem Bureau von seinem eigenen Sohne
erschossen. Der Sohn beging dann Selbstmord. Die Tat verursacht in
Börsenkreisen großes Aufsehen. Weiter wird uns hiezu telegraphiert : Ein
heftiger Streit war der Tat vorangegangen. Der Vater wollte nämlich die
Ehe seines Sohnes mit einem schönen, aber armen Mädchen verhindern und
drohte seinem Sohne mit der Enterbung, falls er gegen des Vaters Willen daran
dächte, die Geliebte seines Herzens zu heiraten. Nun stellte es sich heraus,
daß der Vater dasselbe Mädchen mit Liebesanträgen verfolgt hatte, ohne die
Absicht zu haben, sie zu heiraten. Vermutlich hat der Sohn von den Zu-
dringlichkeiten seines Vaters erfahren und daraufhin den Mord verübt."
drängenden Werkmeister losofeht. DlT Dichter soll diese Szene einem wirklichen
Vorfall nachgebildet hahen (Bächthold, II, 65).
Bank, Das In^estmotiv. 13
11<4 V. Der Kampf zwischen Vater wnd Sohn.
Fall 10 zeigt, älinlich wie der vorige durch Ersetzung der Mutter,
infolge Ersetzung des \'atcrs durch den Geliebten der Mutter (vgl. Hamlet)
den hemmungslosen Durchbruch auf (Jruud der verdrängten, vermöge der
realen \'erliältnisso wieder aufgefrischten luzestkuustellation, gelit aber mit
der Bestrafung der Muttor für ihre Untreue am öohn bereits über den
Vatermordimpuls und seine Ersatz-Befriedigung hinaus. j,Aus Budapest,
22. d., wird telegrapliiert : In Biksoder hatte der 2.'3jährige Bauer Ugo-
csan seine Mutter bei einem Kondez vous mit ihrem Gelieb-
ten überrascht. Er geriet in eine derartige Wut, daß er auf das Paar
wie besessen losstach. Die Mutter war sofort tot, während ihr Geliebter
schwere Verletzungen erlitten hatte. Ein kleines Kind, das die Frau am
Arme trug, und von dem der Mörder annahm, daß es dem Verhältnis
seiner Mutter entsprossen sei, hatte der wütende Sohii ebenfalls erstochen."
Fall 11 offenbart völlig unverhüllt die Eifersucht des Sohnes auf
die Liebesneigung der Mutter und seine Kache wegen der dem Sohne zu-
gefügten Untreue durch Heirat eines anderen (Sohnes; der Mann 15 Jahre
jünger). — „(Der Muttermord aus Eifersucht.) Die Ermordung
der Frau Kachel Wache beschäftigt die Pariser nicht mit Unrecht, denn
die kriminelle Tat ist durch ihre jMotive interessant. Gaston W^ach(5, der
Mörder seiner Mutter, scheint ein moderner Orestes zu sein. Er hat seine
Mutter offenbar aus Eifersucht ermordet; sie hatte sich wenige
Tage vorher heimlich verheiratet. Frau Wachö war bereits sechzig Jahre
alt, sie hatte vier Kinder, von denen drei bereits verheiratet waren, und
nur Gaston lebte bei ihr zu Hause. Er wird allgemein als stiller, fast
schüchterner junger Mann geschildert. Erst di e Heiratspläne seiner
Mutter brachten ihn auf und verwandelten ihn. Frau Wach^,
mehrfache Hausbesitzerin, die ihre Familie wohl versorgt sah, wollte noch
in ihren späten Jahren ein neues Glück erleben. Ein Aktionär des Waren-
hauses Bonmarche, namens Hajos, warb um ihre Hand, Hajos war um
fünfzehn Jahre jünger als sie. Die Kinder der Frau Wachö er-
hoben Einspruch gegen die Heirat, aber die Mutter schien einzig die Un-
zufriedenheit des jüngsten Sohnes zu fürchten. Sie machte ihm Mitteilung
von ihrer Vermählung, als diese schon vollzogen war. Fran W^achd er-
suchte Gaston zugleich, aus ihrer Wohnung zu ziehen, um ihrem Manne,
der übrigens Witwer mit drei Töchtern ist, Platz zu machen. Diese un-
vermittelte Nachricht versetzte Gaston in einen besinnungslosen Zustand.
Er verließ zunächst das Haus, speiste im Kestaurant und kehrte nachts
zurück. Am Morgen trat er in das Schlafzimmer der Mutter, und nach
einer kurzen Szene, in der er die Mutter mit Vorwürfen überhäufte,
zog er einen Kevolver und feuerte einen Schuß ab, der Frau Wach('' sofort
tötete. Eine Stunde blieb der Sohn wie vernichtet an der
Leiche seiner ermordeten Mutter sitzen. Dann ließ er selbst
einen Arzt holen und gestand in wahnsinniger Erregung das Verbrechen
ein. Aus seinen Aussagen geht hervor, daßeran der Mutter
ungemein hing. Verraögensfragen kommen erst in zweiter Linie in
Betracht. "
Beispiele krimineller Äußerung des Vaterkomplexes. 195
Fall 12 zeigt eine weitere Komplikation von Vater- und mehrfachem
Schwestermord, den ersten mit vorgeschobenem Geldkomplex, den zweiten in
deutlicher eifersüchtiger Regung und die weiteren in ofienkundig sadistischem
Schwelgen. Unmittelbar nach der planmäßig vorbereiteten Ermordung des
Vaters erfolgt die besonders raffinierte Tötung der verlobten Schwe-
ster, was im Hinblick auf den Besuch des mütterlichen Grabes, auf
deutliche Eifersucht hinweist, die es nicht verträgt, die an Stelle der Mutter
gerückte älteste Schwester im Besitze eines anderen Mannes zu wissen.
„(Die Mordtragödie in Mainz.) Mainz, 28. Dezember 1908. Der
vierfache Mord, den der Student Josef Racke an seinem
Vater und den Schwestern begangen hat, hat hier geradezu
ungeheures Aufsehen erregt. Der Reichstags- und Landtagsabgeordnete,
päpstliche Kämmerer und Weingroßhändler Nikola Racke war seit 1904
zum zweitenmal Witwer. Aus beiden Ehen sind achtzehn Kinder ent-
sprossen, von denen noch zwölf am Leben sind. Der im Jahre 1887
geborene Sohn Josef, der jetzt die furchtbare Tat verübt hat, trat nach
Absolvierung des Gymnasiums zunächst in ein Kloster, um Ordensgeistlicher
zu werden. Er gab diese Absicht jedoch später auf und studierte seit vier
Jahren zuerst Chemie und in letzter Zeit Astronomie. Zu den Weihnachts-
ferien kam der junge Student aus Bonn in das Vaterhaus. Sein Studier-
zimmer befand sich im Seitenflügel, während hinter der Hauskapelle und
dem Eßzimmer die Schlafzimmer der drei Töchter Stephanie, Elisabeth und
Anna und zuletzt das des Vaters lag. Zwei andere Töchter und der
zweite Sohn wohnten in entfernteren Teilen des großen Hauses.
Die Familie hatte sich nach der Weihnachtsfeier am Freitag gegen
Mitternacht zur Ruhe begeben. Als am Samstag Herr Racke und seine
Töchter um 9 Uhr morgens noch nicht zum Kafiee erschienen waren, ent-
deckte ein Dienstmädchen und die inzwischen herbeigeholte Polizei die
Ermordung der in ihren Betten liegenden Töchter. Als das Schlafzimmer
des Vaters geöffnet wurde, bot sich das gleiche furchtbare Schauspiel dar.
Der Boden des Zimmers war mit Blut bedeckt und Racke lag tot in sei-
nem Bette mit bis zur Unkenntlichkeit zerhacktem Kopf. Durch Schläge
mit einem schweren scharfen Instrument und durch Revolverschüsse waren
Vater und Töchter getötet worden.
Der Verdacht der Täterschaft lenkte sich bald auf den jungen Josef,
den man schlafend im Bette fand. Er wurde verhaftet und gestand sofort
die Tat ein, erzählte, daß er nachts gegen 2 Uhr sich in die Zimmer
seiner Angehörigen geschlichen und sie mit einem Brotmesser, das er schon
am ersten Feiertag an den Lauf des Gewehres gebunden hatte, und durch
Schüsse aus einem Revolver ermordet habe. Seine Absicht, auch die
beiden anderen Schwestern und seinen Bruder zu töten, habe er aufge-
geben, weil ihre Zimmer zu entfernt lagen.
Die Beweggründe der Tat. Der Mörder zeigte nicht die ge-
ringste Spur von Reue und verlangte gleich nach der ersten Vernehmung
zu trinken. Sonntag früh um halb 9 Uhr wurde der Mörder vor die
Leichen geführt. Über die Beweggründe seiner grauenhaften Tat gab er
13*
190 ^^ Di'i" Kampf zwischen Vater und Sohn.
keine Auskunft. Es scheint, daß er sie in einem Anfall von Geistesstö-
rung begangen hat. Zwischen dem Vater und dem Sohn soll
es in der letzten Zeit zu Differenzen gekommen sein, weil
der Student angeblich nicht genug Geld für seinen Aufenthalt in der Uni-
versitätsstadt Bonn erhielt. Die älteste der ermordeten Töchter
Anna hatte sich kurz vor Weih nachton mit einem Berliner
Arzt verlobt. Der Student war vor einigen Tagen in Mainz eingetroi^en,
um die Weihnachtsferieu im Vaterhaus zuzubringen. Am ersten Feier-
tag besuchte er noch das Grab seiner Mutter, die vor einigen
Jahren gestorben ist. Des Morgens war die gut katholische Familie noch
gemeinsam zur Kommunion gegangen. Am Abend des ersten Weihnachts-
tages waren alle Familienmitglieder in bester Eintracht beisammen gesessen.
Der Mörder sagte aus, er habe die Tat absichtlich nach dem ersten
Feiertag verübt, weil er wollte, daß die Familie zuerst das Abendmahl
nehme. Ein Onkel des Mörders befindet sich im Irrenhaus.
Die polizeiliche Untersuchung in der Mordafiare Kacke hat ergeben,
daß es sich sicher um die Tat eines Geisteskranken handelt. Die
einzelnen Angaben, die Josef Kacke gemacht hat, sind allerdings vielfach
widersprechend. Im Laufe des Verhörs hat der Mörder wiederholt erklärt,
er sei nur bereit, einem Priester gegenüber nähere Aussagen zu machen. Man
hat bei ihm die typischen Eindrücke des religiösen Wahnsinns festgestellt.
Trotzdem oder vielleicht gerade deshalb, weil er vom religiösen Wahnsinn
befallen ist, hatte der 21jährige Student die schaurige Tat mit einer sel-
tenen kaltblütigen Überlegung bis in alle Einzelheiten vorbereitet.
Zuerst hat Josef Kacke seinen Vater mit einem scharfen Brotmesser
getötet, dann seine (verlobte) Schwester Anna mit einem selt-
samen Beil erschlagen und ihr sodann mit diesem Mord-
instrument die Pulsadern der linken Hand geöffnet, um
ihres Todes ganz sicher zu sein. Die beiden anderen Schwestern,
Stephanie und Elisabeth, die in einem dritten Zimmer schliefen, wurden durch
die Vorgänge, die sich in dem benachbarten Kaum abspielten, wach, und
als der junge Kacke in ihr Zimmer trat, saß Stephanie aufrecht in ihrem
Bett. Elisabeth war aus Angst aus dem Bett gesprungen, und ehe sie
noch zur Besinnung kam, was eigentlich vorging, feuerte der Bruder zwei
Schüsse auf sie, von denen der erste gleich sie oberhalb des Herzens
tödlich traf, während sie die zweite Kugel am rechten Oberarm verletzte.
Stephanie wollte aus dem Zimmer fliehen, ihr wahnsinniger Bruder aber
schlug sie mit dem Beil nieder. Der Hieb spaltete das Gesicht des
Mädchens. Kacke hatte die Absicht, auch die anderen Geschwister zu töten,
um sie, wie er sagte, von den Sorgen zu befreien, die das Leben und er ihnen
bereitet, doch war er bereits erschöpft und konnte so glücklicherweise
seinen schrecklichen Mordplan nicht zu Ende führen.''
Der Motivgestaltung von der Tötung des Sohnes entsprechend, seien
nun einige Mordtaten angeführt, in denen der Vater sich zur Tötung seines
Sohnes hinreißen läßt. Zunächst als Übergang ein Fall, wo der Vater
Beispiele krimineller Äußerung des Vaterkomplexes. 197
infolge der rohen Angriffe des Sohnes aus Notwehr zur Waife gegriffen
zu haben vorgibt.
Fall 13: „(Vater und Sohn.) Im 7. Bezirk hat sich gestern
nachts ein furchtbares Familiendrama abgespielt. Ein dort wohnender
Geschäftsmann hat seinen Sohn, einen verkommenen Menschen, der daheim
betrunken exzedierte und seine Familie bedrohte, durch vier Schüsse gefährlich
verletzt. Wir erfahren über die Tat: Im Hause Lindengasse Nr. 25
wohnt der 67jährige Kürschnermeister Karl Behr mit seiner Frau und
seinen beiden Söhnen. Während der eine Sohn eine Stütze der Eltern ist,
ist der zweite Sohn, der 24jährige Uniformschneidergehilfe Josef Behr,
ein roher, polizeibekannter Trunkenbold und Exzedent, an dem bisher alle
Besserungsversuche fehlschlugen. Der Vater war durch die Roheiten des
Sohnes so in Furcht versetzt, daß er sich zu seinem Schutze einen Re-
volver anschaffte. Heute um halb 2 Uhr früh kam Josef Behr ganz be-
trunken nach Hause. Er fing wie gewöhnlich in der wüstesten Art zu
poltern an. Als ihn seine Angehörigen zur Ruhe verwiesen, führte er
rohe Reden und bedrohte sie. Dem alten Vater antwortete der Betrunkene
mit so unflätigen Schimpf worten^) und Drohungen, daß der Vater, vom
Zorn übermannt, aus dem Bette sprang und dem entarteten Sohn drohte,
er werde ihn niederschießen. Nun soll sich Josef Behr derart brutal be-
nommen haben, daß der Vater für seine Sicherheit fürchtete. In Notwehr
will er den Revolver zur Hand genommen und blindlings auf den Sohn
geschossen haben, ohne recht zu wissen, was er tue. Alle vier Schüsse
trafen den mißratenen Sohn. Schwer verletzt stürzte der Sohn, nach einem
vergeblichen Versuch, den Vater zu mißhandeln, zusammen."
Fall 14: „(Wieder eine Offizierstragödie.) Aus Baden-Baden, 15. d.,
wird gemeldet : Im nahegelegenen Lichtenthai hat der Major Bauer drei
Schüsse auf seinen Sohn abgegeben und sich dann selbst erschossen.
Der Sohn, der 23 Jahre alt ist, hatte sich gegen den Willen seines
Vaters verlobt, der ihm darauf jeden weiteren Zuschuß versagte. Als
der junge Mann daraufhin den Vater gerichtlich zu weiteren Unterstützun-
gen zwingen wollte, ließ Major Bauer ihn zu sich nach Lichtenthai kom-
men, wo es zu einem heftigen Wortwechsel kam, in dessen Verlauf der
Offizier die unselige Tat beging. In der Annahme, den Sohn getötet zu
haben, erschoß sich daraufhin Major Bauer. Der Sohn ist jedoch
nicht lebensgefährlich verletzt."
Fall 15 zeigt deutlicher die eifersüchtigen Regungen des Vaters
aut den Sohn, der von der Mutter wie ein Liebhaber heimlich empfangen
und pekuniär unterstützt wird : „(Das Familiendrama eines Uni-
versitätsprofessors.) Über die Affäre des Professors der analytischen
Chemie an der Brüsseler Universität Artur Joly, der auf seinen
einzigen Sohn zwei Flintenschüsse abgegeben und ihn an
beiden Beinen ziemlich schwer verletzt hat, wird der „Voss. Ztg." ge-
^) Nach dem Bericfit der Gericlitsverhandlung soll der Sohn den Vater „Hu-
renkerl" und „Harenbua" genannt haben.
198 V. Der Kampf zwischen Vater und Sohn.
meldet: Zwischen dem Vater und dem jetzt 37jährij?en Sohn
besteht schon seit vielen Jahren Feindschaft. Prof. Joly warf
dem Sohn Trägheit, Mangel an Energie vor nnd empfand es als sehr
lästig, daß dieser, der anfangs Apotheker werden sollte und dann das Uhr-
macherhandwerk erlernte, nicht im stände ist, sich seihst zu erhalten. Der
Sühn behauptet, er habe vom Vater nicht die entsprechende Unterstützung
erhalten, um sich einen Erwerb schaffen zu können. Das Ehepaar Joly
wohnt in Brüssel, Kue de liobiano Nr. 21; unweit davon, in derselben
Straße Nr. 47, hatte der Sohn ein möbliertes Zimmer. Die Mutter
bezahlte die Zimmermiete, gab dem Sohn hin und wieder
Geld, und abends, nach dem mit dem Gatten gemeinschaft-
lich eingenommenen Abendbrot, pflegte sie dem auf der
Straße wartenden Sohn vom Fenster aus ein Zeichen zu
geben, worauf dieser dann ins Elternhaus kam und von
der Mutter zu essen erhielt. Paul befand sichbeiseiner
Mutter im Erdgeschoß, als Prof. Joly unvermutet erschien.
Er begab sich sofort in sein im ersten Stock gelegenes Laboratorium und
ließ sich das Abendbrot dorthin bringen. Dieses Verhalten des Vaters
versetzte den Sohn in Zorn. Er eilte hinauf und schlug so lange gegen
die Tür des Laboratoriums, die der Vater hinter sich verschlossen hatte,
bis dieser öffnete. Als Prof. Joly nun dem Sohn in aller Ruhe sagte, er
wolle nichts mehr von ihm wissen, sprang dieser auf seinen Vater
zu und würgte ihn. Der alte Mann riß sich los und gab aus seinem
Jagdgewehr zwei Schüsse gegen den Sohn ab, die diesen, wie erwähnt,
an den Beinen verletzten. Prof. Joly wurde verhaftet. Er erklärte, er
habe sich in der Notwehr befunden und bedaure nicht, seinen
Sohn angeschossen zu haben. Prof. Joly wird ebenso von seinen
Kollegen wie von seinen Schülern verehrt. Er gilt für einen etwas ner-
vösen, aber gutmütigen Mann. "
Fall 16 zeigt einen ähnlichen Eifersuchtshaß gegen den kleinen
Sohn und es ist für die familiäre Einstellung im Vaterkoraplex bezeich-
nend, daß der Sohnesmörder auf Anstiften seines eigenen Vaters ver-
haftet wird. „(Die Tragödie eines Heimgekehrten.) Aus Agram,
11. d., wird berichtet: In Pleso tötete dieser Tage der aus Amerika zu-
rückgekehrte Arbeiter ]\Iikulicic sein eigenes Söhnchen. Der Knabe war
in Abwesenheit des Vaters zur Welt gekommen und zeigte eine auffallende
Abneigung gegen diesen, so daß der Vater schließlich das eigene Kind
aus Haß ermordete. Der Mörder wurde auf Anzeige seines eigenen
Vaters verhaftet."
Wem dieser ]\Iord an dem heranwachsenden Söhnchen als Eifer-
suchtstat im Sinne unserer Auffassung nicht plausibel erscheint,') der
sei daran gemahnt, daß ja diese Empfindung bewußterweise nicht
sexuell betont sein wird, daß aber die entfernteren Eifersuchtsregungen
') Übrigens führt Ferriani (Madris natarate [Entmenschte Mütter], Ml-
lano 1893) aug, daß Kindermißhandlungen oft au8 Eifersucht erfolgen.
Zur Psychologie des Mörders. 199
aus dein Unbewußten heraus wirken, dessen Motivierungen dem bewußten
Denken höchst unzureichend und absonderlich erseheinen, was in der
Bewahrung ihres infantilen Charakters begründet ist. Tatsächlich
scheint im vorliegenden Falle ein solcher Weg in die eigene ähnliche
Kindheitseinstellung des Mörders zu weisen, der ja von seinem Vater
der Strafe zugeführt wird. Offenbar muß der Mörder in seinem
dunklen Empfinden von seinem ihn hassenden Söhnchen eine ähnliche
Einstellung befürchtet haben, wie er sie selbst einmal dem eigenen
Vater gegenüber eingenommen hat. Dieses Motiv der Vergeltungs-
furcht hat einen bedeutsamen Anteil an der dichterischen Stoffgestaltung
(vgl. bes. Kap. VI) und der Mythenbildung (Kap. IX).
Die Bedeutung des Vaterkomplexes für das psychologische Ver-
ständnis des Mordes vom Mann am Manne ist jedoch nicht nur eine
spezifische, auf das Verhältnis vom Vater und Sohn beschränkte,
sondern eine paradigmatische und erstreckt sich auf eine weitgehende
psychologische Identität,^) indem viele Mordtaten, insbesondere die aus
Eifersucht begangenen, sich bei psychoanalytischer Durchleuchtung
als Realisierung jener ursprünglich dem Vater gegoltenen infantilen Ein-
stellung mittels der Verschiebung auf ein anderes Opfer erweisen, wie ins-
besondere der politische Mord zeigt, der die Auflehnung gegen die Obrig-
keit aufdringlich betont. -) Wir können diese auf Grund der psychoanaly-
tischen Einsichten gesicherte Tatsache hier nicht an der psychologischen
Durchleuchtung derartiger Verbrechen demonstrieren und verweisen
auf die Analyse der dichterischen, mythischen und neurotischen Phanta-
sien, die ja, wie auf der einen Seite vom Perversen, so auf der anderen vom
Verbrecher realisiert werden. Die Bedingungen zum Verbrechen sind
also weniger — im Sinne Lombroso's, der vom „geborenen Ver-
brecher" spricht — in der Anlage, als in der zweifellos auch durch
die Anlage mitbestimmten Verarbeitung der infantilen Psychosexua-
lität, insbesondere des Elternkomplexes, zu suchen. Wie Freud für
den Träumer und den Xeurotiker den infantilen T3'pus des Denkens
nachgewiesen hat, so ließe sich für den Verbrecher, vornehmlich den
Mörder, der infantile Typus des Handelns in Anspruch
nehmen, wobei jedoch eine scharfe Differenzierung vom Perversen ge-
boten ist, für den Freud gleichfalls die Bewahrung der infantilen
Betätigung auf sexuellem Gebiet erwiesen hat. Beim Perversen
hat sich die ursprünglich polymorph-sexuelle Anlage des Kindes-^) nicht
nur in bestimmter Richtung voll erhalten, sondern ist infolge Aus-
bleibens gewisser Hemmungen zur vollwertigen Sexual betätigung ge-
reift. Beim Neurotiker, bei dem konstitutionell eine gleiche Trieb-
^) Der Vatermord ist ja auch historisch der erste öffentlich-rechtlich verbotene
Mord. Vgl. Storfer: Zur Sonderstellung des Vatermordes. Eine rechtshistorische
und völkerpsychologische Studie (Deuticke 1911.)
2) Vgl. dazu die Schlußausführungen im „Mythus von der Geburt des Helden".
(Deuticke 1909).
^) Freud; Drei Abhaudlungen zur Sexualtheorie, 2. Aufl. 1910.
200 V. Der Kampf zwischeu Vater und Öohn.
Verstärkung herrscht, tritt aus hier nicht näher zu erörternden Gründen
ein durch mctralischo, roligiöse, konventionelle Hemmungen verstärktes,
mächtiges Schuldbewußtsein im Gefolge des Verdrängungsversuchs
dieser übermächtigen Triebregungen auf, das zum Mißglücken der Ver-
drängung und zum entstellten Durchbruch der verdrängten Regungen
in den Symptomen führt. Der Verbrecher steht, gleichfalls als asoziales
Wesen, in psychologischem Sinne zwischen dem Perversen und dem
Neurotiker. ]\Iit dem Perversen ist ihm, im Gegensatz zum Neuro-
tiker, der sich gegen das eigene Ich kehrt, die Aktionsfähigkeit
gegenüber der Außenwelt gemeinsam, er steht aber dem Neurotiker
insofern näher, als bei ihm die sexuellen Regungen und Affekte nicht
auf ilirem ursprünglichen Gebiet verbleiben und sich dort zu befrie-
digen suchen, sondern ein eigenartiger aus der Neurosenbildung gut
gekannter Verdrängungsmechanismus, den Freud als Verschiebung
dargelegt hat, sie mittels Ablenkung und Umkehrung an andere Vor-
stellungen heftet. Der Verbrecher läßt sich so gleichsam als aktiver
Neurotiker charakterisieren, während der Perverse überhaupt nichts
Neurotisches an sich haben muß ; in der ursprünglichen Triebanlage aber
stehen beide dem Neurotiker gleich nahe und in ihrer ungehemmten
Aktionsfähigkeit beide ihm in gleicher Weise gegenüber. Diese über-
starke Triebanlage, welche zu so verschiedenen Charaktergestaltungen
und Lebensschicksalen führt, hat Freud in der sadistischen Kompo-
nente des Sexualtriebs erkannt, deren Anlage und Entwicklung den
Ausgang des Verdrängungskampfes entscheidend beeinflußt. Es sei
nur bemerkt, daß dieses sadistische Moment auch beim Dichter den
Hauptanteil an den Mordtaten und Grausamkeiten hat, die er auf der
Szene vollführen läßt und mit denen er auf die gleichen, jedoch stärker
unterdrückten Neigungen des Zuschauers mächtig wirkt. Er unter-
scheidet sich darin ungefähr ebenso vom wirklichen Mörder, wie er
sich durch die dichterische Verarbeitung seiner Inzestgefühle vom wirklich
Perversen unterscheidet, der sie in den Sexualakt umsetzt. Daß die künst-
lerische oder kriminelle Transponierung mächtiger verdrängter Sexual-
affekte in grausame Mordimpulso nur durch Vermittlung der sadisti-
schen Sexualkomponente vor sich gehen kann, wie sie ja den Mör-
der charakterisiert, hat die Freudsche Analyse der Zwangs-
neurose^) uns gelehrt, die auf mißglückter Verdrängung einer
übermächtigen sadistischen Sexualkomponente beruhend, zur selbst-
quälerischen Hemmung gewaltsamer Impulse führt. Der Zwangsneurotiker
leidet oft direkt an der Vorstellung, jemand ermordet zu haben, oder
an dem Zwangsvorwurf wegen eines IMordes zur Rechenschaft gezo-
gen zu werden ; andere Male schließt er sich in seiner Wohnung ein,
um nur nicht zu dem ge fürchteten Mord hingerissen zu werden. Die
Analyse dieser natürlich objektiv unbegründeten und darum schein-
bar unsinnigen Vorstellungen hat aber nicht nur ergeben, daß sie
ehemals positiv betonten, nunmehr verdrängten Wünschen und Im-
*) Bemerkaugen über einen Fall von ZwangHueurose (Jahrb. I. 1909).
Psychologische Beziehungen des Mörders zum Perversen und Neurotiker. 201
pulsen entsprechen, sondern auch, daß die logische Unzugänglichkeit
sowie die affektive Intensität und Unzerstörbarkeit dieser Impulse
der Verschiebung vom ursprünglich sexuellen Gebiet und entsprechender
Affektumwertung durch Vermittlung der sadistischen Sexualkompo-
nente zuzuschreiben ist. Während aber die sadistische Komponente
sich beim Neurotiker in Form der Selbstbestrafung gegen die eigene
Person wendet, was beim Hysteriker direkt in körperlichen Leiden,
beim Zwangsneurotiker in selbstquälerischen Schuldgefühlen und Vor-
würfen zum Ausdruck kommt, wendet sie sich beim Verbrecher gegen
beziehuugsreiche Personen der Umgebung, die etwa den Sexualobjek-
ten des sadistisch Perversen entsprechen, wie auch die IMordphanta-
sien und Vorwürfe des Zwangsneurotikers seltsamer Weise gerade
solche Personen betreffen, die ihm wertvoll und teuer waren, woraus
sich ja sein Konflikt erklärt, den der aktionsfähige Mörder in der
Regel erst nach der Tat in der Form von Reue- und Straf bedUrfnis
empfindet. Darf man so das Opfer des Mörders in einem gewissen
Sinne als eine Art pathologischen Ersatzes des Sexualobjekts ansehen^), so
gibt es eine Neuropsychose, die das mit aller Deutlichkeit zeigt und die
charakteristischerweise nicht selten in den beim Zwangsneurotiker
gehemmten Mordimpuls umschlägt. Es ist dies die Paranoia, deren
psychoanalytische Durchleuchtung ergeben hat, daß die vom Kranken
gefürchteten Verfolger, an denen er mitunter zum Mörder wird, nichts
anderes sind als Ersatzfiguren ehemals geliebter Personen, die durch
Projektion der eigenen Gefühlswandlung nach außen als Feinde an-
gesehen werden.^) Als Urbild dieser im Unbewußten geliebten, im
Bewußtsein aber als Feind und Verfolger abgewehrten Person hat die
Analyse auch hier den Vater ergeben^), dem das Kind ja ursprüng-
lich ähnlich widerspruchsvoll gegenüberstand, aus welchem Gefühls-
widerstreit sich einzig und allein die auf Bestrafung und Selbst-
*) Am deutlichsten ist dies natürlich beim „Sexual Verbrecher", den Wulf-
fen in einer wertvollen zum Teil auf die Freud sehen Lehren rekurrierenden Un-
tersuchung psychologisch zu verstehen suchte. — Die Psychoanalyse vermag aber
auch in anderen von perversen Sexualtrieben scheinbar gänzlich unbeeinflußten Mor-
den die erotischen Triebkräfte aufzudocken. Das instruktivste Beispiel für den Er-
satz des Sexualaktes durch den Mord bietet das Leben und Dichten Kleists, der
nicht nur in seiner „Penthesilea" diesen Zusammenhang aufs deutlichste dar-
gelegt hat, sondern auch in einer Reihe anderer künstlerisch durchgebildeter Phan-
tasien, die er schließlich im gemeinsamen Liebestod auch realisierte. (Vgl. dazu Sa d-
ger s Psychographie über Kleist, Wiesbaden 1909). Vgl. auch Proal: Le double
suicide d'amour. Arch. d'anthrop. crimin. 1907, p. 553.
Anzengruber hat in seinem Lustspiel; der Doppelselbstmord
diese sexuelle Seite der Motivierung in launiger Weise karrikiert.
^) Freud: Psychoanalytische Bemerkungen über einen autobiographisch be-
schriebenen Fall von Paranoia (Jahrb. III. 1911).
^) Vgl. im „Mythus von der Geburt des Helden" die Schlußausführungen über
den Anarchisten. Spitzka („Political assassins ; are they all insane?" The Journ.
of Mental Patholog. 1902) konnte unter den politischen Attentätern bei V? i^i* Si-
cherheit Paranoia feststellen. Vgl. auch Pen ta: Parricida paranoico. Giornale per i
medici periti etc. 1897.
202 V. Der Kampf zwischen Vater und Sohn.
besehädig-un»' gerichtete Reue erklärt^), welche auch den in diesen Fäl-
len SU auftalligen Gleichmut verstilndlieh macht, mit dem oft selbst
die Todesstrafe empfauf^en wird. Dieser Gleichmut im Angesicht des
eigenen Todes hat sein Gegenstück in der ähnlich abgeschwächten
Todesvorstellung bei der Tat selbst, die viel zu sehr mit unserem
bewußten Denken beurteilt wird. Es ist psychologisch höchst unwahr-
scheinlich, daß der Mörder im jMoment der Tat den Tod in seiner ganzen
furchtbaren Konsequenz zu denken vermag, wie das auf dem alten
Talionsprinzip fußende Strafgesetz annimmt. Er hat vielmehr auch
darin den infantilen Typus des Denkens bewahrt, der ihm die Durch-
setzung der infantilen Impulse in der Realität ermöglicht. Seine Vor-
stellung vom Tode entspricht vollauf der von Freud in der „Traum-
deutung" dargelegten kindlichen Todesvorstelluug, die zunächst nur auf
die zeitweilige oder dauernde Entfernung des störenden und unerträg-
lich gewordenen Konkurrenten abzielt, und der die in ihrer Klar-
heit furchtbare Vorstellung des Niemals-mehr-wieder-kommens und
der Verwesung fehlt. In ähnlichem Sinne verbindet auch der
Dichter, der kaltblütig die gräßlichsten Mordtaten in seiner Phantasie
und auf der Szene vollführen läßt, mit der Vorstellung der Neben-
buhlertötung nur die Abwesenheit jeder störenden Konkurrenz oder
psychologisch ausgedrückt, den Wegfall der seelischen Hemmung, wie
ja die typische Motivgestaltung vom totgeglaubten (i. e. totgewünschten),
aber doch entweder leibhaftig (Theseus, Mithridate, der alte Moor) oder als
Geist (Hamlet) zurückkehrenden Vaters zeigt, der die Reueempfindung des
Sohnes symbolisiert und damit wieder die seelische Hemmung herstellt.
Wie der Dichter diese Phantasien unter Teilnahme und Sanktion des
Publikums immer wieder auszuleben strebt, so ist anderseits, wie die
Tatsachen zeigen, die Strafdrohung und der Strafvollzug dort wirkungslos,
wo nicht infolge innerer Triebverwandlung die Reue mit ihrer Selbstbeschä-
digungs- und Bestrafungstendenz auftritt. ^) In diesen Fällen, die jedoch
häufig zur Selbstrichtung des Täters führen, wäre die Todesstrafe
vielleicht als ersehnter Abschluß des psychisch abgelaufenen Lebens
berechtigt; psychologisch jedoch entspricht sie nicht einmal dem auf
sadistischer Grundlage fußenden Talionsprinzip. Die psychoanalytischen
Forschungen nötigen uns die Einsicht auf, daß ein wirklich psycho-
logisches Verständnis der Mordtaten nur durch eingehende Berück-
sichtigung der entscheidenden unbewußten Motivierungen und
der ihnen zu Grunde liegenden besonderen Triebanlagen und -konstella-
tionen möglich ist. Man kann es nur als bedauerlich empfinden, daß
') Nach den einbeitlichen Befunden Freuds beginnt auch jede Zwangs-
neurose im Knabenalter mit dem Todeswunsah gegen den Vater, der jedoch bald ver-
drängt und damit den verschiedensten psychischen Umwandlungen ausgesetzt ist
^) V ii c k e barichtet in seiner Arbeit, „übsr Familienmord bei Geisteskranken"
(Halle 190S) von zahlreichen Selbstmordversiiclien nach Familienmorden. Es maß
'loch im Sinne des wahnhaften Durchhruchs früher verdrängter Regungen auffallen,
daß Familienmorde der verschiedensten Art so häufig im Gefolge von Geistesstörung
sind.
Möglichkeit einer prophylaktischen Beeinflussung. 203
die Gesellschaft in der Beurteilung und Behandlung dieser antisozialen
Elemente, selbst wenn sie die eigentlichen Triebfedern ihres Handelns
richtig zu würdigen wüßte, diesen psychologischen Tatsachen kaum
in entsprechender Weise Rechnung tragen könnte. Es sei denn, daß
man die Möglichkeit der Prophylaxe auf dem Wege einer allgemein-
pädagogischen Wirkung der psychoanalytischen Aufklärung als keines-
wegs gänzlich utopische Zukunftshoffnung schon jetzt ins Auge
fassen darf.^)
^) Vgl. Freud: „Die zukünftigen Chancen der psychoanalytischen Therapie."
(Zentralbl. f. Psychoanalyse, I, 1, S. 7.)
VI.
Shakespeares Vaterkomplex.
Zur Psychologie der schauspielerischen Leistung.
„Der rohe Sohn schlug' seinen Vater tot."
Troilus und Cressida (I, 3).
Der aus den unbewußten Quellen der frühinfantilen und ver-
drängten Neigung zur Mutter entspringende und gespeiste Vaterhaß
Shakespeares ist uns bereits aus der Analyse des Hamlet bekannt,
wo er als treibende Kraft des ganzen dramatischen Gefüges wirkt.
Besonders charakteristisch und, wie schon hervorgehoben wurde,
typisch für das infantile Verhältnis zum Vater ist jedoch das wider-
spruchsvolle, zwischen Zu- und Abneigung schwankende Verhalten
des Sohnes, das ihn zur 1 at des gewünschten und doch wieder gefürch-
teten Vatermordes nicht kommen läßt und so die Erscheinung des
von fremder Hand gemordeten Vaters als Geist hervorruft, der
anderseits auch die vorwurfsvolle Reue des Sohnes über den Gedanken
des Vatermordes zum Ausdruck bringt.
Ganz das gleiche Kolorit, den gleichen wankelmütigen wider-
8pruchsv(jllcn Charakter und die gleiche Geistererscheinung findet man
in Shakespeares „Julius Cäsar" wieder, den wir mit Brandes
(S. 426) aus inneren Gründen als gleichzeitige Schöpfung mit Hamlet
ansehen müssen. Die einander sehr ähnlichen Charaktere des
Brutus und Hamlets sind schon oft verglichen worden.^) Der
Widerstreit der Gefühle, der sich bei Hamlet im Unliewußten abspielt
und nur in seinen neurotischen Wirkungen (der Lähmung der Moti-
lität, der Tatkraft) äußert, ist jedoch bei Brutus ein zum Teil bewußter :
„seit kurzem quälen mich Regungen von streitender Natur" (I, 2). Und
beim Anljlick des ahnungslosen, von ihm zum Tode bestimmten Cäsar :
„Das Herz des Brutus blutet es zu denken" (H, 2 Schluß). Auch die
vollbrachte Tat rechtfertigt er ähnlich vor dem Volke : „des Brutus
*) Brandes (S. 456): Von Urutiis führt eine Linie direkt zu Hamlet. Der
Übergang ist der ältere Ikutus, der sich wahnsinnig stellte und den Tyrannen
vertrieb. (Vgl. dazu anscre Ausführungen in den beiden folgenden Kapiteln.)
Brutus und Hamlet. 205
Liebe zum Cäsar war nicht geringer als seine" ; und die Tat voll-
führte er: „nicht weil ich Cäsarn weniger liebte, sondern weil ich
Rom mehr liebte"' (III, 2). Dieser psychische Konflikt kann sich aber
hier, im Gegensatz zu Hamlet, so bewußt und offen äußern, weil es
sich ja nicht um den Vater handelt, wie in Hamlet, sondern um den
Tyrannen, der nach unumschränkter Herrschaft strebt (vgl. Fiesco).
Verrät uns schon die xVnalogie mit Hamlet und der Mordanschlag des
Brutus trotz seiner so tiefen Liebe zu Cäsar den Sohnescharakter des
Brutus, so ist uns anderseits auch der Ersatz des Vaters durch den
tyrannischen Herrscher, den Kaiser, nicht mehr unbekannt. Diese
Verschiebung und Ersetzung macht aber im Cäsar, wie den bewußten
Konflikt, so auch die direkte Wunscherfüllung, den Mord, möglich,
während der Hamlet das Gegenstück dazu, die Verdrängung, die
Neurose darstellt. In ähnlicher Weise ergänzen auch die beiden Geister-
szenen in Hamlet (III, 4) und in Cäsar einander. Dem Brutus er-
scheint in der Nacht vor der entscheidenden Schlacht um die nach
Cäsars Tode frei gewordene Herrschaft der Geist des ermordeten
Cäsar in seinem Zelt, um ihm Vergeltungsrache zu drohen (Geist:
„Um dir zu sagen, daß zu Philippi du mich sehen sollst" ; IV Schluß).
Im Cäsar erscheint der Geist dem wirklichen Mörder, während er ja
im Hamlet dem „Rächer" seines Mordes (Abwehr) erscheint; dafür
ist aber im Cäsar das Sohnesverhältnis, wie es im Hamlet voll besteht,
gelöst. Auch fehlt die Mutter, die im Hamlet eine so bedeutende Rolle
spielt, im Cäsar ganz, wie Cäsar überhaupt eine reine politische
Dichtung, ein Männerdrama, zu sein scheint.^) Wir haben hier ein
klassisches Beispiel einer Dichtung vor uns, die ohne auch nur die
geringste sexuelle Andeutung zu enthalten, doch ihre tiefsten Quellen
und Triebkräfte aus den infantilen, unbewußten Sexualregungen be-
zieht. Den Schlüssel zu dieser Erkenntnis bietet die Geistererscheinung
(IV, 3) des toten Cäsar im Zelte des Brutus: das ist die aus dem
Hamlet bekannte und, wie leicht gezeigt werden kann, typische Vision
des Vaters, die dem Traum vom Tode des Vaters entspricht, in ihrer
künstlerischen Verarbeitung, die aber in ihrer affektiven Betonung an
einen nieurotischen Anfall (Vision) gemahnt. Der Affekt, der dieser
Szene nnewohnt und in der Darstellung und ihrer Wirkung zum
vollen Ausdruck gelangt, ist es auch nicht zuletzt, der uns die Geister-
erscheinung im Cäsar als identisch mit der im Hamlet, also als Erschei-
nung des Vaters, erkennen läßt. Fast mit denselben affektiv betonten
Worten wie Hamlet („Sei du ein Geist des Segens, sei ein Kobold,
bring Himmelslüfte oder Dampf der Hölle, .... du kommst in so
fragwürdiger Gestalt, ich rede doch mit dir") spricht auch Brutus
den Geist an:
^) Ähnlich wie Schil ler im Carlos ist es auch Shakespeare nur ein ein-
ziges Mal im Hamlet gelungen, flen ganzen Inzestkomplex, also neben dem Haß
gegen den Vater auch die Neiguug zur Mutter, darzustellen. Sonst tritt überall, auch
wie bei Schiller, der Vaterkomplex allein mächtig in den Vordergrund; z. B. im
Cäsar u. a. m.
206 VI. »Shakespeares Vaterkomplex.
— Bist du irgend was?
Bist du ein Gott, ein Enj^el oder Teufel,
Der starren macht mein Blut, das Haar mir sträubt?
Gib Rede was du bist.*)
Der Sohnescharakter des Brutus^) kommt auch darin zum
Ausdruck, dali eigentlich er allein (und nur teilweise auch noch
Cassius, der nur eine Seite seines Wesens verkörpert: vgl. die
Spaltung im Carlos) im eigentlichen Sinne für die Tat verantwortlich
gemacht ist'^) und diese Verantwortung in ihrer vollen Schwere
empfindet, wie ja auch ihm allein der Geist des Ermordeten erscheint.
In einer seltsamen, für unsere Auffassung beweisenden Art äußert sich
auch im ^Julius Cäsar" die Keue des „Vatermörders", seine Selbst-
bestrafungstendenz. Brutus und sein zweites Selbst, Cassius, sterben
nicht in der Schlacht durch die Übermacht und von der Hand der
Feinde, sondern sie sterben aus Keue über die Ermordung Cäsars durch
eigene Hand, sie sterben durch die Erinnerung an Cäsar entwaffnet*),
gleichsam durch ihn selbst, was sich auch darin dokumentiert, daß ihr
Tod mit demselben Schwert erfolgt, mit dem sie am Morde Cäsars
beteiligt waren:
Cassius — — — — — — mit diesem guten Schwert,
Das Cäsars Leib durchbohrt, triff diesen Busen.
— — — — — — — Cäsar, du bist gerächt,
Und mit demselben .Schwert, das dich getötet. (Er stirbt.)
Und Brutus spricht es direkt aus, daß er für den toten Cäsar
und gleichsam von seiner Hand fällt :
0, Julius Cäsar; Du bist mächtig noch.
Dein Geist geht um; er ists, der unsere Schwerter
In unser eignes Eingeweide kehrt.
Und unmittelbar vor seinem Tod:
„Besänftige, Cäsar, dich.
Nich halb so gern bracht' ich dich um als mich.
(Er stürzt sich auf sein Schwert und stirbt.)
'j Vgl. dazu die gleichen Worte des Geistes im Hamlet (I, 5): „ . . . . liöb
ich eine Kunde an, von der das kleinste Wort die Seele dir zermalmte, dein junges
Blut erstarrte, deine Augen wie Stein' aus ihren Kreisen schießen machte, dir
die verworrnen krausen Locken trennte, und sträubte jedes einzle Haar
empor ....".
2) Auch Schiller faßt in seiner Liedeinlage der „Räuber" das Verhältnis von
Brutus zu Cäsar vollkommen als das des Sohnes zum Vater auf (vgl. Kap. XX
„Schillers Geschwisterkomplex" im II. Abschnitt.)
^) Er ist auch der einzige von allen Verschworenen, dem Antonius reine
Motive zubilligt; „und so mischten sich die Element in ihm, daß die Natur auf-
stehen durfte und der Welt verkünden: Dies war ein Mann!" (siehe den Schluß
des Dramas). Dazu vgl. man die Worte Hamlets über seinen Vater (I, 2): „Er
war ein Mann, nehmt alles nur in allem, ich werde nimmer seinesgleichen sehn."
"j Vgl. dieselbe Unfähigkeit Hamlets zu handeln, wo es sich um den Ge-
danken an den ermordeten Vater und seine Kache handelt. Einen psychologisch
„Julius Cäsar" als Vatermord-Drama. 207
In diese» Schichte der Deutung erscheint die Gestalt des Cassius
bei Shakespeare nur als Verkörperung- der in Brutus von Anfang
an rege gewesenen Abwehrteudenzen, die sich in der Selbstbestrafung
äußern. Cassius erscheint schon von Beginn an als Selbstmord-
kandidat und in seiner ersten Unterredung mit Brutus (I, 2), sowie
in allen seinen Auftritten äußert er Selbstmordgedanken. Es ist auch
ein tiefer Zug des Dichters, daß er den Cassius an seinem Geburtstag
sterben läßt (V, 3), was wieder auf das Verhältnis zum Vater hindeutet.
Was aber unserer ganzen Auffassung und Ausdeutung des Sohnes-
verhältnisses von Brutus zu Cäsar eine erhöhte Bedeutung und zugleich
eine unumstößliche Beweiskraft verleiht, ist der Umstand, das in der
historischen Quelle, die Shakespeare erwiesenermaßen benutzte
und der er fast wörtlich folgte^), nämlich bei Plutarch, daraufhin-
gewiesen ist, daß Cäsar den Brutus für seinen außerehe-
lichen Sohn gehalten habe (Plutarch: Brutus c. 5). In diesem
Sinne ist ja auch der zum Schlagwort gewordene Ausruf Cäsars zu
verstehen, den er wiederholt ausgestoßen haben soll, als er den Brutus
mit gezücktem Schwert auf seinen Leib eindringen sah: „Auch du,
mein Sohn Brutus?'' (Sueton: Julius Cäsar, c 82).-) Bei Shake-
speare ruft der verwundete Cäsar nur aus (III, 1): „Brutus, auch
du? — So falle, Cäsar.'' Wie Cäsar hier also eigentlich in letzter
Linie durch den Undank des Brutus, von der Hand des Sohnes gleich-
sam fäUt, so stirbt ja auch Brutus, wie gezeigt wurde, in letzter Linie
aus Reue über den Vatermord, gleichsam von der Hand des Cäsar.
Dieses Shakespeare unzweifelhaft bekannte Sohnes-
verhältnis des Brutus zu Cäsar hat also der Dich-
ter bei der Ausarbeitung aus den tiberlieferten Quel-
len weggelassen. Wir gewinnen hier wieder eine prinzipielle
Erkenntnis, die sich einer früher gewonnenen angliedert. Nicht nur
die Modifikationen, die der Dichter an den historisch überlieferten
Verhältnissen und Charakteren oder an der Auffassung seines Vorgängers
vornimmt, sind psychisch tief begründet, sondern auch die Auslassungen
aus den Quellen sind es; diese sind etwa gleichzusetzen den Aus-
trefteuden Ausdruck für diese reuigen, selbstzerfleischenden Gewifsensbi?se des Sohnes
hat Andreas Gryphius (1616—1664) in seinem „grof mutigen Rechtsgelehrteu'*
(1659) gefunden, wo den schlafenden Kaiser Caracalla die Furien peinigen und dem
Geiste des verstorbenen Kaisers .Severns den Dolch übergeben, um den Sohn im
Traume zu durchbohren. — Es sei hier erwähnt, daß der Dichter seit seinem
6. Lebensjahre unttr der Härte eines Stiefvaters schwer zu leitlen hatte und mit ihm
in fortwährender Zwietracht lebte, wodurch die Sehnsucht nach dem leil liehen
Vater und damit die reuige Einstellung gegen diesen geweckt worden sein dürfte.
^) Delius: Cäsar und seine Quellen (Shakespeare-Jahrb. XVII.)
2) curiam. in qua occisus est (Caesar), obstrui placuit, Idusque Martius
parricidium nominari iSuet. 88). — ,Der Name des Augustus, der Cäsar rächt,
wird in Heraeum auf eine Statue gefälscht, die Orestes, den Kächer seines Vaters
darstellt (Bachofeu: Antiquarische Briefe I 30 ff.). Diese Verehrung des Augustus
scheint ebenso den Rächer des Landesvaters, wie den Kächer des Adoptivvaters
zu betreffen" (S torfer 1. c. S. 18 Anmkg.)
208 VI. Shakespeares Vaterkoniplex.
lassuDgen aus den Entwürfen und ersten Ausarbeitungen bei der end-
gültigen Fassung, entspringen also einer A'erdrjingungstendenz gegen
die Aufjerung jieinlidi wirkender und infolge Verdrängung gehemmter
Kegungen, wie es bei Shakespeare der stark aft'ektive Vaterkom-
plex unzweifelhaft war. Ja, wir müssen sogar hier einen Schritt weit über
das Beweisbare in unserer Auffassung der Psychologie der StofFwahl hin-
ausgehen. Angesichts des bei Plutarch überlieferten Stoffes, den
Shakespeare fast wörtlich, bis auf das Sohnesverhältnis, in sein
Drama hinübernahm, müssen wir eigentlich sagen, die Sache ist um-
gekehrt, als mau bis jetzt allgemein angenommen hat: es ist nicht
erst zu beweisen, daß jede Stoffwahl beim Dichter psychologisch tief
begründet ist, und seinen vorherrschenden Komplexen in weitgehendem
Maße entspricht, sondern man darf umgekehrt aus der Wahl und Be-
handlung eines Stoffes mit ziemlich Aveitgehender Sicherheit auf die psy-
chische Eigenart des Dichters schließen. Der Dichter ergießt auch
nicht nur gewisse ^.strebende Gefühle" in einen überlieferten Stoff, der
ihn aus irgend welchen Interessen, historischen, ästhetischen u. a. ange-
zogen hat, sondern er ist mit solchen Interessen als Vorlust immer
auf der Suche nach einem Stoff (Bleulers Komplexbereitschaft), der
ihm gestattet, seine Gefühle in ihren jeweiligen Verdrängungs- und
Abwehrstadien zu entladen.
Neben dieser höchst bezeichnenden und bedeutsamen Verwi-
schung des Sohnesverhältnisses, die der Abschwächung zur Stief-
mutter gleichzusetzen ist, kommt das wenige, was Shakespeare
selbst der Fabel frei einfügte, noch als ps^'chologisch wichtig in Be-
tracht. So fehlt bei Plutarch der erste Monolog des Brutus (II, 1)
vor dem entscheidenden Entschluß,^) ebenso wie der die gleiche Emp-
') An diesen Monolog erinnert auffäUig dei auch der Rechtfertigung vor sich
selbst dienende Monolog Teils vor dem Tyrannenmord. Auch bei Teil kehrt die gleiche
Rechtfertigung des Mordes im Interesse des Vaterlandes wieder. In diesem Sinne ist auch
„Fiesco" ein Cäsardrama (vgl. die geplante Ermordung Fiescos in der Senatssitzung,
aus der er aber ausl)leibt, während Cäsar, trotz unheilvoller Warnungen, erscheint).
Wie Cäsar ereilt auch Fiesco das Geschick in dem Moment, wo er selbst Tyrann
werden will. Lconore benimmt sich ganz wie Brutus' Gattin Portia (IV, 11), ja sie
bezeichnet sich selbst als diese und den Fiesco als lirutus (V, 5). Auch Stauflfachers Weib
ist ein Abkömmling der Portia; fast mit den gleichen Worten wie diese weiß sie
ihrem Manne sein Geheimnis zu entlocken (Teil I, 2), indem sie ihre Standhaftigkeit
und äußerste Entschlossenheit rühmt. Welch großen Einfluß Shakespeares Cäsar
auf Schillers Produktion überhaupt, wie auf den Teil im besonderen übte, ist
bekannt. Zur Zeit der Arbeit am Teil erbittet sich Schiller von Cotta (am
9. August 1803) die Besorgung eines Exemplars von „Julius Cäsar" und am 2. Ok-
tober berichtet er Goethen den großen Eindruck, den er am Vortag von der Auf-
führung des Shakespeare sehen Dramas empfangen hatte: „Es hat mich gleich
gestern in die thätigste Stimmung (für meinen Teil) gesetzt." Aus früherer Zeit
kannte er den Cäsiir Shakespeares fast auswendig (Jonas), ebenso wie den
für die Räuber vorbildlichen „Julius von Tarent", was in unserem Sinne als Zeichen
einer mächtigen, unbewußten Wirkung dieser Werke auf Schiller aufgefaßt werden
maß. (Auch von Racine wird berichtet, daß er die Tragödien der Alten auswendig
wußte, wahrscheinlich die, die in un verhüllterer Darstellung seine eigenen verdrängten
Chtarakteristische Äußerungen des Vaterkomplexes. 209
findung-, den inneren Widerstreit in Brutus Seele, zum Ausdruck brin-
gende Dialog- zwischen Brutus und Cassius (I, 2). Auch die Erschei-
nung des Geistes, die Plutarch nicht ausdrücklich als die des Cäsar
bezeichnet, ist von Shakespeare in diesem Sinne ausgestaltet wor-
den, wie auch einige andere Züge (vgl. Del ins a. a. 0.), die unsere
Auffassung unterstützen. Neben all den inneren Momenten, die den
Julius Cäsar als Vatermorddrama kennzeichnen, kommt ein unschein-
bares, aber nach den bisherigen Ausführungen beweisfähiges, äußeres
Anzeichen, das dafür spricht. Es ist eine Redefigur, die wie alle sprach-
lichen Eigenheiten der Dichter, besonders alle Gleichnisse, niemals
zufällig gewählt, sondern psychologisch streng determiniert sind, wie
sie ja auch rein äußerlich dem ganzen Stil des Werkes entsprechen
müssen. Brutus sucht den über den Mord aufgebrachten Antonius von der
Notwendigkeit der Tat zu überzeugen, um ihn dadurch zu besänftigen :
„Und unsre Gründe sind so wohl bedacht,
Daß, wärt Ihr Cäsars Sohn, Antonius,
Sie Euch genügten,"
Daß gerade Brutus das sagt, deutet darauf hin, daß Shakespeare
dessen Sohnesverhältnis zu Cäsar kannte, es jedoch infolge innerer Hem-
mungen absichtlich verwischt hat. Denn der Ausspruch besagt eigentlich :
seht, uns, Caesars Sohn, genügen sogar die Gründe ; um wie viel mehr
müssen sie euch genügen. In Antonius, der dem ermordeten Cäsar
eine so pietätvolle, aber auch politisch angehauchte Grabrede hält, sind die
verehrungsvollen Gefühle des Sohnes dem Vater gegenüber verkör-
pert, wie in Cassius die Selbstbestrafungstendenzen. Dem prinzipiell
wichtig scheinenden Einwand, daß ja so wie Brutus auch Cassius und
Antonius historisch überlieferte und beglaubigte Personen seien, daß
sie also nicht, wie wir meinen, verschiedene Verkörperungen der
Sohnesgefühle des Dichters darstellen können, ist mit dem Hinweis zu
begegnen, daß die Personen wohl historisch überliefert sind, aber
gleichsam leblos und nicht als einheitliche Charaktere (sondern nur
einzelne Züge von ihnen). Zu ihrer dramatischen Belebung aber ver-
wendet der Dichter in diesem Falle z. B. seine verschiedenen Gefühle
als Sohn dem Vater gegenüber und infolgedessen erhalten die Cha-
raktere erst ihre dramatisch geforderte Einheitlichkeit, damit aber
auch eine gewisse Einseitigkeit, die der jeweiligen psychischen Ein-
stellung und ihrer Gegenregung voll entspricht.
Wir haben hier, wie auch schon gelegentlich bei Schiller,^)
einzelne unscheinbare Details, Redewendungen und Gleichnisse an-
Komplexe zum Ausdruck brachten.) Daß es besonders das Sohnesverhä'tnis des Brutus
zu Cäsar war, was Schiller ans persönlichen Gründen am meisten fesselte, wird
sich im zweiten Teil unserer Untersuchung bei Besprechung der „Räuber" zeigen
(Kap. XX).
^) Vgl. das Beispiel aus dem „Wallenstein", wo sich der Konflikt zwischen
Vater und Sohn nur in vereinzelten Gleichnissen äußert. AnJere Beispiele aus dem
Wallenstein sind: im „Lager" der Bericht des Kürassiers, der des Feldherrn Rück-
Rank, Diis Inzestmotiv. |4
210 VI. Shakespeares Vaterkomplex.
seheinend weit über Gebühr als psycholofi^isch bedeutsam o^owUrdigt
und wullen, bevur wir einige weitere auf das feindselige \\^rhältnis
von Vater und Soiin bezügliche Details aus den Werken Shake-
speares im Smne unserer Beweisführung zu verwerten suchen, auf
eine Berechtigung dieser Auffassung hinweisen. Dürfen wir wirklich
mit der Parallelisieruug von Traum und Drama ernst machen, dann
ist die erste Bedingung, nicht nur alle, selbst die unscheinbarsten De-
tails zunächst als psychisch gleichwertig zu betrachten, sondern wir müssen
nach unseren Traumstudien darauf vorbereitet sein, daß bei ent-
sprechender Verdrängung oft gerade das psychisch Bcdeulsaraste des
ganzen Traumes in einem der Beachtung leicht entgehenden und jeden-
falls nicht aufdringlichen P21ement Ausdruck findet, worauf ja zum Teil
auch die ästhetische Lustwirkung beruht, zu deren Auslösung in der
,. Fassade" das Harmlose und nicht Anstößige dargeboten werden muß.
So werden in einem der frühesten, scheinbar rein historischem Interesse
entsprungenen Drama des jungen Shakespeare, in „König Hein-
rich dem Sechsten" (8. Teil, II, 5) die Greuel des Bürgerkrieges
geschildert, der auch Familienbande nicht achtet. Dort heißt es: „Es
kommt ein Sohn, der seinen Vater umgebracht hat, und
schleppt die Leiche herbei." Der Sohn, der erst jetzt in dem Er-
schlagenen seineu Vater erkennt, sagt:
Verzeih mir Gott, nicht wüßt' ich, was ich tat!
Verzeih auch, Vater, denn nicht kannf ich dich!
Diese Form der Abwehr ist uns schon aus dem d i p u s bekannt. Aber
auch die Strafe für diese verbotene Wunscherfüllung des Sohnes folgt der
Tat auf dem Fuße. Gleich darauf ,.kommt ein Vater, der seinen
Sohn umgebracht hat, m.it der Leiche in den Armen".*) Ahnlich tötet
schon in Shakespeares erstem Drama: Titus Andronikus,
das er im Alter von 20 Jahren geschrieben haben dürfte, Titus
seinen Sohn Mutius im Zorn, muß sich aber dann, gleichsam
zur Strafe dafür (Selbstbestrafungstendenz), die Hand abhauen. Diese
jähe Ermordung des sich widersetzenden Sohnes ist, wie Brandes
erwähnt, von Shakespeare frei erfunden. Charakteristisch für den
Wunsch- und Abwehrausdruck der Vaterhaßgefühle ist auch die Art,
wie in dem oben erwähnten Drama (3. Teil) die beiden Söhne des
Herzogs York auf die Botschaft von der Ermordung ihres Vaters
reagieren :
sichtalosigkeit rühmt und behauptet, daß dieser anch über den Leib der Brüder oder
Sühne hinweggehen würde. Dann Butlers Versicherun;; Reiner Treue gegen Picco-
lomini, durch die Bekräftigung, er würde sogar dem eigenen Sohn das Schwert in
die Eingeweide stoßen, wenn es des Kaisers Dienst verlangte.
') Ähnlich heißt e.s in dem .Jugenddrama: König Richard IH. (Schlußrede)
bei der Schilderung des Bürgerkrieges und seiner Greuel:
„Der Bruder blind, vergoß des Bruders Blut;
Der Vater würgte rasch den eignen Sohn ;
Der Sohn gedrungen ward des Vaters Schlächter,"
Die Geistererscheinung im „Macbeth". 211
Eduard: O sprich nicht mehr ! Ich hörte schon zuvieL
Eichard: »Sag', wie er starb, denn ich will alles hören.
Auch im „König Lear'' enthält die neben der Haupthandlung
parallel laufende Kebenhandlung das Vaterhaßmotiv mit seinen ty-
pischen Figuren: dem liebenden Sohn Edgar und dem hassenden Sohn
Edmund, eine Emplindungsspaltuug, die dann in S c h i 1 1 e r s Käubern und
im Don Carlos wiederkehrt. Wie Edmund verleumdet auch Franz Moor
seinen unschuldigen und treuen Bruder durch einen gefälschten Brief
beim Vater und wie in den Räubern, ja wie überhau] »t regelmäßig, ist
auch hier wieder der Vater gleich geneigt, an die Auflehnung des Sohnes
zu glauben. Durch die Schuld seines bösen Sohnes verliert der Vater,
Gloster, seine beiden Augen (vgl. Melchthalj^) und zu spät erkennt er
seinen schweren Irrtum in der Beurteilung seiner Söhne. Auch hier
sind natürlich wieder in den beiden Söhnen die infolge der infantilen
Einstellung widerstreitenden Gefühle des Dichters gegen seinen Vater
personifiziert.
Neben diesen ziemlich unverhüllten Darstellungen des zwiespäl-
tigen und vorwiegend feindlichen Verhältnisses zwischen Vater und
Sohn ist uns in der Geisterszene im „Hamlet" und im „Julius
Cäsar" der neurotische Charakter dieses Verhältnisses in aller Schärfe
entgegengetreten und wir erkannten in der Geistererscheinung gleichsam
die Marke der verdrängten Vaterhaßgefühle. Ahnliche Geisterszenen
finden sich aber auch noch in anderen, aus verschiedeneu Zeitperioden
stammenden Dichtungen Shakespeares und wir dürfen auf Grund
unserer Erörterungen auch hinter diesen in das gleiche typische Bild
gekleideten Episoden den unbewußten Vaterhaß als treibendes Motiv
vermuten. Drei Jahre nach Julius Cäsar und Hamlet entstand der
„Macbeth", der ebenfalls die typische Geisterszene enthält. Macbeth
ermordet, von dem Motiv des Ehrgeizes getrieben, den alten ehrwür-
digen König Duncan, weil ihm verheißen worden war, er werde
selbst König werden (der Sohn will sich an die Stelle des Vaters
setzen). Aber er läßt auch seinen Freund Banquo ermorden, auf den
er wegen seines Kindersegens eifersüchtig ist (Banquos Söhne sollen
nach derselben Weissagung Könige werden, also die Nachfolger Mac-
beths). Hier taucht also das Motiv der Vergeltungsfurcht auf, die den
aufrührerischen Sohn vor seinen Nachkommen befällt, wenn er selbst
Vater geworden ist. Die gleichzeitige Tötung verknüpft hier Duncan
und Banquo eigentlich zu einer Person,^) so daß dann die Geister-
*) Hiezu ist aach die Blendung des Ödipus zu vergleichen, der sich nach
einer dem Homer (II. XXIII, 679) vermutlich bekannten Version ganz wie der ge-
blendete Gloster von einem Felsen herabstürzt, als er seine Schuld erfährt.
^) Dafür spricht psychologisch der Umstand, daß in Shakespeares ge-
schichtlicher Quelle, der Chronik Holinsheds, Banquo in den Anschlag gegen Duncan
eingeweiht ist und so mitschuldig an seinem Morde wird, während er bei Shake-
speare unschuldig ist und mit Duncan das gleiche Los teilt (vgl. Shakespeare-
Jahrb. XXXII: Macbeth von Trau mann), was einer psychologischen Identifizierung
14*
212 ^'f. Shakespeares Vaterkomplex.
erscheinunfi: Banquos aucli für den ermordeten Könige racheheischend
auftritt. Haiiquos Geist erscheint beim Gastmahl und setzt sich an
Macbeths Platz (der Xater verdränp^t den Öuhn wieder von der an-
o-emaüten Stelle). Die ersten Worte, die Macbeth zum Geist spricht,
sind ein Ausdruck der Abwehr seiner Schuldgefühle: „Du kannst
nicht sagen, ich tats." Diese zweimalige Erscheinung von Banquos
Geist ist Shakespeares freie Erfindung (vgl. auch Brandes) und
der Vatercharakter derselben sowie des ganzen Mordes offenbart sich
wieder außer in den charakteristischen Geistererscheiuungen noch in
einigen unscheinbaren Details. Wie Hamlet ist auch ]\Iacbeth keines-
wegs zu einer entschlossenen Tat unfähig, sondern nur zu dieser einen
ganz besonderen Tat des Königsmordes^j; und es ist ein tiefer Zug
des Dichters, daß das erste, was wir von Macbeth überhaupt erfahren,
der Bericht eines Soldaten von der heldenhaften Kühnheit und Ent-
schlossenheit des Feldherrn ist (I, 2). Auch schlägt Macbeth un-
bedenklich die beiden Kämmerlinge nieder (II, 3), die den König be-
wachten und seine Schuld offenbaren köunten. Aber vor dieser einen
Tat, der Ermordung des Königs, zaudert und zweifelt er wie Brutus,
wie Hamlet, wie Teil. Von seinem Weib erst wird er zum entschei-
denden Schritt getrieben; sie ist gleichsam die Verkörperung seiner
ehrgeizigen Wünsche. In diesem Sinne wird es erklärlich, daß nicht
Macbeth, sondern seine Gattin, den Vatercharakter Duncans offenbart;
sie sagt mit Bezug auf Duncan und den geplanten Mord :
Hätt er gegliclien meinem Vater nicht,
Als er so schlief, ich hätt's getan.
Dem Vaterkomplex entspricht es dann vollkommen, daß sowohl der
Verdacht von Duncans, als auch von Banquos Ermordung auf deren
Söhne gelenkt wird :
Malcolm und Donalbain, die beiden Söhne,
Sind heimlich fortgefloh'n; das wirft auf sie
Verdacht der Tat (II, 4).
nicht gestehen sie
Den Vatermord (III, 1).
entspricht. — „Shakespeare läßt den Geist des gemordeten Banquo bei dem
Gastoiahl erscheinen, zu dem Macbeth den lebenden geladen hatte. Die Sage von
Macbeth weiß hievon nichts, denn nach Holinshed erfolgt der Mord erst nach dem
Gastmahl "^(Simrock: Die Quellen des Shakespeare iu Novellen, Märchen und
Sagen. Mit sagengescliichtüchen Nachweisungen. 2. Aufl., Konn 1870). — Vgl. auch den
39. Band der Sammlung Paläslra: „Die Sage von Macbeth bis zu Shakespeare."
*) Macbeth (III, 4) zu Banquos Geist:
„Was einer wagt, wag ich.
Komm du heran als zottiger rassischer Bär,
Ein wüst Rhinoceros, ein hyrcan'scher Tiger,
Komm wie du willst, nur so nicht: und nicht zittern
SoH'n meine festen Nerven
Richards Geistertraiim. 213
Ebenso fällt der Verdacht, Banqiio ermordet zu haben, auf dessen Sohn
Fleance (IV, 6), der dem Anschlag durch rasche Flucht entkam. Eine
Hindeutung auf dieses Sohnesverhältnis Macbeths zu Duncan ist vielleicht
auch darin zu erblicken, daß Shakespeare die beiden zu Vettern
macht (vgl. mein Vetter Hamlet und mein Sohn; Hamlet I, 2), ein Zug,
den seine Quelle nicht aufweist. Auch die Verbindung mit Cäsars Mord
stellt ein unscheinbares Detail her; Cäsar fällt von 23 Dolchstichen
durchbohrt. Nach der Erscheinung des gemordeten Banquo sagt Macbeth :
Doch jetzt erstehn sie wieder
Mit zwanzig tödlichen Morden an den Häuptern,
Und treiben uns von nnsern Stühlen.
Im Hinblick auf eine ähnliche Geistervision in einem der frühe-
sten Werke Shakespeares, in „König Richard dem Dritten",
gilt wohl, was Lady Macbeth der Tafelrunde zur Aufklärung des
Benehmens ihres Gemahls sagt, in vollem Umfang für den Dichter
selbst :
— - — — — — Oft ist so mein Gemahl,
War so von Jugend auf — bleibt sitzen doch !
Der Anfall geht vorüber : Ein Gedanke,
So ist er wieder wohl.
Wie dem Brutus so erscheinen auch Richard in der Nacht vor
der entscheidenden Schlacht die abgeschiedenen Geister aller von ihm
gemordeten Verwandten, durch deren Beseitigung er auf den Thron
kam. Auch Richard fällt, wie die römischen Empörer, nicht durch
die Übermacht der Feinde, sondern innerlich gelähmt durch die Reue,
welche die Geistererscheinungen in ihm geweckt haben :
Richard: Bei dem Apostel Paul ! es werfen Scliatten
Zu Nacht mehr Schrecken in die Seele Richards,
Als wesentlich zehntausend Krieger könnten,
In Stahl, und angeführt vom flachen Richmond.
Durch die Vervielfiiltigung der Geistererscheinung ^) und die Kompli-
kation der Verwandtenmorde ist der Ursprung auch dieser Szene aus
dem Vaterkomplex verwischt. Aber ihr dramatischer Bau ist dem der
Vater-Erscheinungs-Szenen so gleich, daß man auf die gleichen Trieb-
kräfte auch für Richards Traum schließen muß. Wie Macbeth, um
den Eindruck von Banquos Erscheinung zu tibertäuben, nach Wein
verlangt („Gebt mir Wein! Schenk voll! III, 4), so verlangt auch
Brutus vor der Erscheinung des Geistes zweimal nach Wein („Gebt
*) Im „Macbeth" (IV, 1) ist der Schlüssel zur Lösung' dieser vervielfachten
Geistererscheinung gegeben. Es erscheinen dem nach seinem Thronfolger fragenden
Macbeth acht Könige, die alle Banquos Geist gleichen, der auf sie weist,
wie auf die Seinigen, Es sind also nur vervielfältigte Vatervisionen, die hier gehäuft
auftreten, wie sie ja das Leben des Dichters offenbar kontinuierlich beherrschten.
214 VI. Shakespeares Vaterkomplex.
eine ^Schale Weins!'' IV, 3) ; und ebenso forciert auch Kichard in
seinem Zelt vor der Geistererscheinunof zweimal Wein („Füllt einen
Becher Weins". — „Gebt mir einen Becher Weins". V, 3). Neben
der inneren Wahrscheinlichkeit und den äußerlichen Ähnlichkeiten
offenbaren noch einige charakteristische Züge den Inzestkom])lex, der
auch an der Sehöpiung Richards III. einen wesentlichen Anteil hat.
Es ist nur eine Abschwächung der Mutterheirat/) wenn Richard die
Witwe des von ihm erschlagenen Eduard an der Bahre ihres
Gatten-) freit:
K i c h a r d : Ermordet ich schon ihren Mann und \'ater,
Der schnellste Weg, der Dirne gnug zu tun,
Ist, daß ich selber werd' ihr Mann und Vater.
Und aus ihrer Ehe mit Richard erzählt sie :
Denn niemals eine Stund in seinem Bett
Genoß ich noch den goldnen Tau des Schlafs,
Daß seine bangen Träume mich nicht schreckten.
Nachdem er auch ihrer ledig geworden ist, beschließt er seine
leibliche Nichte, die Tochter der verwitweten Königin Elisabeth,
zu heiraten, nachdem er ihre Brüder ermordet hatte :
Elisabeth: Wie soll ich sagen ? Ihres Vaters Bruder
Will ihr Gemahl sein? Oder sag ich, Oheim?
Oder, der Oheim ihr erschlug und Bruder?
Auf welchen Namen würb ich wohl für dich ?
Wie die sühneheischende Geistererscheinung des Dahingeschie-
denen, die in einer Reihe von Dichtungen in typischer Gestaltung
wiederkehrt,^) im Hamlet sich unzweideutig als Vater offenbart, so
bezeichnet diese Tragödie überhaupt den Wendepunkt in Shake-
speares Innenleben in bezug auf diese Gefühle. In den Werken vor
Hamlet sehen wir im allgemeinen den Vaterkomplex nur berührt in
leichtem Konflikt sich äußern ; mit Hamlet und dem darauf folgenden
Cäsar und Macbeth verschärft sich der Konflikt in neurotischer Weise.
Dieser Umstand wird begreiflich, wenn man die von Freud bereits
herangezogene Tatsache in Betracht zieht, daß „Hamlet" unmittel-
bar nach dem Tod von Shakespeares Vater, unter dem frischen
Eindruck dieses „bedeutsamsten Ereignisses im Leben eines Mannes",
') Charakteristisch für den Mutterkomplex ist auch seine Phantasie von der
Untreue seiner eigenen Mutter (III 5).
^) Vgl. im Hamlet die unmittelbar auf die Ermordung des Königs folgende
Wiedervermählung seiner Witwe mit dem Mörder ihres Gatten. Wie Hamlet unfähig
ist, die Rache an dem Mörder zu vollziehen, so vermag auch Anna nicht, das ihr
dargebotene Schwert dem Mörder in die Brust zu stoßen (I, 2), weil sie ihn eigent-
lich liebt.
^) ^S^- 'Tuch Ankenbrand : Die Figur des Geistes im Drama dir englischen
Kenaissance. Leipzig 1904.
Die Visionen des toten Vaters. 215
„in der Wiederbelebung' der auf den Vater bezüglichen Kindheits-
empiindungen gedichtet worden ist" (Traumdtg. 1. c.)- Es ist sehr
wahrscheinlich, daß Shakespeare nach dem Tode des Vaters,
wie alle Menschen, bei denen dieser Komplex infantil bedeutsam war,
sich Vorwürfe (die auch unbewußt gewesen sein können) darüber
machte, daß er gegen den Vater nicht liebevoll genug, ja viel-
leicht sogar hart und schroff gCAvesen sei, daß er ihm wenigstens
innerlich Unrecht getan habe, daß der Vater diesen Haß nicht ver-
dient habe, und daß die Kränkung über die Abneigung des Sohnes
den Tod des Vaters verschuldet oder wenigstens beschleunigt hätte.
Diese Zweifel an der Berechtigung des früheren Hasses sind natürlich
wohl begründet, denn die eigentliche Wurzel dieses Hasses, die ihn
— seiner Intensität nach — begreiflich und gerechtfertigt erscheinen
ließe, nämlich die erotische Neigung zur Mutter, war und ist ja unbe-
wußt und das Bewußtsein hatte zur Rechtfertigung des Hasses kon-
ventionelle Motive (etwa die Strenge des Vaters) vorgeschoben, die
dem gereiften Mann, unter dem Todeseindruck des gefürchteten Riva-
len, natürlich unzureichend erscheinen müssen. Kurz die Gedanken
an den verstorbenen Vater, die mit Selbstvorwürfen einhergingen,
ließen ihn nicht ruhen, ^) der .,Geist" des Verstorbenen plagte ihn
immer, gleichsam Rache fordernd, und der Versuch, die Erinnerung
an ihn zu verscheuchen, zu verdrängen, führte zu verschiedenen, den
Traum- und Neurosenbildungen überraschend ähnlichen, künstlerischen
Äußerungen dieses Komplexes, unter anderem auch, in Anlehnung an
einen älteren Stoff, zur Konzeption des „Hamlet"'. In diesem Sinne
ist für unsere Auffassung bezeichnend, was Brandes (S. 401) über die
erste Hamlet-Fassung sagt: „Das Hauptinteresse bei diesem älteren
Stücke scheint sich um eine hinzugedichtete Gestalt gesammelt
zu haben, um den Geist des Ermordeten und seinen Ausruf:
Hamlet, Rache!" In dieser ersten, uns nicht erhaltenen Hamlet-Aus-
gabe, soll auch — was für unsere Auffassung von der allmählichen
Verdrängung spräche — die Mutter Hamlets (so wie auch er selbst) viel
jünger gedacht gewesen sein; jedenfalls noch jung genug, um eine
solche Leidenschaft bei Claudius (und in letzter Linie auch beim Sohn)
hervorrufen zu können, da die entsprechenden, auf ihr Alter anspie-
lenden Schmähungen der endgültigen Fassung noch fehlten ; diese
Verjüngung der Mütter kennen Avir bereits aus den verschiedenen
Gestaltungen des Stiefmutter-Themas. Für die innige Identifizierung
Shakespeares mit seinem Helden spricht die auffällige Überein-
^) Hamlet (I, 4) zum Geist: „ . . . . sag: Warum dein fromm Gebein, ver-
wahrt im Tode, die Leinen hat gesprengt ? warum die Gruft, darin wir ruhig ein-
geurnt dich sahen, geöffnet ihre schweren Marmorkiefern, dich wieder auszuwerfen?"
Dazu vgl. man den Ausruf in Schillers Räubern (V, 5): „Geist des alten Moors!
Was hat dich beunruhigt in deinem Grabe V"
Eine ähnliche unbewußte Schuld gegen ihre Toten dürften wohl die meisten
Menschen fühlen, wie nicht nur die Totenkulte der ältesten und primitivsten Zeiten,
sondern auch gewisse unserer heutigen Bräuche noch aufs deutlichste lehren.
216 VI. Shakespeares Vaterkomplex.
stimmunfi^, daU in dem Trauerspiel der Vater des Dilneiiprinzen, ganz wie
der des Dichters, erst kurze Zeit tot ist und darum die Vorwürfe, Hem-
mung^en und Gewisseuskämpfe noch so lebendi«^ sind. Denn mit der nach-
träglichen Realisierung der längst verdrängten infantilen Todeswtinsche
gegen den Vater, die aus der eifersüchtigen Verliebtheit in die Mutter
entspringen, tritt auf Grund des Schuldgefühls und mächtiger Selbst-
vorwürfe, die dem 8ohn schuld am Tode des Vaters geben, eine —
allerdings frühinfantil vorgebildete — Umwertung des ursprünglichen
Ödipus-Komplexes ein. Der Vater wird nunmehr auf dem Wege der
psychischen Keaktionsbildung in die ursprüngliche, allererste infantile
Stellung des verehrten, geliebten, geschätzten, edlen und mächtigen
Schützers gebracht, während der Mutter die frühinfantile Liebe und
Verehrung entzogen und sie in die geschmähte und verachtete Rolle
der späteren Pubertätsphantasien eintritt, die ihr jetzt sogar Schuld
am Tode des Vaters geben.') So erweist sich also die reaktiv übertriebene
Liebes- und Sühneeinstellung Hamlets gegen seinen Vater als die
dichterische Darstellung der gleichen, in der Seele des Dichters selbst
vorgegangenen Umwandlung, und darum mußte nun der in der Ham-
let-Sage überlieferte Stoff von der Rache für den getöteten Vater, den der
Dichter zweifelsohne auch schon früher aus anderen Bearbeitungen
gekannt hatte, gerade jetzt für ihn diese psychische Bedeutung gewin-
nen. Wie aber zur reaktiven Liebeseinstellung gegen den Vater eine
ursprünglich vorhandene und im Unbewußten niemals aufgegebene
zärtliche Strömung, also eine latente homosexuelle Komponente, not-
wendig ist, so ist die Bedingung für die spätere Auffrischung der
puerilen Auffassung der Mutter als Dirne eine frühere, schwer emp-
fundene an der Mutter erlebte Enttäuschung, die meist in der Ent-
deckung ihres Geschlechtsverkehrs mit dem Vater — event. später
in der Phantasie oder Wirklichkeit mit anderen Männern — besteht,
den ja Hamlet seiner jMutter oft und heftig genug als verwerflich
— und im Sinne seiner Phantasien als blutschänderisch — darstellt.
Auch diese Enttäuschung an der Mutter, deren Konsequenzen wir in
der unglücklichen Ehe (vgl. Byron) des 18jährigen Dichters mit der
um 8 Jahre älteren Frau wieder erkennen, führt, wie uns psycho-
analytische Untersuchungen gezeigt haben, nicht selten über Weiber-
haß und Weiberverachtung hinaus zu einer völligen Abkehr vom
Weibe und gleichzeitiger Hinwendung der Libido zum eigenen Ge-
schlecht auf der Basis des ursprünglich zärtlichen Vaterkomplexes.
Hier ist eine Wurzel für des Dichters homosexuelle Neigungen zu
finden, die in den um diese Zeit entstandenen Sonetten ihren ergrei-
fendsten Ausdruck gefunden haben, aber auch sonst an seinem dra-
matischen Schäften bedeutsamen Anteil haben. 2)
*) Genau den gleichen Ödipus-Komplex mit all seinen Bedingungen und Kon-
sequenzen fPesaimifimus, Weiberverachtung u. b. w.) zeigt Schopenhauer.
'^) Die innige Beziehung zwischen inzestuösen und homosexuellen Regungen,
die uns insbesondere noch beim Üdipus-Mythus auffallen wird, kann hier nicht näher
erörtert and in ihrem Einfluß auf das künstlerische Schauen verfok^t werden.
Der Mutterkomplex in „Coriolan". 217
Daß es tatsächlich der Tod eines Eltemteils Avar, der eine so ent-
scheidende Umwandlung im Seelenleben des Dichters bewirkte, das
zeigt sich auch darin, daß das einzige Drama außer Hamlet, dem das
Verhältnis zur Mutter zu Grunde liegt, nämlich „Coriolanus", unmittel-
bar nach dem Tode von Shakespeares Mutter (im Jahre 1608)
entstanden ist, wie der Hamlet als Reaktion auf den Tod des Vaters.
Wie der drei Jahre früher entstandene Macbeth, so steht auch
Coriolan ganz unter dem Einfluß eines Weibes; und wie Macbeths
Ehrgeiz gleichsam in seiner Gattin verkörpert ist, so hat der Ehr-
geiz Coriolans in seiner Mutter Volumnia Ausdruck gefunden. Alles,
was er Rühmliches getan hat, „tat er doch nur, seiner Mutter Freude
zu machen" (I, 1). Es findet sich auch hier wieder hinter einer schein-
bar harmlosen Redewendung versteckt die Hindeutung auf den
Mutterinzest. Volumnia sagt zu ihrer Schwiegertochter, der Gat-
tin Coriolans (I, 3): „Wenn mein Sohn mein Gemahl wäre^),
ich würde mich lieber seiner Abwesenheit erfreuen, durch die er
Ehre erwirbt, als der Umarmungen seines Bettes, in denen ich seine
Liebe erkennte." Auch die für den Inzestkomplex typische Phantasie
findet sich hier, nicht der Sohn seiner Mutter zu sein. Als sich Co-
riolan durch kein Mittel, auch nicht durch die Bitten seiner Mutter,
zur Versöhnung und Begnadigung seiner Vaterstadt herbeilassen will,
sagt die Mutter schließlich :
„ — — — — kommt, laßt uns gehn :
Der Mensch hat eine Volskerin zur Mutter,
Sein Weib ist in Corioli, dies Kind
Gleicht ihm durch Zufall.
Diese Worte erweichen Coriolan. Auf das psychologisch merk-
würdige Verhältnis Coriolans zum gegnerischen Feldherrn Tullus Au-
fidius, das in einem Atem glühendsten Haß und direkt erotische Zärt-
lichkeit offenbart, sei als charakteristische Äußerung der infantilen
Einstellung zum Vater durch Anführung einzelner Stellen hinge-
wiesen.
Marcius Coriolanus: Mit dir nur will ich kämpfen ! denn dich haß ich
Mehr als den Meineid.
Aufidius: Ja, so haß ich dich (I, 8).
Und trotzdem begibt sich Marcius (IV/2) unbedenklich in das
feindHche Lager und liefert sich Aufidius aus:
Coriolanus: Welt! du rollend Rad! Geschworne Freunde,
Die in zwei Busen nur ein Herz getragen.
Die Haus und Bett und Mahl und Arbeit teilten.
*) Vgl. den ähnlichen Aassprach der Gräfin Roussillon in „Ende gut, alles
gut" (die ersten Worte des Stückes) : „Indem ich meinen Sohn in die Welt schicke,
begrabe ich einen zweiten Gemahl."
218 VI. Shakespeares N'atcrkdinplex.
Vereinigt stets als wie ein Zwillingspaar,
In ungetrennter Liebe, brechen aus
Urplötzlich durch den Hader um ein Nichts
In bittern Haß. — iSo auch erboste Feinde,
Die Haß und Griram nicht schlafen ließ vor Plänen
Püinauder zu vertilgen, durch uen Zufall,
Ein Ding, kein Ei wert, werden Herzeusfreunde,
Und Doppelgatten ihrer Kinder. So aucli ich.
Ich haße den Geburtsort, liebe hier
Die Foindesstadt. — Hinein ! erschlägt er mich,
So übt er gutes Recht, nimmt er mich auf,
So dien' ich seinem Land.
Und der Todfeind Aufidius nimmt ihn mit einer zärtlichen Liebe
auf, die man im Hinblick auf die Abwendung Coriolans von seiner
Mutter nur als ein Aufleben exquisit homosexueller Kegungen im
Sinne unserer Erörterung auffassen kann:
Aufidius: Du edler ^larcius ! 0, laß mich umwinden
Den Leib mit meinen Armen, gegen den
Mein fester Speer wohl hundertmal zerbrach.
Und schlug den Mond mit Splittern. Hier umfang ich
Den Amboß meines Schwerts, und ringe nun
So edel und so heiß mit deiner Liebe,
Als je mein eifersücht'ger ]Mut gerungen
Mit deiner Tapferkeit, Laß mich bekennen :
Ich liebte meine Braut, nie seufzt' ein Mann
Mit treurer Seele; doch, dich hier zu sehen,
Du hoher Geist! dem springt mein Herz noch freud'ger,
Als da mein neuvermähltes Weib zuerst
Mein Haus betrat.') Du ]\[ars, ich sage dir.
Ganz fertig steht ein Kriegsheer, und ich wollte
Noch einmal dir den Schild vom Arme hauen.
Wo nicht den Arm verlieren. Zwölfmal hast du
Mich ausgeklopft, und jede Nacht seitdem
Träumt ich vom Balgen zwischen dir und mir.
Wir waren beid' in meinem Schlaf am Boden,
Die Helme reißend, bei der Kehl uns packend,
Halbtot vom Nichts erwacht ich — " (IV, H;.
Die Aufnahme des Coricjlan durch Aufidius schildert ähnlich der
3. Diener (IV, 3): „Unser Feldherr selbst tut, als wenn er seine Ge-
') Mar ei US (I. 6) zu Cominius; „O! laßt mich euch umschÜDgen
Mit kräfi'gen Armen, wie als Bräutigam
Mit freud'gem Herzen, wie am Hochzeitstag,
Als Kerzen mir zu Bett geleuchtet,"
Die ambivalente Einstellung gegen den Vater. 219
liebte wäre, segnet sich mit der Berührung seiner Hand und dreht
das Weiße in den Augen heraus, wenn er spricht."^)
Daneben finden sich, wieder zumeist in Eedewendungen und
Gleichnissen eingekleidet, indirekte Anspielungen auf das weibliche
Wesen des Coriolan. So sagt Cominius, allerdings mit Betonung sei-
ner Jugend, von ihm:
„An jenem Tag
Als er ein Weib könnt auf der Bühne spielen,
Zeigt er sich ganz als Mann im Kampf;" (II/2)
Und auf die Beschwörungen seiner Mutter antwortet er ironisch :
„Fort meine Sinnesart! Komm über mich,
Geist einer Metze. Meine Kehle, die
In meine Trommel kriegerischen Lauts
Einstimmte, sei verwandelt in ein Pfeifchen,
Dünn wie des Hämlings, wie des Mädchens Stimme,
Die Kinder einlullt " (111/2 j.
Daß dieses ganze zweispaltige, zwischen zärtlichster Neigung und
glühendem Haß schwankende Verhalten vollauf der infantilen Ein-
stellung zum Vater entspricht, wurde schon ausgeführt-), und daß die
Regression ins Frühinfantile neben dem Tode des Vaters der Abwen-
dung von der geliebten Mutter entspringt, offenbart sich in dem Drama
aufs deutlichste. Und so Avird denn Coriolanus aus einem Hasser seines
Vaters zum Hasser seiner Vaterstadt und aus Anhänghchkeit an den
ehemals geliebten Vater zum zärtHchsten Freunde seines erbitterten
Feindes, von dessen Hand er schließlich doch — allerdings auch nicht
ohne Reue des Mörders — stirbt (Aufidius : „Meine Wut ist hin, mein
Herz durchbohrt der Gram"). Der V^aterkomplex findet sich direkt
angedeutet im Verhältnis Coriolans zu seinem alten Freunde Menenius,
den er als Vater ehrt und bezeichnet.
Menenius: — — — — Ihr hört, was dem er sagte,
Der einst sein Feldherr war; der ihn geliebt
Aufs allerzärtlichste. Mich nannt' er Vater.
Und zu der Wache, die ihm den Zutritt zu Coriolan verwehren will,
sagt Menenius: ,Du sollst gewahr werden, daß solch ein Hans Schilderhaus
^) Als ein dem homosexuellen Komplex entstammendes Gleichnis darf man
vielleicht auch das Bekenntnis des Menenius ansehen (II, 1); „Man sagt, ich sei
— einer, der mit dem Hinterteil der Nacht mehr Verkehr hat, als mit der
Stirn des Morgens."
^) Vgl. I, 9 Cominius: ,Wär' er der Schlächter meines Sohns, er sollte frei
sein, so wie der Wind."
Und in der letzten Szene als Ausläufer dieses Komplexes :
„Die Bürger (durcheinander). Reißt ihn in Stücke, tut es gleich. — Er tö-
tete meinen Sohn — meine Tochter. — Er tötete meinen Vetter Marcus ! —
Er t ö t e t e m e in e n Vater!"
220 VI. Shakespeares Vaterkomplex.
mich nicht von meinem Sohn Coriolan wegtroihen kann". — Und zu ihm
selbst: „Die filorreichen Götter mögen stündliche Ratsversammlung halten,
wegen deiner besonderen Glückseligkeit und dich nicht weniger lieben, als
dein alter Vater Menenius. mein Sohn, mein Sohn ! du bereitest uns Feuer. — " .
Nachdem er den Flehenden ebenso wie seine Mutter hart und unerbitt-
lich zurückgewiesen hatte, sagt Coriolanus selbst:
„Der alt(5 Mann,
Den ich nach Rom gebroclmen Herzens sende,
Kr liebte mehr mich als mit Vaterliebe,
Ja, machte mich zum Gott. ■ — "
In diesem künstlich geschaffenen Vaterverhältnis finden wir ein
auffälliges Gegenstück zu der bereits besprochenen Auslassung des
überlieferten Vaterverhältnisses im „Julius Cäsar". Man erhält hier
einen teilweisen Einblick in die dem Traumleben analoge Affektver-
schiebung, welche bei der psychischen Aneignung eines überlieferten
Stoffes vor sich gehen muß, um die hemmungslose Abfuhr der ver-
drängten Affekte auf dem Wege der künstlerischen Fhantasiebildung
zu ermöglichen. Es zeigt sich hier abi'r auch ein weiterer Ausblick
aus dem Problem der Stoffwahl. Wir können es hier weder als Ein-
wand gelten lassen, daß wir willkürlich vom Stoff auf die im Seelen-
leben des Dichters vorherrschenden Komplexe schließen, noch auch
als Vorwurf, daß wir diese Komplexe unberechtigterweise in das Werk
des Dichters hineintragen. Es erweist sich hier vielmehr, daß der
vom Dichter gewählte überlieferte Stoff, den er nur mit seinen
Affekten zu beleben hat, wie schon Lessing sagte, von ihm gar
nicht besser hätte erfunden werden können. Es ahnt uns aber hier
bereits der auf die Mythenbildung hinweisende Grund dieser merk-
würdigen Übereinstimmung, der eben darin gelegen ist, daß die
►Schöpfer des mythisch oder dichterisch überlieferten Stoffes ihn eben
aus den gleichen unsterblichen Menschheitskomplexen heraus geschaffen
haben, die in jedem schöpferischen Menschen immer wieder über-
mächtig und Befriedigung heischend hervortreten: im Dichter ebenso
wie im Religionsstifter und in dem historisch Bedeutsames wirkenden
Helden, mit dem sich der Dichter auch ohne Vermittlung einer halb
sagenhaften, d. h. bereits komplexmäßig bearbeiteten Überlieferung
ebensowohl wie mit dem mythischen Helden zu identifizieren vermag,
weil ja auch der Reales wirkende Held (also etwa der echte
Coriolanus) ebenfalls nur unter dem Einfluß desselben Komplexes zu
80 außergewöhnlichen Taten getrieben werden konnte. Der Dichter
hat dann bei der in unserem Falle ziemlich weitgehenden unveränderten
Herübernahme des Stoffes aus seiner Quelle (Pinta rch) nur die
im Sinne seiner infantilen Einstellung und Verdrängung gebotenen
Modifikationen vorzunehmen, die im wesentlichen als Affektver-
schiebungen und hinausjtrojizierte Empfindungsspaltungen anzusehen
sind. Wie in des Dichters eigenem Innern die Empfindungen gegen
Schicksale und Außernngen des Vaterkomplexes. 221
den Vater mehrfach geteilte sind, so verkörpert er sie in Anlehnung
oder in entsprechender Modifikation gegebenen Materials auch in
mehrfachen Vaterabspaltungen und es ist für das jeweilige Verdrängungs-
stadium charakteristisch, welcher von diesen, demselben Grundkomplex
entstammenden Gestaltungen er die Marke des Vaterverhältnisses wieder
in rechtfertigender Anlehnung an die Überlieferung direkt anheftet.
Im Cäsar hat er sie völlig beseitigt, im Coriolan gilt sie dem ge-
achteten ehrwürdigen Greis, den der Sohn nur ungern kränkt, während
sie aus dem höchst zwiespältigen und vorwiegend feindseligen Ver-
hältnis zu Aufidius getilgt ist; im Hamlet endlich heftet er sie von
allen Vatergestaltungen dem nach Eache heischenden Geiste auf,
während das direkt feindselige Verhalten dem „Stiefvater" und die
Spottsucht dem alten Polonius gilt.
Was aber im Hamlet gerade den Geist zum Träger der Vater-
rolle und den Vater zum Träger der Geisterrolle macht, ist außer dem
auf den Tod von Shakespeares Vater erfolgten reaktiven Reue-
und Sühnebedtirfnis noch ein zweites wichtiges psychologisches Moment,
welches den „Hamlet", wie schon erwähnt, zum Wendepunkt in
Shakespeares Schaffen stempelt. Es ist das schon berührte Moment
der Umwandlung der Sohnesgefühle in die Vatergefühle, das angeregt
durch den Tod des Vaters und begleitet von der Vergeltungsfurcht
im Hamlet zum erstenmal in aller Deutlichkeit hervortritt ^), Dieses
Moment müssen wir in jedem Fall als ein rein psychologisches fassen,
als eine Reaktion auf den infantilen, jetzt unverstandenen Haß gegen
den Vater, eine Reaktion, welche mit dem realen Vaterwerden zu-
sammenfallen oder von ihm beeinflußt sein kann, die sich aber ganz
unabhängig davon einstellt^). Shakespeare war ja schon einige
Jahre Vater ehe sein dichteriscLes Schaffen überhaupt begann. Aber
von tieferer psychischer Wii'kung war diese Vaterschaft zunächst
nicht und konnte es infolge der langjährigen Trennung des Dichters
von den Seinen wahrscheinlich gar nicht werden. Auch der Tod
seines einzigen Sohnes Hamnet (im Jahre 1596) scheint auf den in einem
ganz anderen Lebenskreis wirkenden Dichter keinen nachhaltigen Ein-
druck geübt zu haben. Erst mit dem Tode seines Vaters erwachen seine
infantilen, auf das ehemalige Verhältnis zu den Eltern eingestellten Kom-
plexe und damit auch die Erinnerung an seine eigene Familie, an seinen
verstorbenen Sohn, dem gegenüber er sich wegen der Vernachlässigung
im Unbewußten gerade so schuldig fühlte, wie gegen seinen ver-
.storbenen Vater. Also erst mit dem Tod des Vaters tritt bei
Shakespeare, wie in der Regel überhaupt, jene elementare Um-
^) Die Darstellang dieser Wandlung mit besonderer Betonung' der eifersüchtigen
Abneigung gegen das gleichgeschlechtliche Kind beherrscht Gerhart Hauptmanns
Drama : G r i s e 1 d a.
^) Die infantile Vorstufe ist das Papa sein wollen des kleinen
Kindes; der große, nachhaltige Einfluß dieses Wunsches auf die ganze spätere
Lebensgestaltung des Normalen, auf die Produktionen der künstlerischen Phantasie and
auf die Wahnideen der Paranoiker ist im „Mythus von der Geburt des Helden" dargelegt.
222 VI. Shakespeares Vaterkuniplex.
wälzun«]: im Soelctilebeu des Mannes ein, die wir mit dem Gefühl des
Vaterseins bezeichnet haben. Diese psychische Umgestaltung, die aus
dem Solui einen Vater werden lilßt, ist von der allergrößten Bedeutung
fQr das Leben eines Älannes und läßt sich nur mit dem größten und
bedeutungsvollsten Ereignis im Leben des Weibes, mit dem ]\Iutter-
werden, vergleichen. Was das Gefühl des Vaterseins j)sychisch ist,
das ist die Mutterschaft organisch. Viele Lebensäußerungen und nicht
zum wenigsten auch manche Schöpfungen der Dichter sind nur aus
der Sohnespsycholügie verständlich, d. h. der Mensch ist nichts als
Sohn in seinen Gedanken, Gefühlen und Handlungen, er betrachtet
alles von diesem einseitigen St<andpunkt aus. Kommt dann die Vater-
psychologie hinzu, so wird alles das psychisch umgewertet. Deswegen
tritt nun im ,. Hamlet" der Haß gegen den Vater nur mehr so ver-
hüllt und durch das Gegenteil verdeckt auf und deswegen ist neben
der aufdringlichen Verurteilung des (Stief-) Vaters, auch der Wunsch,
ihn zu rechtfertigen, deutlich angeschlagen. Dieser Vaterstandpunkt
des Sohnes, der die Rechtfertigung des Vaters erfordert und er-
möglicht, ist aber nicht aus Motiven der besseren unbefangenen Ein-
sicht in die wirklichen Verhältnisse hervorgegangen, sondern weil der
Sohn sich jetzt selbst Vater fühlt und diese Rechtfertigung den eigenen
Kindern gegenüber in seinem Seelenleben zur Beschwichtigung der
Selbstvorwürfe braucht: es ist also hier wieder das Motiv der Ver-
geltung, der Furcht vor dem ähnlichen Verhalten des Sohnes gegen
den Vater, der selbst als Sohn sich wegen seines Verhaltens zum
Vater Vorwürfe zu machen hatte. Die Dichtung des „Hamlet" ist
nun als ein Versuch Shakespeares aufzufassen, den unbewußten
Zwiespalt in seinem Innern beizulegen : zwischen seinen infantilen im
Unbewußten immer noch wirksamen Gefühlen als Sohn (Haß
gegen den Vater und erotische Neigung zur Mutter), gegen die sich
nach dem Tod des Vaters die Abwehrregungen mächtig erhoben
hatten; und seinen jetzigen Gefühlen als Vater, der Liebe und
Gehorsam seines Sohnes wünscht und dessen Neigung zur Mutter nun
fürchtet. Diesem inneren Konflikt ist es zuzuschreiben, daß dem
Hamlet, dem Sohn, der die Rache an dem IMörder seines Vaters nicht
vollziehen kann, weil er in ihm die Verkörperung seiner eigenen
Wünsche sieht, in Laertes der Sohn gegenüber gestellt ist*), der mit
Einsetzung seiner ganzen Kräfte uud mit voller aufrichtiger Leiden-
schaft Rache für seinen ermordeten Vater Polonius fordert (IV, 5) :
Wie kam er um V Ich lasse mich niclit äffen.
Zur Hölle, Treu' ! Zum ärj^ston Teufel, Eide !
Gewissen, Frömmigkeit, zum tiefsten .Schlund !
') Vgl. V, 2 die diesbezügliche Bemerkung Hamlets:
„Doch ich bin sehr bekümmert, Freund Horatio,
Daß mit Laertes icli mich selbst vergaß:
Denn in dem Bilde seiner Sache seh ich
Der meinen Gegenstück . . ."
Die verschiedenen Einstellungen zum Vater. 223
Ich trotze der Verdammnis ; so weit kams :
Ich schlage beide Welten in die Schanze,
Mag kommen, was da kommt! Nur Eache will ich
Vollauf für meinen Vater.
Wcährend aber bewußterweise Laertes dem Hamlet das Bild
einer echten, nicht reaktiv übertriebenen und d^'rum ungehemmten
Vaterrache vorhalten soll, dient dieses Gegenspiel unbewußterweise
der Befreiung der im Dichter gehemmten Rache- und Sühnegefühle
für den Vater wenigstens in einer Abspaltung des Vater-Sohnes-Ver-
hältnisses^) (Laertes — Polonius). Wir sehen also hier wieder, wie be-
reits bei Schiller, daß der scheinbare Gegenspieler des Helden dem
Dichter gerade zur Befriedigung der Regungen dient, die er im Helden
selbst infolge zu starker innerer Hemmungen nicht befriedigen kann.
Wie im „Don Carlos" läßt sich daher auch hier eine Reduktion der
Personen auf eine Reihe von Vaterabspaltungen und der ihnen ent-
sprechenden Sohneseinstellung vornehmen. 2) Im alten gemordeten
Hamlet — die charakteristische Namensgleichheit stammt von
Shakespeare — ist der ehemals geliebte und verehrte, jetzt rache-
und sühneheischende Vater verkörpert ; in seinem Mörder Claudius
— neben der Wunscherfüllung des Sohnes (Hamlet z. T. = Claudius) —
der als Nebenbuhler bei der Mutter gehaßte Vater, gegen den sich
der als Vaterrache ins Edle gewendete Vaterhaß in voller nur zum
Teil noch gehemmter Weise entladen kann; in Polonius der miß-
achtete und bespöttelte greisenhafte Vater, der seine Tochter für sich
bewahren will, wie der Vater die Mutter.^) Und in jeder dieser ver-
schiedenen Einstellungsarten steht der Sohn (Hamlet, sowie dessen psy-
chologische Ergänzung: Laertes) dem Vater anders gegenüber. Daß
der Mord des hinter der Tapete lauschenden Polonius, den der Dichter
in der Überlieferung vorfand, von ihm psychisch im Sinne eines
Vatermordersatzes aufgefaßt wird, haben wir bereits auf Grund von
Hamlets Ausruf nach der Mordtat: „Ist das der König?" erschlossen,
und daß auch die schließliche Ermordung des Claudius ihrer eigentlichen
seelischen Bedeutung nach einen durch das Motiv der Vaterrache er-
^) „Das Verlialten der beiden Manner, deren Väter ermordet wurden, charak-
terisiert treffend das Bewußte und Unbewußte in der Psychologie des Revolutionärs,
des politischen Verbrechers" (Ötorfer: Vatermord S. 14, Anmkg'. 1).
^) Die mächtige Wirkung des Hamlet beruht nicht zum wenigsten darauf,
daß er den ganzen Inzestkomplex in seinem vollen Umfang in sich vereinigt; neben
dem Sohnesverhältnis zu Vater nnd Mutter, auch den Vater-Tochter-Komplex (Po-
lonius-Ophelia) und den Geschwisterkomplex (Laertes-Opbelia) mit dem der feind-
lichen Brüder (Hamlets Vater und Claudius). Diese weitreichenden Komplikationen
müssen hier unerörtert bleiben. Vgl. dazu die eingehende Untersuchung von Ernest
Jones: Das Problem des Hamlet und der Ödipus-Komplex (Schriften z. angew.
Seelenkunde, Heft 10, 1911).
^) Polonius (IH, 2) : „Ich stellte den Julius Cäsar vor : ich ward auf dem
Kapitol umgebracht ; Brutus brachte mich um." Bis in so unscheinbare Details er-
streckt sich die Indentifizierung mit dem Vater.
224 VI. Shakespeares Vaterkomplex.
möglichten I\Iurd des Mannes der Älutter darstellt, haben wir ja un-
serer g;anzen Auifassunf^ des Dramas zu Grunde gelegt. Aber dem
Dichter genügt nicht einmal, wie dem planvoll auf" sein Ziel losgehenden
Helden der Sage, das Motiv der Vaterrache, sondern er vermag den
König erst zu tüten, als dieser auch die im Innersten geliebte Mutter
durch das (lift getötet hat; erst dann vermag er den entscheidenden
Todesstreich, den er sich für des „Bettes blutschänderische Freuden "^
aufgespart hatte, zu führen, weil das Leben ohne die Mutter für ihn
keinen Wert hat und er — wie so viele andere Helden — wenigstens
im Tode mit ihr vereint sein will. Diese Absicht, den gehaßten Neben-
buhler beim Geschlechtsverkehr zu töten („in seines Bettes blutschän-
derischen Freuden"), wird uns als ein typisches Vater haß-Motiv^) be-
sonders im Mythus häufig begegnen, wo es uns in seiner tieferen Be-
deutung (als Kastrationswuusch bei Kronos) verständlich werden
wird. Es hat seinen Ursprung in der Belauschung des elterlichen
Geschlechtsaktes durch das Kind und seiner mehrdeutigen Reaktion auf
dieses eindrucksvolle Erlebnis, das im Sohne gewöhnlich eifersüchtige
Regungen gegen den Vater und sinnliche Begierden auf die Mutter
auslöst. Der Sohn sucht sich dabei mit dem Vater zu identifizieren
(Hamlet = Claudius, der dessen Inzestwünsche verkörpert) und so
betont auch Hamlet den Geschlechtsverkehr seiner Mutter wunschge-
mäß übermäßig als „blutschänderischen", gerade wie erst Schiller
den Don Carlos in die schwüle Atmosphäre der Blutschande
hüllte.-) Dieses Motiv der Belauschung findet sich nun in Anlehnung
an die Sagenüberlieferung vom Dichter dreimal verwertet, jedoch be-
zieht es sich auf Grund der Identifizierung des Sohnes mit dem Vater
(Hamlet) hier jedesmal auf den Sohn, der zweimal im Schlafgemach
seiner Mutter und einmal bei einer Zusammenkunft mit Ophelia be-
lauscht wird. Das einemal von dem diensteifrigen Polonius und dem
König, das zweitemal von Polonius allein, der dabei sein Leben ver-
liert, und das drittemal wieder im Schlafgemach der Mutter vom Geist
des ermordeten Vaters, der sich — ganz wie Philipp bei Schiller
— zwischeii Mutter und Sohn stellt. Weist schon dieser letzte Um-
stand, sowie das Schlafgemach der Mutter als Schauplatz, auf ein ur-
sprünglich eifersüchtiges Lauschen und Eindrängen des Sohnes zwischen
die Eltern (vgl. in Kap. IX, 1 die universell dargestellte Welteltern-Mythe),
der sich nunmehr in seiner Wunschphantasie an Stelle des beseitigten
(aber wieder auftauchenden) Vaters setzt, so zeigt ein vom Dichter
gekanntes aber beseitigtes Detail der Sagenüberlieferung, daß sich diese
Belauschung tatsächlich auf den Geschlechtsakt bezieht. Nach der
•) Karl Moor (zu Schweizer): „Zerr' ihn aus dem Bette, wenn er schläft
oder in den Armen der Wollust liegt."
-j Wir sehen hier, wie immer einzelne an ihren infantilen Komplexen ge-
scheiterte Individuen den Stoffen die ihnen für eine durchgreifende Wirksamkeit
erforderliche Färbung verleihen. Inwieweit dies auch für die Sagenbildung gilt,
habe ich in einer /Arbeit ilber den „Sinn der Griselda-Fabel" („Imago" Heft 1, März 1912)
augedeutet.
Das Motiv des Uriasbriefes. 225
Erzählung des Saxo^) beschließt der König', die Echtheit von Hamlets
Wahnsinn durch sinnlichen Genuß auf die Probe zu stellen. Er wird
im Wald wie zufällig mit einem Mädchen zusammengebracht und allein
gelassen, während die Späher sich im Gebüsch verborgen halten, um
sein Verhalten bei der Liebe und dem Geschlechtsakt zu beobachten.
Hamlet bringt jedoch das Mädchen an eine abgelegene Stelle, wo er
unbelauscht den Beischlaf mit ihr au&iibt und die ihm von Kindheit
an Bekannte zu strengem Stillschweigen verpflichtet. Man erkennt in
dieser Szene unschwer das Vorbild des belauschten Zusammentreffens
mit Ophelia und weiterhin auch mit deren psychischem Vorbild der
Mutter, merkt aber zugleich wieder die charakteristische Auslassung
der beim Dichter verdrängten und darum peinlich betonten Belauschung
des Geschlechtsaktes. Noch durch eine andere Auslassung aus der
Überlieferung verrät der Dichter seineu Widerstand, die seinen Ver-
drängungen widerstreitenden Motivgestaltungen der Sage zu übernehmen.
Bei Sa x o beschließt der König, den unbequemen Hamlet mit einem Brief
zum König von England zu schicken, in welchem diesem die sofortige
Tötung des Überbringers befohlen wird. Unterwegs öffnet Hamlet das
Schreiben, setzt an Stelle seines Namens die Namen seiner beiden Begleiter,
die dann tatsächlich an seiner Stelle hingerichtet werden. So weit
hat auch Shakespeare das Motiv übernommen. In der Sage aber
fügt Hamlet noch hinzu, daß der König ihm, dem Überbringer, seine
Tochter zur Frau geben möge, was denn gleichfalls geschieht. Diesen
Zug, auf Grund dessen wir das ganze Motiv als ein typisches Sagen-
gebilde (ü r i a s b r i e f) erkennen, hat nun der Dichter gleichfalls, als eine
positive Sexualäußerung, fallen gelassen. Es würde hier zu weit führen,
wollten wir dieses uralte und weitverbreitete, fälschlich als ^Uriasbrief"^)
^) Vgl. Simrock: Die Quellen des Shakespeare 1. c. — Zur Sagen-
grschichte: A. Zinzow: Die Hamlet-Sage an und mit verwandten Sagen erläu-
tert. Ein Beitrag zum "Verständnis nordisch-deutscher Sagendichtung. Halle 1877.
■'') In der Geschichte des Uria (2. Sam. 11) handelt es sich um die tatsächlich
erfolgende Beseitigung des Uria auf den brieflichen Befehl Davids, der dessen Weib
heiraten will, während es sich bereits in der homerischen Erzählung von Bellero-
phontes (II. VI, IGü ff.) um die glückliche Errettung des Helden — wenn auch noch
nicht mittels der märchenhaften Briefänderung oder Vertauschung — handelt. Bellero-
phontes wird von Anteia, der Gattin des Königs Proitos, unerlaubter Annäherung
beschuldigt (Phädra-Potiphar-Motiv) und Proitos schickt den unbequemen Gast, vor
dessen Mord er zurückschreckt, mit den in der Frage des Schriftgebrauches zur Zeit
Homers vielumstrittenen, auf ein gefaltetes Täfelchen geritzten, orjuaxa Äuypa zu
seinem Schwager. Als dieser jedoch den Helden aus allen übermenschlichen Auf-
gaben heil hervorheben sieht, glaubt er ihn unter göttlichem Schutz und ver-
mählt ihm seine Tochter. Wir finden dann das Motiv in der deutschen Sage
von Kaiser Heinrich III. wieder (Grimm, Deutsche Sagen). Dem König,
der auf der Jagd in eine Mühle des Schwarzwaldes kommt, wird prophezeit, das
eben dort zur Welt gekommene Kind, welches ein Sohn des hier flüchtig und
unerkannt lebenden Herzogs Lco])old ist, sei zu seinem Eidam bestimmt. Er
befiehlt daher das Kind zu töten, aber die Knechte setzen es auf einen Baum und
bringen dem König das Herz eines Hasen. Das Kind findet Herzog Heinrich von
Schwaben und gibt es als Sohn seiner unfruchtbaren Gemahlin atis. Es erhält
Rank, Das Iiizestmotiv. 15
220 VI. Shakespeares Vaterkomplex.
bezeichnete >[otiv, das in den wesentlichen Züo^en mit dem Aussetzungs-
mytlius identisch ist, wio diesen auf den Pjlteriiküm])lex reduzieren.
Es sei hier nur anoredeutet, daß die Erbschaftsansi)rüehe des vom Vater
gefiirehteten Solines in dieser Sagengruppe meist nicht mit der eifer-
süchtigen Neigung auf die Frau des Königs, i. e. der ]\Iutter, (wie
bei Bellerophon) verbunden erscheinen, sondern mit dem Motiv des
auf seine Tochter eifersüchtigen Vaters, der seinen zukünftigen Eidam
verderben will. Shakespeare hat dieses Verhältnis, wie wir bereits
wissen, von dem Briefmotiv getrennt und auf das Verhältnis des Po-
lonius zu Ophelia übertragen. Es sei der Hinweis darauf gestattet,
daß im Hinblick auf den hier bloß gestreiften Sagenkreis sowie
auf die später (Kap. VIII) zu besprechende Brutus-Sage, die auch
sonst auffällige Übereinstimmungen mit Hamlets Englandreise zeigt,
die beiden an Stelle Hamlets getöteten Ersatzmänner Rosenkranz und
Güldenstern den in den verwandten Überlieferungen mitkonkurrie-
renden und vom Helden beseitigten Brüdern entsprechen; als eine
derartige Brudergestalt ist teilweise auch Laertes aufzufassen, was be-
sonders in dem eifersüchtigen Streit um die Liebe zur Schwester (Ophelia)
deutlich wird. Endlich hat auch Laertes selbst — man wird die Viel-
seitigkeit und den Beziehuugsreichtum dieser psychischen Kompromiß-
bildungen kaum ausschöpfen können — dem Hamlet gegenüber noch
eine Art Vaterrolle übernommen in der Zweikampfszene, die wir als
Kampf zwischen Vater und Sohn bereits als mythische Überlieferung
kennen. Daß der Dichter auch in dieser Tötung, wie in allen anderen
des Dramas, den Vatermordimpuls befriedigte, zeigt uns eine an Hand
der Sage aufzeigbare unscheinbare Verschiebung. In der Sage kehrt
Hamlet am Tage der für ihn veranstalteten Totenfeier zum Vollzug
der Rache aus England heim. Er kommt, in schmutzige Lumpen ge-
den Namen Heinrich und kommt erwachsen an den Hof des Königs, der <len
.Jünglinf^ lieb gewinnt. Einmal hört er, das Kind sei ein richtiger Herzog
von Schwaben und wird an die Prophezeiung in der Mühle erinnert. Er schickt
den .Jüngling daher zur Königin mit einem Briefe, worin die sofortige Tötung des
Überbringers befohlen wird. Unterwegs aber wird dem schlafenden Heinrich der
Brief vertauscht und der Befelil zur sofortigen Verh ei ratung des Überbringers mit
der Königstochter untergeschoben. >So wird also Heinrich doch trotz aller Nach-
stellungen, wie es die Prophezeiung voraussagte, des Königs Eidam. (Weitere Pa-
rallelen bei Laistner: Das Kiltsel der Sphinx. Berlin 1889). — Ausgeschmückt
uufl mit anderen Motiven verbunden tritt uns das Motiv im Märchen vom „Teufel
mit den drei goldenen Haaren" (Grimm Nr. 29) entgegen, das in den
melirmals versuchten, selbst noch nach der Ehe fort^^esctzten Nachstellungen und
der ständigen Errettung des Helden noch deutlicher als die Heinrich-Sage die Iden-
tität dieser Motivgestaltung mit dem „ Aussetzimgsmythus" zeigt, den ich in
meiner Abhandlung über den „Mythus von der Geburt des Helden" auf die eifer-
süchtige Rivalität des Sohnes mit dem Vater zurückführen konnte. — Reichliche
weitere Parallelen zu der Sage .von dem neugeborenen Knaben, von dem in den
Sternen geschrieben steht oder pr )phezeit ist, daß er dereinst der Schwieger-
sohn und Erbe eines gewissen Herrschers oder Reichen werden soll and der dies
schließlich trotz aller Verfolgunjren jenes auch wird" hat i\oinhold Köhler
(Kl. "-'ehr. ir. :-i.')7) zusammengestellt.
Shakespeares Modifikationen der Hamlet-Sage. 227
hüllt, in den Saal und da er mit dem Schwert absichtlich
allerlei Unfug ti-eibt, heften es die Umstehenden durch einen Keil
in der Scheide fest. Als alles trunken am Boden Hegt, führt er sein
RacheAverk aus, indem er die durch ein Netz festgehaltenen Gäste
im Saale verbrennt. Dann erst sucht er seinen Stiefvater Fengo im
Schlafgemach auf, vertauscht dessen Schwert, das am
Bettpfosten hängt, mit dem seinigen und weckt ihn mit der
Kacheforderung für den ermordeten Vater. Fengo greift nach dem
Schwert und während er sich vergeblich bemüht, die festgenagelte
Klinge zu ziehen, wird er von Amlet mit seinem eigenen Schwert
getötet. Der Umstand, daß der Dichter diese Episode in den Rapier-
tausch der beiden auf Tod und Leben fechtenden Gegner einbezogen hat,
weist wieder auf die Milderungstendenz des Vatermordkomplexes hin,
verrät uns aber anderseits, daß die verdrängten Affekte sich liinter
harmloseren und psychisch weniger anstößigen Situationen befriedigen.
Wie durchgehends bei der schöpferischen Nachgestaltung des Sagen-
stoffes aus seinen eigensten persönlichen Komplexen, so hat auch hier
der Dichter eine äußere Bej;Tündung (das festgenagelte Schwert) in
seinem Sinne durch eine innerliche Motivierung ersetzt: bei ihm
ist der Sohn unfähig, das Schwert gegen Claudius zu zücken, aber
nicht weil es festgenagelt ist, sondern infolge seiner psychischen
Hemmungen, die ihm nicht gestatten, den König beim Gebet zu töten
(III, 3); er muß dazu das eigentliche Vergehen, dessen er sich selbst
in der Phantasie schuldig fühlt, vor Augen haben : er will ihn „in
seines Betts blutschänderischen Freuden'' töten. Dieselben einander
widerstreitenden Sohnes- und Vatergefühle sind es auch, die in
„Macbeth" neben der Ermordung Duncans die Banquos (aus Furcht
vor dessen Nachkommenschaft) mitbedingen, und die auch in Ham-
let, wie schon angedeutet, die Umwandlung des Vaterhasses in die
Rache für den Vater hauptsächlich bestimmen. Wir können hier
noch einen Schritt weiter in der Deutung des „Hamlet" gehen und
so eine neue Bestätigung für unsere Auffassung des Königs Claudius
als „Vater" erbringen. Erfordert die psychologisch bedingte Ein-
führung des Motivs der Vaterrache au Stelle des Vatermordes einer-
seits die Vorschiebung einer Ersatzfigur, eines Strohmannes, der zum
Teil die Wünsche des Sohnes verkörpert, so ist anderseits die Rache
an diesem Mörder, seine Tötung durch den Sohn, doch wieder nichts
anderes als ein durch das Motiv der Rache scheinbar gerechtfertigter
Mord des Nebenbuhlers bei der Mutter, der die Identifizierung des
Claudius mit dem „Vater" bestätigt. In der oft herangezogenen be-
deutungsvollsten Szene des Dramas (III, 4), wo Hamlet seiner Mutter
an der Gegenüberstellung der Bildnisse der beiden Brüder, ihres früheren
und ihres jetzigen Gemahls („Apoll neben einem Satyr" 1. Mo-
nolog, I, 2), das Verwerfliche ihrer Untat zu Gemüte führen will,
wird ganz deutlich, daß Hamlet in dem einen den Vater, wie er ihn
als Kind verehrte und in dem andern den Vater, wie er ihn später
228 \ l. Shakespeares Vaterkomplex.
als Nebenbuhler um die Zärtlichkeit der Mutter verabscheute, sieht. ^)
Den sexuellen Nebenbuhler sieht man ja immer nur von seinen
schlechtesten Seiten, wie Riklin-) in seiner Aufklärung- der Figur
der bösen Stiefmutter des Märchens gezeigt hat. Nur geht das
ganze dort von der Tochter aus, die in der Mutter die Konkurrentin
um die Liebe des Vaters sieht und darum einerseits — wie der Sohn
— sie zur Stiefmutter macht, anderseits in ihr aber nur die störende,
lästige, kurz böse Nebenbuhlerin sieht.
Seinen vollkommensten und höchsten künstlerischen, zugleich
aber auch den stärksten neurotischen Ausdruck, hat der Konflikt
zwischen den Vater- und Sohnesgefühlen in der Gestalt des Geistes
des ermordeten Vaters im „Hamlet" gefunden. Auf den ersten
Blick mag es wohl scheinen, als habe Shakespeare in der Gestillt
des Hamlet selbst uns das zuverlässigste Material zur Erkenntnis seines
eigenen Seelenzustandes gegeben. Aber dem ist nicht ganz so. Die
Gestalt Hamlets ist schon „idealisiert", das heißt es sind schon ver-
schiedene seiner seelischen Regungen von ihm abgespalten und als
handelnde Personen verkörpert : die Abwehr der unerträglich gewor-
denen feindseligen Einstellung gegen den Vater führt zur Projektion
des Geistes, in dem aber zugleich auch die Reaktion dagegen, die
Furcht, von dem eigenen Sohn etwa in ähnlicher Weise gehaßt werden
zu können, zum Ausdruck kommt. Und so stehen in den Reden des
„Geistes", aber auch in manchen Äußerungen Hamlets selbst, die
Sohnesgefühle unvermittelt neben den Vatergefühlen. So sucht er
z. B. als Sohn (III, 4) die Mutter dem Vater (Claudius) abwendig
zu machen, indem er ihr den Geschlechtsverkehr mit ihm verleidet:
„Nein zu leben
Im geilen Schweiße eines eklen Betts,
Gebrüht in Fäulnis; buhlend und sich paarend
Über dem garst' gen Nest — '•
Aber wie er in diesem Zusammenhang weiterhin seinen Vater (Stief-
vater im Drama) einen „geflickten Lumpenkönig" nennt, da beginnt
sich sein Empfinden als Vater zu regen (der Geist erscheint), der
vom Sohne Ähnliches fürchtet, und der Sohn wird ermahnt, die IMutter
zu schonen:
„Doch schau! Entsetzen liegt auf deiner Mutter;
Tritt zwischen sie und ihre Seel im Kampf.
Ähnlich widersprechend äußert sich der Geist; im Haß gegen den
Vater (also als Sohn) :
') Auch im Mythus führt die verschiedene Anffassnnw derselben Person zu
verschiedenen selbständigen und scheinbar voneinander unabhängigen (Gestaltungen
dieser Person. Vgl. Heldenmythus.
*) Wunscherfiillung und Symbolik im Märchen, Heft 2 der „Schriften z. an-
gewandten Seelenkunde", 1908, S. 74 und 91 Anra.
Die Bedeutung der Geistererscheinung im „Hamlet". 229
„Hast du Xatur in dir, so leid es nicht;
Laß Dänmarks königliches Bett kein Lager
Für Blutschand und verruchte Wohllust sein".
Aber als Vater und Gatte fügt er (für seinen Sohn) hinzu :
„Doch wie du immer diese Tat betreibst,
Befleck dein Herz nicht; dein Gemüt ersinne
Nichts gegen deine Mutter '^
Noch deutlicher kommt seine eifersüchtige Besorgnis um die Mutter,
also seine Gefühle als Vater, der die Inzestregungen des Sohnes
fürchtet und verdammt, in dem Ausruf des Geistes zum Ausdruck:^)
„Ja, der blutschänderische Ehebrecher
Durch Witzeszauber, durch Verrätergaben,
— — — — — — gewann den Willen
Der scheinbar tugendsamen Königin
Zu schnöder Lust. Hamlet, welch ein Abfall
Von mir, — — — — — — '*
In dieser Phantasie des Vaters vom Inzest der Mutter (der Königin)
mit dem Sohne steckt aber zugleich auch die WunscherfUllung des
Sohnes.
Im „Geist von Hamlets Vater" treffen also eine ganze Reihe
mächtiger unbewußter Regungen des Dichters aufeinander und finden
darin kompromißhaften Ausdruck : sein infantiler Haß gegen den
Vater und seine erotische Neigung zur Mutter, aber auch der reaktiv
umgewertete, den Vater verehrende und die Mutter verachtende Inzest-
komplex und endlieh auch die Strafe für diese verpönten Regungen : näm-
lich die Furcht vor ähnlicher Vergeltung durch den eigenen Sohn. Diese
erstaunliche Kompromißleistung grenzt ganz nahe an die ähnlich
bewundernsAverten Gebilde der Hysterie, wo auch in jedem Symptom
neben verschiedenen, verkleideten Wunscherfüllungen der strafende
Gedankengang seinen Platz findet.-) In der Gestalt des Geistes wird
nun in ganz gleicher Weise zwei gegensätzlichen inzestuösen Wunsch-
regungen Raum gegeben: der Dichter konnte darin dem Haß gegen
den Vater und der Liebe zur Mutter Luft machen, er konnte aber
auch vermittels der eigenen umgewerteten Inzestregungen im Sinne
der Vatergefühle seinen Sohn und seine Gattin wegen des gefürchteten
ähnlichen Verhaltens verdammen (siehe die Namensgleichheit des alten
^) Vgl. die ähnliche Phantasie von der Blutschande des Sohnes in Schillers
Don Carlos: „Eben trefft ihr sie, in Eures Sohns blutschändrischer Umarmung."
(III, 2.)
2) Ein äußerst instruktives Beispiel dafür hat Freud in der Traumdeutung
(S. 336) mitgeteilt. Über die tiefere im Triebleben begründete Bedingtheit dieser
Erscheinung vgl. man Freud: Hysterische Phantasien und ihre Beziehung zur
Bisexuiilität (Sainmlg. kl. Sehr. z. Neurosenlehre, 2. Folge).
230 VI. Shakespeares Vaterkomplex.
und juuo^en Köiiij]^s bei Shakespeare und dessen Identität mit dem
Namen seines ein^enen Sohnes: Hamnet).
Diese vielsoitio^e innere Bedingtheit der Gestalt des Geistes') läßt
es begreiHicli erscheinen, daß Shakesyieare, der sich bt^-kanntlich auch
schauspielerisch betätigte, bei der Darstellung des ..Ilanikt" diese Gestalt
verkür])erte und nicht, wie man erwarten stjllte, den Hamlet selbst. »Schon
dieser Umstand deutet darauf hin, daß Shakespeare sich jetzt selbst
mehr in der Kolle des Vaters fühlte. Diese Auffassung gewinnt an Be-
deutung durch die allgemeine Überlieferung, daß diese Rolle Shake-
s])eares beste schaus])ielerische Leistung gewesen sei. Hier ist uns nun
die ^löglichkeit gegeben, von unserem Stan(l])unkt aus einen Einblick
in die tieferen Bedingungen des schauspielerischen Könnens zu tun, und
ich möchte diese Gelegenheit nicht vorübergehen lassen, weil gerade
Shakespeares Schaflfen sich so besonders dazu eignet. Bei ihm fallen
nämlich Dramatiker und Schauspieler in eine Person zusammen, man
sieht da gleichsam den Darsteller aus dem Dichter herauswachsen
und überblickt so die innigen Zusammenhänge und die Differenzen
zwischen beiden. Denn keine noch so getreue Biographie irgend
eines anderen Darstellers könnte uns die entscheidenden inneren ]\Io-
meute und Erlebnisse, in denen ja auch das schauspielerische Wirken
wurzelt, in solcher Offenheit überliefern, wie sie uns die Analyse der
Werke Shakespeares aufgedeckt hat. Unser Versuch, eine schau-
spielerische Leistung unter denselben psychologischen Gesichtspunkten
zu betrachten, wie die Dichtung, erhält einige Berechtigung durch die
^) Der neurotische Charakter der Geistererscheinung erhält vielleicht eine bio-
logische Begründung durch einen Hinweis Adlers, der an meine Deutung des
„Wilhelm Teil" die Bemerkung knüpfte, d:iß er sich überhaupt keinen Dramatiker
ohne einen (in seinem Sinne) minderwertigen Sebapparüt denken könne. Denn die
halluzinatorische Vorstellung des Szenenbildes in der Phantasie lasse sich nur als
überwertige Leistung eines solchen Sehapparats auffassen. Den Übergang zur Neurose
bilden dann die den Halluzinationen entsprechenden Geistererscheinungen. Einen
ähnliihen Gedanken spricht Shakespeare selbst in der Geisterszene des Julius Cäsar
aus, wo Brutus sagt:
„Ich glaub, es ist die Schwäche meiner Augen,
Die diese schreckliche Erscheinung schafft."*
Und auch Hamlet sieht diu Gestalt seines ermordeten Vaters „in seines Geistes Auge"
(I, 2). Zur Minderwertigkeit von Shakespeares Auge vgl. noch die Blendung Glosters,
dann die wiederholte Anspielung Lears auf seine schwachen Augen, die Blendungs-
szene des kleinen Artur in „König Johann", die Halluzinationen Macbeths u. v. a.
Als Bestätigung für die Minderwertigkeit der Dichteraugen kann es vielleicht
gelten, daß zahlreiche Dichter die Befähigung zur Malerei in sich verspürten. „Xoch
stärker als Goethe hat Gottfried Keller geschwankt, ob er nicht zum Maler geboren
sei" (Behaghel S. 8). Behaghc 1 verweist fernerfS. 31) auf eine ganze Reibe solcher Dich-
ter, darunter auch Salomon Gessner, Maler Müller, E. T. A. Ilottmann, Wilhelm Buscli,
Anzengruber, Paul Heyse, Scheftel, Mr>rike. Grillparzer (S. 32) u. v. a. Kurzsichtige
Dichter hat es immer zahlreiche gegeben; außer Sc liil 1er seien nur Fr ey tag (S. 32)
und Ibsen genannt, in dessen „Wildente" der „Augenüberbau" dominiert (Blind-
heit, Schwachsichtigkeit, Photograj»hiekunst, Schießen); von Ibsen selbst sind auch
viele Jngendzeichnnngen erhalten. Schließlich sei auch nicht der halb mythischen
Gestalt des blinden Homer vergessen.
Zur Psychologie der schauspielerischen Leistung. 231
Resultate einer tiefergreifenden Untersuchung der Wurzeln alles künst-
lerischen Schaffens, wie ich sie in meinen „Ansätzen zu einer Sexual-
psycliologie" zu geben versuchte. Es ergab sich dort unter anderem
(S. 52), daß die schauspielerische Leistung ein vollwertigerer psychi-
scher Akt, gleichsam eine gründlichere Erledigung seelischer Ange-
legenheiten sei, als die Arbeit des Dramatikers. Der Schauspieler
vollende eigentlich erst das Drama, er mache das, was der Drama-
tiker eigentlich machen wolle, aber — infolge psychischer Wider-
stände — nicht machen könne ^): er „erlebe" gleichsam, was der
Dramatiker nur „träume". Während aber der Träumer die viel-
gestaltige Handlung in seinem Innern erlebt, projiziert sie der Dichter
nach außen. Alle Personen des Dramas sind Verkörperungen ein-
zelner seelischer JMächte des Künstlers, der sich durch diese Projektion
von den peinlichen inneren Konflikten befreit; das dichterische Schaffen
ist also wesentlich Abwehr. Der Dichter strahlt gleichsam seine in-
timsten Regungen aus, der Schauspieler dagegen fängt sie wieder in
sich auf, eignet sie sich an, er setzt der Abwehr des Dramatikers die
Bejahung entgegen ; sein Schaffen ist also wesentlich Aneignung, Iden-
tifizierung. Kurz der Darsteller ist im psychologischen Sinne das
Positiv des Dichters.
Durch die dichterische Schöpfung ■ — wir gehen hier zur An-
wendung dieser Einsichten auf die Gestalten Shakespeares und
besonders den „Geist" über — wird dieser psychische Konflikt nur
temporär beigelegt (daher die Unermüdlichkeit der dramatischen Pro-
duktion, bei innerlich verwandten Themen, die den Dichter nur im
Schaffen begeistern und fesseln, nachher ihm aber fremd werden) 5 die
^) iüm mehr oder minder intensiver Wunsch nach schauspielerischer Verkörperung
seiner Phantasiegestalteu wohnt jedem Dramatiker inne. Von den alten Griechen
an, denen dieses Verhältnis als das natürliche erschien und bei denen Sophokles
der erste Dichter war, der wegen seiner geringen Stimmittel auf die Darstellung
seiner Gestalten verzichten mußte, hat es bis auf den heutigen Tag eine ganze Reihe
von dramatischen Dichtern gegeben, die entweder berufsmäßige Schauspieler waren
oder wenigstens den Drang dazu verspürten. Von den Berufschauspielern Raimund,
Nestroy, Moliere, Goldoni, Anzengruber zu Lessing, der nach der Bio-
graphie seines Bruders (Reclam. S. 47) zum Theater geben wollte und Goethe, der
seinen Orest und andere Rollen selbst .>;pielte, zu Wedekind, der in seinen eigenen
Dichtungen auftritt, und zu Gerhard Hauptmann (vgl. dessen Biographie von
Schienther S. 34 ff), den nur ein Sprachfehler von seinem Plan, Schauspiekr zu
werden, abbringen konnte. Auch von Alfieri ist bekannt, daß er häufig, und noch
im Alter von 46 Jahren, in seinen eigenen Stücken auftrat. Auch Richard Wagner
bedauert in eiuem Brief an Liszt, nicht Schauspieler geworden zu sein, da er in
diesem Beruf allein hätte glücklich werden können. Diese Beispiele, die sich leicht
vermehren lassen, zeigen, wie sehr die im Dramatiker gebundene Aktivität nach
Äußerung drängt. War es doch selbst Schiller ein mächtiger Ansporn zu seinem
Schaffen, wenn er sich in Gedanken und auch auf dem Papier die Rollen seines
neuen Dramas mit bekannten Schauspielkräften besetzte, um die Gestalt bei der
Produktion immer gegenwärtig zu haben. So ist das bekannte „Rollen auf den
Leib schreiben" auch nur der Ausdruck der Sehnsucht des Dramatikers nach eigener
Verkörperung seiner Gestalten, eine Sehnsucht, die in der Realität nicht voll befrie-
digt werden kann.
232 VI. Shakespeares Vaterkomplex.
unterdruckten Reofuno^en werden nur für eini<i^e Zeit enthastet, um bald
wieder als dräno^ende und fordernde i\ialiner der Befreiun«^ und Al)fuhr
bedürftig zu werden. Und wie Slinkespeare wahrscheinlich als
Kind reale Furcht vor seinem Vater gehabt haben wird (vgl. das ähnlich
er>nesene Verhältnis Schillers, Goethes, Hebbels u. a. Dichter
mit zärtlichen jMüttern zu ihrem Vater), so tritt nun die Erinnerurg
an ihn, durch die Verdrängung des A'aterhasses bedingt, von Angst
begleitet auf. Die Darstellung aber ernii/glichte Shakespeare nicht
nur das Abreagieren, so oft diese Enijifindungen eine gewisse Inten-
sität bei ihm erreicht hatten, sondern sie leistete ihm noch weit mehr.
Während er nämlich den Geist des Vaters selbst spielte, konnte ihm
persönlich der Geist seines eigenen Vaters (seine peinlichen Gedanken
an ihn) nicht erscheinen; so lange war er sicher davor. Als Dichter
hatte er diese angstbetonten Kegungen durch Projektion nach außen
abgewehrt; als Schauspieler verkörpert er sie nun wirklich, stellt er
sie außen dar und setzt sich damit, seinen Vatergefühlen Ausdruck
verleihend, mittels Identifizierung an Stelle des Vaters.
Die Darstellung gibt ihm also gleichsam die Gewißheit, daß die
Abwehr gelungen ist. Als Dramatiker hat er die Haßgedanken ab-
gewehrt, als Darsteller eignet er sich sie wieder an, indem er sich
mit dem Geiste seines Vaters, der ihn plagte, identifiziert, um nun
seinerseits den eigenen Sohn (Hamlet) als „Geist'' zu quälen und ihm
das Verwerfliche seines Tuns und Denkens vorzuhalten. Er iden-
tifiziert sich aber im „Geiste" zugleich auch mit dem Sohn (Kom-
promißleistung), um dadurch seine eigenen Empfindungen als Sohn
zu rechtfertigen. Er spielte die Kolle also, um den Ausbruch der
Angst vor den auftauchenden gehässigen und reuevollen Gedanken
gegen seinen verstorbenen Vater und vor den ähnlichen Regungen,
die er als Vater befürchten zu müssen glaubte, zu verhüten, er spielte
die Rolle also, um dem Angstanfall vorzubeugen, wie man im Hin-
blick auf gewisse hysterische Phobien sagen möchte, und er spielte die
Rolle so gut, weil er dieses Spiel zur Erhaltung seines psychischen
Gleichgewichtes, zu seiner Kur möchte man fast sagen, brauchte.
Auch dieser Vorgang läßt sich, wie schon angedeutet, wieder nur
durch ein Beispiel aus der Psychopathologie illustrieren, in der Art
wie z. B. das SymptomderPlatzangst, der Unfähigkeit, allein über
die Straße zu gehen, zu stände kommt. Den Forschungen Freuds
verdanken wir die Erkenntnis (Traumdeutung, S. 343), „daß das
Symptom konstituiert wird, um den Ausbruch der Angst zu verhüten" ;
wenn man den Neurotiker zu der Handlung zwingt, zu der er sich
unfähig fühlt, so bekommt er einen Angstanfall. „Die Phobie ist der
Angst wie eine Grenzfestung vorgelegt." In der gleichen Weise hat
auch — wir künn(;n es nicht anders sagen — Shakespeare sein
Symptom (allerdings eine hochwertige Leistung, nicht eine Unfähigkeit)
konstituiert, um dem Ausbruch der Angst vorzubeugen.^)
') Über den innigen Zusammenhang des MechaniHmus und des Effekts einer
Ljrfiterischen Phobie und df r scbauspielcrischen Leistung kann vielleicht der Hinweis
Der Verdrängungsfortschritt zur Neurose. 233
Auch diese Untersuchung zeigte also wieder, wie sich eine ein-
zige Kette von den frühzeitigen, affektiv betonten infantilen Eindrücken
über ihre Wiederbelebung im „Traum des Normalen" und über die
Phantasiewünsche des besonders Veranlagten in die verhüllende künst-
lerische Produktion und von da durch die schauspielerische Leistung
hindurchzieht, um auf dem Gipfel der Abwehr im hysterischen Anfall
zu enden.
Aufschluß geben, daß die Platzangst, deren Vorstufe als „Lampenfieber" bekannt
ist, die typische Schauspielerneurose ist. Prof. Freud, der Gelegenheit hatte, der-
artige Fälle zu analysieren, machte einmal in bezug auf die Identifizierung des Schau-
spielers mit seiner Rolle die bedeutsame Bemerkung, daß der Schauspieler in ge-
wissem Sinne über der Kolle stehen mü^so. Wo auf Grund einer persönlichen
Krinnerung die Identifizierung zu weit geht, da versagt er und bekommt einen
Angstanfall. Interessant ist endlich, daß viele Platzangst-Neurotiker über die Empfin-
dung klagen, es verändere sich die Umgebung (Zimmer, Straßen, Häuser), eine
beständige Abwehr der unerträglichen Realität, die dem Schauspieler durch seine
eigene Wandlungsfähigkeit ermöglicht wird.
VII.
Odipiis -Dramen der Weltliteratur.
Zur Psychologie der Jugenddiclitungen.
Der Keuscliheit streng Gesetz, den Ekel der Natur,
Des Vaters Nebenbuhl, der Matter Mann zu werden,
Dies alles drückt ich ihm jung in sein wächsern Herze.
L e s s i n g (Giangir\
Wie der geschichtlich überlieferte Stoff des Don Carlos von
den neueren Dichtern mit Vorliebe ^dramatisiert", d. h. mit ihren
persönlichen Komplexen erfüllt und nach diesen ausgestattet wurde,
so war — dem Verdrängungsprinzip voll entsprechend — die O d i p u s-
Sage bei den alten Tragikern gleich beliebt. Diese Bevorzugung
des thebanischen Sagenkreises vor dem weniger gewalttätigen und
großartigeren des troischen Kreises ist wohl den dem unbewußten
Gefühlsleben der Dichter entgegenkommenden Themen des Vater- und
Brudermordes, der Mntterehe u. a. zuzuschreiben, wie sie in ähnlicher
Häufung später nur die von den Tragikern eigentlich erst ausgebildete!
Atriden-Öage (vgl. Kap. IX, 5) aufweist. Schon A i s c h y lo s (525 bis 456
V. Chr.) hatte einen Ödipus geschrieben, der zusammen mit den
Tragödien : L a i o s, die Sieben vor Theben und dem Satyr-Spiel
Sphinx als zweites Stück aufgeführt wurde (Christ: Geschichte d.
griech. Lit.). Den Stoff fand Ai seh y los in der Odyssee (XI, 271 ff.),
wo Odysseus in der Unterwelt die Geister der ^''erstorbenen sieht:
Hierauf kam Epikaste, die schöne, Ödipus Mutter,
Welclic die .sclirecklichste Tat mit geblendeter Seele verübte.
Ihren leiblichen Soliu, der seinen Vater ermordet.
Na lim sie zum ]Mann! Allein bald rügten die Götter die Schandtat.
(Übers, v. Voss.)
Außerdem hat Aischy los auch noch aus einem anderen alten Epos,
der (Jdijiodie, einem Gedicht des nachhomerischen epischen Zyklus,
geschöpft. Auch er hatte bereits die mythisch überlieferten Greuel
dadurch verschärft, daß er die vier Kinder, die Ödipus nach dem
Griechische Ödipus-Tragödien. 235
alten P]pos mit einer zweiten Gemahlin Eurygaueia') erzeugte, durch
eine Modifikation der Sage zu Sprossen aus der Ehe mit der Mutter
machte.
Nebenbei sei hier darauf verwiesen, daß auch Homer, wie es
scheint, nicht so ganz äußerlich zur Erwähnung des Odipus Schicksals
kam. Denn kurz vor Epikastes „Geistererscheinung" erscheint dem
Odysseus seine eigene Mutter, die nach der Ursache ihres Todes
befragt, antwortet (Od. XI, 270 ff.) :
„Bloß das Verlangen nach dir, und die Äugst, mein edler Odysseus,
Dein holdseliges Bild nahm deiner Mutter das Leben!"
Also sprach sie ; da schwoll mein Herz vor inniger Sehnsucht,
Sie zu umarmen, die Seele von meiner gestorbenen Mutter.
Dreimal sprang ich hinzu, an mein Herz die Geliebte zudrücken;
Dreimal entschwebte sie leicht, wie ein Schatten oder ein Traumbild,
Meinen umschlingenden Armen ; und stärker ergriff mich die Wehmut.
Und ich redte sie an und sprach die geflügelten Worte :
Meine Mutter, warum entfliehst du meiner Umarmung':'
Wollen wir nicht in der Tiefe, mit liebenden Händen umschlungen.
Unser trauriges Herz durch Tränen einander erleichtern ?
Diese Schilderung entspricht ganz der Phantasie eines Muttertraumes,
in dem die Abwehr sehr hübseh durch das Entgleiten der Mutter aus
der Umarmung des Sohnes dargestellt ist.^)
Nach Aisehylos und Sophokles schrieb auch Euripides
einen Odipus, der jedoch, ebenso wie der des Aisehylos nicht er-
halten ist. Nauck (Trag. gr. fr.) nennt außerdem von griechischen
Dichtern, die Tragödien unti'r dem Titel „Odipus^ verfaßten:
Achaios, Theodektes, Xenokles, Karkinas und Diogenes; auch
werden noch Nikomaehos, Philokles, ein Neffe des Aisehylos,
und Lykophoron, der Verfasser zweier Odipus-Dramen (in Roschers
Lexikon) angeführt. Constans (a. a. O.) nennt noch als Verfasser
griechischer Odipus-Tragödien : Meletiis, den Ankläger des Sokrates,
„auteur d'une Oiot-oosi'or, tetrelogie mentionnee par le scholiaste de
Piaton; Aristarque de Tegee, contemporain d'Euripide, d'apres
Suidas, et sans doute ant^rieur ä lui" (p. 19). Diese stattliche Reihe
griechischer Ödipus-Tragödien (gewöhnlich werden zwölf angegeben)
läßt nicht nur auf die nachschöpferische Identifizierung vieler Dichter
mit dem Helden der Sage schließen, sondern verrät in gleicher Weise
^) Diese Earyganeia machen einige Überlieferungen zur Schwester der Jokaste,
also zur Tante des Odipus. Siehe Constans: La Legende d'Oedipe.
Paris 1881, p. 37.
-) Hieher gehört die, wenn auch der Homerischen Stelle nachgeahmte, so doch
darum keineswegs der p'jychologischen Bediügtheit entbehrende Stelle in V e r g i 1 s
Aenei's (11, 792 f., VI, 695 f.). wo der Held auch dreimal vergebens den Scliatten
seines verstorbenen Vaters zu umarmen sucht, was dem Traum vom Tode des Vattrs
entspricht. Als Seitenstück dazu erscheint dem Äneas (I, 315 ff.) seine Mutier
Venus in reizender Kleidunof als Jungfrau, so daß er von -hr outzückt ist.
236 ^'I^ Odipus-Dramen der Weltliteratur.
die auf illmlieluT psychulogischer Motivierung^ beruhende Beliebtheit
des Stoffes beim Volke.
Von den römischen Tragikern (vy;\. Ribbeck: Die röm. Traj^.)
schrieb Seneca einen Odipus, der sich durch die besondere Art
der Enthüllung von ( )dipus Schuld auszeichnet. Es bezeichnet nämlich
nicht wie bei Sophokles der Seher Tircsias den Odipus als Vater-
mörder, sondern nach einem 0])fer und einer Beschwörung der Unter-
welt erscheint der Geist des Laios und beschuldigt den
Odipus des Mordes und des Inzests^). Kreon überbringt dem
Odipus das Resultat der Beschwörung, wird jedoch, da Odipus ein
Komplott vermutet, gefangen gesetzt. Odipus aber grübelt nun fort-
während darüber und erinnert sich schließlich selbst daran,
daß er einst am Dreiweg einen ^[ann erschlagen habe. Der Hirte, der
den Tod der Pflegeeltern meldet, löst dann — wie bei Sophokles
— alle Rätsel: Odipus blendet sich und Jokaste ersticht sich angesichts
ihres geblendeten Sohnes. Zu dieser Bestrafung in Gegenwart des
Sohnes bietet das Verbrechen in Gegenwart der Mutter ein inter-
essantes Seitenstück: nach Nikolaos Damaskenos erschlägt näm-
lich Odipus den Laios vor den Augen der Mutter. Daß dieser Um-
stand dann doch die Heirat nicht hindert, zeigt deutlich, daß beide
die Beseitigung des Vaters im Unbewußten wünschten. Bemerkens-
wert ist noch, daß sich Odipus bei Seneca selbst an den Totschlag
erinnert, wenn er auch noch nicht weiß, daß es der Vater war, den
er damals tötete. Hier verdient die Einwendung Lope de Vegas
widerlegt zu werden, der in seiner „Poetik", einem Gedicht, worin er
Lehren zur Verfassung guter Komödien erteilt, vor allem fordert, daß
sich die handelnde Person in keiner Weise widerspreche und das Vor-
hergegangene nicht vergesse, wie man z. B. dem Sophokles vor-
werfe, Odipus erinnere sich nicht daran, den Laios getötet zu haben
(s. Schaff er: Gesdi. d. span. Nationaldramas). Lope erfaßt natür-
lich gar nicht den tiefen Sinn der Sage, die auf diese Weise die Ver-
drängung der dem Erinnern peinlichen Vatermordphantasie ausdrückt
Aber auch von den Alten, insbesondere von Aristoteles, wurde
Sophokles darum getadelt, daß die späte Enthüllung des unheilvollen
Geschickes des Odipus unwahrscheinlich sei. Euripides glaubte
sogar, Odipus schweige absichtlich darüber.
') Diese Szene erinnert auffallend an die Erscheinung' des ermordeten Königs
im „H a m 1 e t", der auch seinen Nachfolger des Mordes uud des Inzests beschuldigt.
Die Komplikation im Hamlet ist der mächtigeren Verdrängung zuzuschreiben.
Klein (Gesch. d. Dr.) nennt die Szene bei Seueca ^keine unwürdige Studie zu
Hamlets Szene mit seines Vaters Geist auf der Terassc" (p. 457). Seneca hat eine
ähnliche Vorliebe für Geistererscheinungen wie Shakespeare, die auch ähnlich
bedingt sein wird. Vgl. den Geist des Tantalus in Senecas „T h y e s t e s" und den
Geist des Thyestes in Senecas „A g a m e in n o n". Man vgl. auch Voltaires
Trauerspiel „Semiramis" (1748), wo die Königin den Ständen ihres Reiches ihre
Vermählung eröffnet und der Geist des ermordeten Ninus aus der Gruft steigt, um
die Blutschande zu verhindern und sich an seinem Mörder zu rächen.
Cäsar als Dichter und Held des Inzest-Dramas. 237
Auch Julius Cäsar hat, wie Sueton in dessen Biographie
berichtet, einen Ödipus verfaßt; er schreibt c. 53: „Auch spricht
man von Schriften, die er in seiner Jugend verfaßt haben soll,
zum Beispiel: das Lob des Herkules, ein Trauerspiel: Ödipus,
auch gesammelte Denksprüche. Augustus verbot in einem kurzen
und einfachen Briefe an den Pomponius, dem er die Einrichtung
seiner Bibliothek übertragen hatte, die Bekanntmachung dieser Schriften.'^
Cäsars Ödipus-Dichtung gewinnt dadurch an Interesse, daß sich
bei ihm» die inzestuöse Neigung zur Mutter psychologisch nachweisen
läßt ^). Sueton erzählt c. 7: „Selbst wegen eines Traumes in der
folgenden Nacht, der ihn beunruhigte — denn ihm träumte, er
habe seine Mutter beschlafen — machten die Traumdeuter
ihm Mut zu den größten Hoffnungen; sie gaben nämlich die Aus-
legung, als sei es ein Vorzeichen seiner Herrschaft über den Erd-
kreis; denn die Mutter, die er unter sich habe liegen sehen, sei
niemand anders als die Erde, die Allmutter.'" Dasselbe berichtet
Flutarch in der Biographie Cäsars (c. 34 Schluß)-). Der
Biographie Suetons entnehme ich noch, daß Cäsar seinen Vater im
Alter von 16 Jahren und seine Mutter nach der Untcrwerfimn: Galliens
verlor. Von vielen wurde ihm vorgeworfen, ,,er habe aus Begierde
nach jMncht seine Gattin, die ihm schon drei Kinder geboren hatte,
verstoßen und die Tochter jenes Mannes geheiratet, den
er oft unter Seufzern seinen Agisthos genannt habe'^).
Vor allen anderen Frauen aber liebte er Servilia, des
M. Brutus Mutter" (c. 50). Die besondere Bevorzugung und
Liebe, die Cäsar dem Brutus schenkte, erklärt Plutarch in der
Biographie des Brutus c. 5: „Er tat dies, wie man sagt, der Mutter
des Brutus, Servilia, zu Gefallen. Er hatte nämlich, wie es wahr-
scheinlich ist, noch als Jüngling sicher erfahren, daß Servilia ganz
wahnsinnig in ihn verliebt sei; da nun Brutus gerade um die Zeit
ihrer brennendsten Liebe geboren wurde, so hatte er wohl die
Überzeugung, daß Brutus sein eigener Sohn sei." Be-
kanntlich war dieser Markus Brutus dann das Haupt der Ver-
schwörung gegen Cäsar und soll auch selbst den entscheidenden
Dolchstoß nach ihm geführt haben: „Und so ward er von 23 Stichen
durchbohrt; nur ein wortloser Seufzer war ihm beim ersten Stiche
^) Im Hinblick flarauf erscheint ein ihm in der Berichterstattung zugre-
schriebener Irrtum von psychologischer Bedeutung. Cäsar berichtet de belle
gallico V, 14 von den Briten: „Uxores habent . . . inter se communes . . . parentes
cum liberis". Engels (Ursprung der Familie, 2. Aufl. 22) meint, Cäsar hätte
sich hierin geirrt, vras wir wohl im Sinne einer unbewußten Wunscherfüllung auf-
fassen dürfen (vgl. zu der Stelle ötorfer: Vatermord, S. 15, Anmkg. 1).
2) Über die Berechtigung dieser symbolischen Ausdeutung vgl. meine An-
merknnir Xr. 27 zum „Traum der sich sellost deutet" (Jahrb. 11, 1910, S. 534) sowie
Freuds Anmerkung in der 3. Aufl. der „Traumdeutung" S. 207.
^) Welche Beziehungen da gemeint sind, ist mir unbekannt. Vielleicht in-
zestuöse Vergehen, wie die Agisthos-Sage vermuten läßt (s. Kap. IX, 5).
238 VII. Ödipus-Draraen dor Weltliteratur.
entfahren, obgleich einige erziililen, er habe, als Markus auf ihn ein-
gedrungen sei, diesem -wiederholt auf Grieehis^eh zugerufen: Auch
(l u, mein JSuhu?" (iSueton c. 82). Wiederum erweist sich hier
die ]iolitisch motivierte Tat als Deckmantel einer tief im Sexuellen
entsprungenen Handlung, und der jMord des politischen Oberhauptes,
des Tyrannen, im Grunde als Vaterraord. Sueton erzählt c. 88,
daß man beschloß, die Curie, in der Cäsar ermordet worden war,
zu vermauern, dem 15. März aber den Namen des Vater-
mordes zu geben. — Der Haß des Brutus entsprang oifenbar der
Eifersucht auf Cäsar, der ja des ßrutus ]\lutter unrechtmäßiger-
weise besessen hatte, was dem Sohn bekannt war. Die Neigung zur
Mutter äußert sich bei Brutus darin, daß er eine Witwe, die noch
dazu seine entfernte Verwandte war, nämlich die Tochter seines
Oheims Cato, heiratete (l'lutarch c. lo). Die interessante Ver-
knüpfung von Traum, Dichtung und Erlebnis bei Cäsar wird noch
ergänzt durch den Traum des Brutus, worin ihm der er-
schlagene Cäsar, der Vater, erscheint. Es ist hier gleichsam,
der ganze Inzestkomplex auf zwei Generationen, Vater und Sohn
derartig verteilt, daß Cäsar die Mutterliebe mit dem dazugehörigen
Traum (und der Dichtung), seinem Sohn Brutus der dem Vaterhaß
entspringende Tyrannenmord mit dem typischen Traum vom toten
Vater zufällt.
Von diesem Knotenpunkt des Inzestproblems zweigt eine Linie
in der Richtung „Cäsar" al); es sind das eine Reihe von Dramen,
die Cäsar s Ermordung behandeln. Es hat den Anschein, als wäre
bei Cäsar, der selbst noch einen Ödipus schrieb, der unverhüllte
Ödipus-Stoff durch den der vorgeschrittenen Verdrängung besser
entsprechenden Cäsar-Sttjff abgelöst worden. Der Reiz dieses
Stoffes für die Dramatiker liegt — ähnlich wie beim Stiefmutter-
Thema — in der Abschwächutig der fürchterlichen Vergehen,
die durch WegAdl der Mutter und außerdem durch den Zweifel an
der Vaterschaft C ä s a r s bewirkt wird. Diese Unsicherheit stellt es
dem Dichter frei, je nach seinem Bedürfnis das Verhältnis zwischen
Cäsar und Brutus zu gestalten, von der innigsten Blutsverwandt-
schaft bis zur vollständigen Fremdheit, vom direkten Vatermord bis
zur rein politisch motivierten Ermordung des Tyrannen ^). So legt
Alfieri in seinem Bruto secundo ebenso wie Voltaire indem
Trauerspiel: Mort de Cesar (1735) das Hauptgewicht auf
das verwandtschaftliche Verhältnis zwischen Cäsar
u n d B r u t u s. Ja, Alfieri läßt sogar d en Brutus öffentlich im
Senat erklären, er sei der außereheliche Sohn Cäsar s. Ganz im
Gegensatz dazu erwähnt Shakespeare in seinem Julius Cäsar
1) Vgl. /,!i dem Stoff den 33. Baiid der Sainrnluner „Palästia": Cä.sar in der
deutschen iJteratiir von G n n de 1 fin ger fUf-rlin 1904). Außerdem H. Wose-
mann: Die Cäsarfabeln des Mittelalters (Prog. Lüwenberg 1879).
Voltaire' s Jugenddichtung „Oedipe". 239
die verwandtschaftliche Beziehung mit keinem Wort, sondern bei ihm
ist Brutus ein Verschworener wie die anderen auch (siehe die Analyse
von Shakespeares Cäsar). Erwähnenswert ist noch Conti's
Julius Cäsar und des jung verstorbenen Brawe (1738 bis 1758}
Tragödie Brutus, wo das Verhältnis des Sohnes zum Vater, mit
tiefer Beziehung auf des Dichters eigenen seltsamen Tod, in typischer
Abwehrform behandelt ist : der Sohn, der auf der einen Seite mit
größter Selbstüberwindung dem Vatermord zu entgehen sucht, fällt
gerade dadurch auf der anderen Seite demselben Verbrechen um so
sicherer in die Arme und vermag nur durch Selbstmord dem drohenden
Vatermord zu entgehen. „In seinen Dichtungen'' sagt Minor (Ein-
leitung zu Brawes Werken in Kürschners deutsch. Nat. Lit.,
Band: Lessings Jugendfreunde) „tritt die Liebe zum Vater um so
wärmer und glühender hervor" als er seine Mutter schon früh verloren
hatte. Sein vorzeitiger und den Eindruck eines unbewußten Selbst-
mordes machender Tod erscheint im Hinblick auf den Odipus-Komplex
wie eine reuige Selbstbestrafung für den verdrängten Vaterhaß und
eine Rückkehr zur geliebten verlorenen Mutter (vgl. ähnliches bei
Theodor Körner, IL Abschnitt, Kap. XXIII, 4).
Aus der Reihe der Cäsar-Dramen finden wir bei dem erwähnten
„Mort de C6sar" Voltaire's den Übergang zu den Odipus-Dramen
wieder; Voltaire's erstes Theaterstück, das er im Alter von 19 Jahren
verfaßte, war der Ödipus (1718)^). Interessant ist es, zu beobachten,
wie sich hier bei dem modernen Dichter, trotz der Unmöglichkeit an
dem überlieferten Stoff zu rütteln, dennoch die Verdrängung äußert.
Jocaste liebt nämlich hier weder den Lai'os, noch den Odipus,
sondern einen dritten, Philcctete. Sie fühlt sich also auch in ihrer
Ehe mit dem Sohn unglücklich, während der Mythus gerade durch
die glückliche Gestaltung dieser Verbindung die unbewußte Neigung
zwischen j\Iutter und Sohn betont. Jocaste behandelt das Verhältnis
zu Odipus ganz kühl:
Par un monstre cruel Thebe alors ravagee
A son liberateur avait promis ma foi ;
Et le vainqueur du Sphinx etait digne de moi.
E g 1 n e (confidente de Jocaste) :
Vous faimiez?
Jocaste: Je sentis pour lui quelque tendresse ;
Mai que ce sentimeut fut lein de la faiblesse !
Ce n'etait point Kgine, im feu tumnltiieux,
^) Voltaires Ödipus wurde, wie Constans (p. 381 note) anführt, parodiert,
was als Beweis für die Popularifit dieses Dramas augesehen werden kann. — Paro-
dien auf den Ödipus-Stoff führt auch E. Weber in den Leipziger Studien 10 (1887),
S. 141 ff. an. — Charakteristisch ist Heines auf die gleichgeschlechtliche Neigung
des Dichters Platen anspielende ironi.sche Bemerkung, er müßte bei einer Bear-
beitung des Ödipus-Stoftes den Helden die Matter erschlagen und den Vater heiraten
lassen.
'J40 \\\- «Klipus-Dramon ävv Weltliteratur.
Des mes sens enchanti^s eiifant impetueux ;
Je ne reconnus puiut cette brülante flammö
Que le seul I'hilocteto a fait naitre eu mou amo.
Je sentis pour Oedipe une amitiö severe :
Oedipe est vertueux, sa vertu m'ötait chere.
In diesem Abwelirversuch tler inzestuösen Neifj^ung offenbart sich
deutlich der Verdriingunofsfortschritt ; daß Philoctete nur eine zur
Abwehr der inzestuösen Neigung — ähnlich wie Claudius — ein-
geschobene Zwischenperson ist, zeigt sich daran, daß er zuerst des
Mordes an Laius beschuldigt wird: er soll also der Mörder des Vaters'),
zugleich aher mit der Älutter nicht blutsverAvandt sein (vgl. den ähn-
lichen Kompromißcharakter der Stiefmutter-Figur).
Schon vor Voltaire hatte Corneille im Alter von 59 Jahren,
kurze Zeit nach dem Tode seines Vaters, einen Oedipe
verfaßt (1659). Auch hier äußert sich, ähnlich wie bei Voltaire, die
Wirkung der Verdrängung in der Eintiechtung einer zweiten Liebes-
affäre. In seinen „lettres sur Oedipe" sagt Voltaire über Cor-
neilles Ödipus: „Aiusi la passion de Th6s6e fait tout le sujet de la
trag6die, et les malheurs d'Oedipe n'eut sont que l'episode." Constans
(p. o79) fügt noch hinzu: „Le denouement est celui de Sophocle,
mais il est simplement anuoncö, de peur, nous dit l'auteur dans son
Examen de la piece, de „faire soulever la delicatesse des dames". —
Bei Corneille liebt Theseus, der Prinz von Athen, pirc6, die Tochter
des Laius und der Jokaste, die Schwester des Ödipus, während
Ödipus hofft, Theuses werde eine seiner Töchter, Ismene oder Anti-
gone heiraten, da er Dirce dem Sohne Kreons versprochen hat. Als
der Schatten des Laius einen Prinzen oder eine Prinzessin seines Blu-
tes als Sühnopfer fordert, und Dirce, als letzter Sproß seines Blutes,
bereit ist, sich auf dem Grabe des Vaters zu opfern, sucht Theseus,
der für sie sterben will, sie zu überzeugen, er sei ihr Bruder und
müsse sich darum opfern; er läßt sie deshalb auch nicht von Liebe
zu ihm sprechen:
Mon coeur n'^coute point ce que le sang veut dire:
C'est d'amour qu'il geniit, c'est d'amour qu'il soupire;
Et pour pouvoir saus crime en gouter la douceur,
II se revolte expres contre le nom de soeur.
De mes plus chers desirs ce partisan sincere
En faveur de Tamant tyrannise le frere,
Et partage a tous deux le digne empressement
De mourir comme frere et vi vre comme amant.
I) In Voltaires ^Mah omet", der im zweiten Teil bei Goeth es Schwester-
komplex (Kap. XVIj Ijcsprochen ist, kommt die Kimordung des Vaters durch den Sohn vor.
Die Verbreitung des Ödipus-Stoffes. 241
Dirc^. du sang de Laius preuves trop manifestes!
Le ciel, vous destinant, ä des flammes incestes,
A SU de votre esprit d^raciner l'horreur
Que doit faire ä Tamour le sacre nom de soeur.
Mais si la flamme y garde une place usurp^e,
Dirce dans votre erreur n'est point envelopp^e.
Schließlicli heiratet Theseus die Dirce. Diese Liebesaffäre zwi-
schen Theseus und Dirc6, die das Schicksal des Ödipus zur Episode
herabdrückt, ist, wie man sieht, nicht ohne tiefere Beziehung in die
Handlung verflochten, denn das darin angeschlagene Motiv der Liebe
zur Schwester spielt, wie noch später ausgeführt werden soll, in Cor-
neilles Seelenleben eine bedeutsame Rolle. Neben diesen Beziehungen
ist der Haß der Tochter (Dirce) gegen ihre Mutter, den gleichge-
schlechtlichen Elternteil, unverkennbar angedeutet und mit der Liebe
zum (verstorbenen) Vater kombiniert (Opferung auf seinem Grabe;
Vereinigung im Tode). Voltaire schreibt in den „lettres" : Dirc6 . . .
passe tout son temps ä dire des injures ä Oedipe et ä sa mere. Ein
ähnliches Verhältnis werden wir bei Elektra wiederfinden, die auch
ihre Mutter und deren zweiten Gatten haßt, während sie ihren ver-
storbenen Vater und ihren Bruder liebt (vgl. Kap. IX, 5).
Zwanzig Jahre nach dem Ödipus Corneilles erschien der Ödi-
pus der beiden englischen Dramatiker Dryden und Lee. Auch
in diesem ganz im Stil der französischen Tragödie gehaltenen Drama
äußert sich die Verdrängung in ähnlicher Weise. Constans sagt: „Le
plan de Sophocle s'y trouve compliqu6 d'une foule de d^tails qui 6t-
ouffent le sujet."
Charakteristisch für D r y d e n s Inzestgefühle ist ein anderes von sei-
nen Dramen : Aureng-Zeba, dessen Inhalt ich Hettners Lit. Gesch. d.
18. Jahrh. entnehme : In die kriegsgefangene Königin Indamora verliebt
sich Aureng-Zeba, der Lieblingssohn des Kaisers. Sie erwidert die Liebe,
worauf sich der Kaiser selbst in sie verliebt; er wird eifersüchtig auf
seinen Sohn, verstößt ihn und übergibt, da er mit Indamora in stiller
Zurückgezogenheit zu leben gedenkt, die Herrschaft seinem zweiten Sohne
Morat. Aber auch der wird von der gleichen Leidenschaft ergriffen; er
mißhandelt seinen Vater und trachtet seinem Bruder als seinem gefähr-
lichsten Nebenbuhler nach dem Leben. Da zettelt seine eigene Mutter
Nurmahal, die ihren Stiefsohn Aureng-Zeba mit einer Leidenschaft liebt,
in der Racines Phädra zur Karikatur verzerrt ist, eine Verschwörung an,
um Aureng-Zeba zu retten. Es gelingt ihr und Aureng-Zeba wird Kaiser.
Morat stirbt aus Gram darüber; der Kaiser tritt Indamora an Aureng-Zeba
ab (Motiv der Brautabtretung) und Nurmahal, die sich so getäuscht sieht,
vergiftet sich. Es findet sich in diesem Drama eine Häufung der verschie-
densten, schon besprochenen typischen Motive des Inzestkomplexes, dessen
Betonung im Sinne der Geschwisterliebe aus Drydens Tragödie „Dom
Sebastian" hervorgeht (vgl. Kap. XVIH).
Bank, Das Inzestmotiv. 1(5
242 VII. Ödipus-Dramen der Weltliteratur.
Wenn wir in der Reihe der Odipus-Dichtungen aller Völker
und Zeiten Umschau halten, so vermag uns Constaus' Arbeit: La
legende d'Oedipe (Paris 1881) einen Begriff von der Beliebtheit, der
weiten Verbreitung und unerreichten Wirkung dieses einzigartigen
Stoffes zu geben.
Von selbständigen dichterischen Bearbeitungen führt Constans an
(p. 381 ff): La Motte, von dem es heißt: Les invraisemblances in-
herentes au sujet meme d'Oedipe avaieut frappe vivement La Motte. Dans
son IV. Discours sur la tragedie, a l'occassion d'Oedipe, il avait d'abord
essaye de les corriger; puis, joignant l'exemple au precepte, il avait ^crit
successivement un Oedipe en vers (172G) qui, d'apr^s Voltaire, fut
jouö quatre frois, et un Oedipe en prose, qui ne fut jamais joue.
.,La Motte, dit M. Patin, corrige ingönieusement les invraisemblances de
la fable, mais il en retire en meme temps toute terreur et toute piti^" ;
et il ajoute finement: „de son Oedipe en vers, de son Oedipe en prose,
rien n'est rest^, ni prose, ni vers" (Patin: Trag, grecs, IV, 157, 4me
edit.). n en est de meme del'Oedipe du pere Melchior Folard (Paris
1722). Aus der theatralischen Bibliothek des Herzogs de la Valliere führt
Constans vier Ödipus-Dichtungen von La T o u r n e 1 1 e an, die in Paris
(1730—31) erschienen:
Oedipe ou les trois fils de Jocaste, tragedie
Oedipe et Polybe, tragedie
Oedipe ou I'ombre de Laius, tragedie
Oedipe et toute sa famille, tragedie.
Nach Patin nennt er auch eine „Jocaste du comte le Lauragnais^
(1781), ferner eine Tragödie: Antigene (1580) in fünf Akten von
Kobert Garnier, welche die ganze so vielfach verschlungene Familien-
geschichte des Ödipus enthält. Auch der englische Dramatiker W. Whi te-
il ead (gestorben 1785) soll den ersten Akt eines „Ödipus" im Manu-
skript hinterlassen haben. Auch einen König Ödipus von Marie Josef
Chenier erwähnt Constans und bemerkt dazu: son Oedipe-Roi n'est
guere qu'une traduction libre. Eine sonderbare Ödipus-Tragödie hat auch
Hans Sachs, der 1554 eine „Klytemnestra" verfaßte, unter dem Titel
„Jokaste" (1550) geschrieben. Die Jokaste des Hans Sachs, sagt Ch o-
levius (Gesch. d. deutschen Poesie nach ihren antiken Elementen),
nennt Ovid, Boccaz und andere als ihre Quellen, aber keine alte Tragö-
die. Wenige Blätter umfassen die Vorgänge von der Geburt des Ödipus
bis zum Tode seiner Söhne Joristes und Foristes. Ödipus kommt im
selben Akt als Wickelkind vor und nach einer Minute als Feldherr der
Korinther; er erschlägt den Laios, der die Pheniker anführt, im Gefecht.
Von den mehr weniger selbständigen Ödipus-Dichtungen wenden wir
uns zu den zahllosen Übersetzungen der verschiedensten Zeiten und Völ-
ker, die gleichfalls das große Interesse für den Stoff bezeugen : A l'ötran-
ger, les tragedies imit^es directement de l'antiquitc^ ou de trag^dies fran-
Hofmannsthals „Ödipus". 243
caises sur la legende d'Oedipe sont en assez grand nombre : nous nous
contenderons d'en citer quelques-unes moins connues. En Italie, nous trou-
vons, au XVIe siecle, outre la Jocaste de Dolce et les pieces de
Ruccellaiet d'Alamanni signalees deja: d'abord une mechante imitation de
rOedipe-Roi par Anguillara (1565) . . . enfin un Oedipe par M. Nicco-
lini Ihabile traducteur d'Eschyle . . .Auch erwähnt Constans noch in
italienischer Sprache einen Oedipe-Roi, fidelment traduit par un noble
Venitien, Orsalto Giustiniano (p. 376, note 3ieme). In spanischer Sprache
nennt der „catalogue de Salva^) (n" 2021) ane traduction espagnole de
rOedipe-Roi de Sophocle en ces termes : Sofocles Edipo tirano, tragedia
traducida del griego en verso castellano, con un discorso preliminar sobre
la tragedia antigua y moderna, por Don Pedro Estala. Madrid, 1793. —
Auch eine holländische Übersetzung des König Odipus von V o n d e 1
(1587 — 1679) erwähnt Constans (vgl. Jonckbloets Gesch. d. niederl. Lit.
Leipzig 1870).
Diese Liste der Originaldichtungen, Bearbeitungen-) und Über-
setzungen der Odipusdramen ließe sich leicht vermehren; sowohl
aus dem Buche v^on Constans selbst, aus dem hier nur ein Teil der
Literatur mitgeteilt wurde, als auch aus der literarischen Produktion
nach dem Erscheinen der Arbeit Constans. Es sei aus der allerjüng-
sten Zeit nur ein Beispiel dafür angeführt, wie ein moderner Dichter
an diesen literargeschichtlich uralten, menschlich aber ewig jungen
Stoff herangeht. Ich meine Hofmannsthals Tragödie: Odipus
und die Sphinx, welche die Vorgeschichte der Sophokleischen
Tragödie dramatisch behandelt.
Bei Hofmannsthal ist schon manches bewußt geworden, was bei
früheren Dichtern noch unbewußt war, wie man auch deutlich aus
desselben Dichters „Elektra" ersehen kann, die gleichsam eine aus
dem Dunkel des Unbewußten ins Licht des Bewußtseins gertickte
Sophokleische Elektra ist. Das Ödipus-Drama Ho f m annsthals steht
am Ende einer langen Reihe von Odipus-Dichtuugeu und die Behand-
lung des Themas bewegt sich an der äußersten, der Kunst noch er-
reichbaren Grenze der Darstellung; jenseits dieser Grenze beginnt
^) A catalogue of spanish aud portuguese books with occasionel literarj and
bibliographical remarks, by Vincent Salvj'i. London 1826.
^) In ihrer individuellen Bedingtheit von hohem Interesse ist die Nach-
dichtung des Sophokleischen König-Ödipus durch Hölderlin, den unglück-
lichen Dichter, der nach langjährigem Wahnsinn (1843) starb. Hölderlin war seiner
Mutter Zeit seines Lebens in innigster Liebe zugetan (seinen Vater verlor er im
Alter von zwei Jahren, seinen Stiefvater mit neun Jahren); er widmete ihr Gedichte,
wie man sie sonst nur der Geliebten zueignet. Auch zeigt er im Leben den Typus
der Mutterliebe, indem er sich immer in Frauen anderer Männer verliebt: so in die
Mutter seiner Zöglinge in Frankfurt, Susette Gerthard, die seine „Diotima" wurde
(„Hyperion"), in der er das ideale, für ihn unerreichbare Weib liebt. Dann empfahl
ihn Schiller als Hofmeister der Frau von Kalb, in die er sich ebenfalls leidenschaft-
lich und vielleicht weniger aussichtslos verliebte. In Schillers Don Carlos soll
er geschwelgt haben (Biogr. v. Schwab). Als „Diotima" Ende Juni 1802 starb, flüch-
tete er eine Woche später ganz verstört zu seiner Mutter zurück.
16*
244 VIT. Ödipus-Dramen di'r Weltliteratur.
sehün die Psychoanalyse. So läßt Hofman nsthal den Odipus Inzest
und Vatermord nicht vom Orakel erfahren, sondern triiumen und be-
tont auch den Traum recht deutlich als typischen :
Ö d i p u s : Frag nichts ! Ich träumte
den Lebenstraum. Wie ein gepeitschtes Wasser
jagte mein Leben in mir hin, — auf einmal
erschlugen meine Hände einen Mann:
und trunken war mein Herz von Lust des Zornes.
Ich wollte sein Gesicht sehn, doch ein Tuch
verhüllte das, und weiter riß mich schon
der Traum und riß mich in ein Bette, wo
ich lag bei einem Weib, in deren Armen
mir war als wäre ich ein Gott. In meiner Wollust
hob ich mich, ihr Gesicht, die meinen Leib
umrankte, wach zu küssen — Phönix ! Phönix !
Da lag ein Tuch auf dem Gesicht, und stöhnend
von der Erinnerung an den toten Mann,
die jäh hereinschoß^ krampfte sich mein Herz
und weckte mich.
Die Verdrängung kommt in diesem Inzesttraum darin zum Aus-
druck, daß die Gesichter der Eltern verhüllt sind und nicht
erkannt werden, ein Abwehrausdruck, der uns in seiner Ur-
sprünglichkeit und Bedeutung später klar werden wird. Natürlich ist
nach diesem Traum des Ödipus das Orakel bloß zur Deutung ein-
geführt :
Ich leb und trag es ! Und nun kommts heraus :
so sprach der Gott aus dem verzerrten Munde
des glühnden Weibes : des Erschlagens Lust
hast du gebüßt am Vater, an der Mutter
UmarmensLust gebüßt, so ists geträumt
und so wird es geschehn.
Im Gegensatz zu Voltaire, der in der Ablehnung (Verdrängung)
der inzestuösen Neigung so weit geht, daß er Jokaste in der Ehe mit
Odipus von Anfang an unglücklich sein läßt, ist bei Hofmanns thal
die Liebe zwischen Mutter und Sohn für beide die erste einzige und
große Liebe ihres Lebens. Aber ein schwaches Bewußtsein von dem
eigentlichen Charakter dieser Liebe dämmert hier schon Jokasten auf,
wenn sie Odipus zuerst an ihren erschlagenen ]\Iann, dann an ihr
verloren geglaubtes Kind erinnert, in der ergreifenden Szene, wo
beide einander zum erstenmal begegnen:
Jokaste (unwillkürlich): Laios !
Das Volk: Was s&st die Frau?
Zur Psychologie der Jugenddichtnngen. 245
Jokaste: Nein, nein, ein Traum.
(indem sie in die Luft greift, dann mit beiden Händen gegen
ihr Herz fährt und jäh zusammensinkt) : Ich habe nie gelebt !
Odipus: Ich weiß, sie ist nicht tot. In meinen Armen
halt ich die Welt.
(leiser, vorgeneigt) : Um dich,
die mir kein Traum gezeigt, hab ich die Jungfraun
verschmäht in meiner Jugend Land.
Jokaste (leise, zart, alle Gewalt der geheimsten Sehnsucht in
ihren Augen) :
Knabe,
bist dus, um den ich sterben wollte, wenns mich
hinunterzog zu meinem Kind? Kein Traum
hat mir es zeigen wollen — wars, damit
dein Dastehn, dein Lebendiges, in mich
mit solchem Strahl hat stechen sollen?
Auch hier zeigt sich wieder die Wirkung der fortschreiten-
den Verdrängung an einem und demselben Stoff, an dessen fest
überliefertem Inhalt die jeweilige im Verdrängungsprozeß mitbegriffene
und ihn am intensivsten durchlebende Dichterindividualität ihren
eigentümlichen Verdrängungscharakter zur Geltung zu bringen weiß,
bis am Ende der Reihe der unbewußte dichterische Gehalt vom wissen-
schaftlichen Bewußtsein aufgelöst wird und damit der künstlerischen
Produktion ein Ziel gesetzt ist.
Zur Psychologie der Jugenddichtnngen.
Es ist begreiflich, daß ein so einzigartiger und alle Beziehungen
des Inzestkomplexes in so vollendeter Weise erschöpfender Stoff, wie
der der Ödipus-Fabel, von den Dichtern in der angedeuteten Weise
so vielfach benützt wurde, daß ferner wenige Dichter überhaupt
an die Neuschöpfung eines ähnlichen Inzeststoffes herangingen, und
daß, wo dies geschah, das Resultat entweder ein negatives oder
ein unbeabsichtigt anderes war (vgl. dazu Schillers Braut von
Messina Kap. XX). ^) Nicht so sehr also Avegen des Stoffes und
^) Schiller am 2. Oktober 1797 an Goethe : , Ich habe mich dieser Tage viel
damit beschäftigt, einen Stoff zur Tragödie aufzufinden, der von der Art des Odipus
Rex wäre und dem Dichter die nämlichen Vorteile verschaffte. Diese Vorteile
sind unermeßlich, wenn ich auch nur des einzigen erwähne, daß man die zusammen-
gesetzteste Handlung, welche der tragischen Form ganz widerstrebt, dabei zum
Grande legen kann, indem diese Handlung ja schon geschehen ist, und mithin ganz
jenseits der Tragödie fällt. Dazu kommt, daß das Geschehene, als unabänderlich,
seiner Natur nach viel fürchterlicher ist, und die Furcht daß etwas geschehen
seyn möchte, das Gemüth ganz anders affiziert, als die Furcht, daß etwas geschehen
möchte. Der Odipus ist gleichsam nur eine tragische Analysis. Alles ist schon da,
246 VII. Odipus-Dnuncii der Woltliteratnr.
des Interesses an der Person seines Schöpfers, sondern vielmehr
wefj^en eines all«2^emcinen und ]irinzi]>ie]len Gesichtspunktes sei hier
von dem Versuch eines Dichters lie.riclitet, den Inzestkom})lex in
seinem ganzen Unifting, analoo^ der Odipus-Sage, in einem anderen
Milieu und an einem neuen Stoff zur Darstellung zu bringen. Es ist
Lessings „Versuch eines Trauerspiels", den er mit 19 Jahren (1748)
unternahm: Giangir, oder der verschmähte Thron.') Das
Stück, das einen Inzeststoff behandelt, ist das erste unter allen selb-
ständigen Entwürfen Lessings in dieser Art des Dramas. Lessings
Entwurf ist im Wettstreit mit seinem Jugendfreund Chr. Weiße
entstanden. Lessings Quelle ist noch nicht sicher ermittelt; doch
weicht seine Darstellung sowohl von der Weißes als auch von der
historischen darin ab, daß er den ges])onneuen Betrug aus dem Gebiet
der Politik aufs sexuelle Gebiet hinüberspielt, eine Verschiebung, die
uns nicht mehr neu ist. Damit steht auch in Zusammenhang die
stärkere Betonung dos inzestuösen Charakters bei Lessing. Denn
während in Weißes Quelle die Favoritin Roxalane ihren Stiefsohn
]\Iustapha haßt, weil sie ihre eigenen Söhne begünstigt, und ihn
fälschlich der politischen Verschwörung gegen seinen eigenen Vater,
den Sultan Soliman, verdächtigt, spielt in Lessings Entwurf die
Liebe Mustaphas zur Frau seines Vaters hinein :
Soliman. Ein graus Gefängnis liält Mustaphan schon umschlossen.
Der Frevler — der ! auf mich ? — auf mich den Uolcli zu tragen ?
Der Frevler — Mein Gemahl — die Schandtat ist zu groß.
Miistapha, hättst du mich auch hundertmal erwürgt —
Mustapha, sterbende hätt ich dir nocli vergeben.
Doch mein Gemahl — ducli dich —
K o X a 1 a n a. Verzehrend Angedenken !
Mit heiterm Angesicht, und ohne rote Scham,
Trug er mir Schandtat an, die, war der Himmel nicht
Zur Nachsicht zu geneigt, ihm wäre unzcrschmetter t
Auf seine Lippen nicht, nicht in den Sinn gekommen.
und es wird nur herausf^ewickelt. Das kann in der einfachsten Handlung- und in
einem sehr kleinen Zeitniomi-nt geschehen, wenn die Begebenheiten anch noch so
kompliziert und von Umständen abhängig waren. Wie bcgünstif^t das nicht den
Poeten. Aber ich fürchte, der Odipns i^t seine eigene Gattung und es gibt keine
zweite Species davon : am allerwenig.sten würde man ans weniger fabelhaften Zeiten
ein Gegenstück dazu auffinden können. Das Orakel hat einen Anteil an der Tragödie,
der schlechterdings durch nichts anderes zu ersetzen ist; und wollte man das Wesent-
liche der l'abel seihst, bei veränderten Personen und Zeiten beibehalten, so würde
lächerlich werden, was jetzt furciitbar ist." (Über Schillers Erfolg sein'T Be-
mühung um einen ähnlichen Stoff vgl. man im II. Abschn. die Ausführungen über
die „Braut von Messiua").
') Vgl. Lessings Werke, Ausgabe Hempel XI/2, wo man auch literarhisto-
rische Hinweise findet, ebenso wie in Boxbergers Einleitung zur Ausgabe von
Leasings dramat Nachlaß in Kürschner deutscher National Lit.
Lessings Jugendentwiirfe. 247
Bevor Soliman beschließt, den Sohn für diese Schandtaten töten zu
lassen, bespricht er sich mit Temir, seinem treuen Vasallen und Erzieher
Mustaphas, der seinen Zögling besser zu kennen glaubt :
Die Väter malt ich ihm als Götter auf der Welt,
Durch die der Götter Gott die rasche Jugend zwingt;
Ihr Segen und ihr Fluch sei Gottes Fluch und Segen ;
Wer sie mit Ernst verehrt, der habe Gott verehrt.
Der Ehen heilig Band, durch das die Welt besteht.
Der Keuschheit streng Gesetz; den Ekel der Natur,
Des Vaters Nebenbuhl, der Mutter Mann zu werden,
Dies alles drückt ich ihm jung in sein wächsern Herze.
Auch Lessing faßt also, wie Schiller, die zum Stiefmutter-Thema
abgeschwächte erotische Neigung zur Mutter, ganz so auf, als handelte
es sich um einen wirklichen Inzest. Wir sehen hier eine der Wurzeln
von Lessings dichterischem Schaffen bloßgelegt, die sich in seiner
Pubertätsdichtung noch deutlich offenbart aber nie zu voller Ent-
faltung gelangte, wie etwa bei Shakespeare oder Schiller, sondern
gleichsam nur Ableger trieb, indem die Affekte dieses Inzestkomplexes
dann die Triebkräfte für Dichtungen abgaben, in denen erst eine Analyse
diese Kräfte als wirksam nachweisen kann (vgl. im II. Abschnitt
Kap. XVII den Hinweis auf: Nathan der Weise). Leichter
gelingt das, wie wir ja wissen, in den Entwürfen und Fragmenten
und wie L e s s i n g im Giangir-Entwurf beide Seiten des Inzestkom-
plexes offen behandelt, so enthält ein anderes Fragment: das Horo-
skop den Vaterhaß in seiner ganzen Intensität und mit der ent •
sprechenden Abwehr.^) Über Quelle und Entstehungsgeschichte dieses
interessanten Entwurfs war lange nicht-* bekannt (Hempel XI/2, S. 746).
Schmidt schreibt in der zweiten Auf läge seiner L e s s i n g-Biographie
(Berlin 1899): Auf der Suche nach einem dem König Ödipus
gemäßen, verpflanzungsfähigen Stoff zog L es sing die vierte De-
clamatio major Fseudo-Quiutilians hervor. Auch soll er im Oktober
1758 das Stück des dritten Preiswerbers, Breit haupts, „Renegaten",
gelesen haben, worin Zapor seinen Vater unerkannt tötet. Im Horo-
skop spielt, wie schon der Titel sagt, das unausweichliche Schicksal,
wie es die Alten auffaßten, die größte Rolle.
Peter Opalinski, Palatin von Poflolien, hat einen Sohn lAikas, dem
der Astrolog aus dem Horoskop prophezeit, er werde sich um sein
Vaterland verdient machen, dann aber am Vater zum Mörder werden :
hoc temporis memento natus vir fortis futurus est, deinde parricida.^) Seine
^) Wie Schiller und Hebbel hatte auch Lessing schwere Jugendkämpfe
mit seinem harten, gefürchteten Vater zu bestehen (vgl. die Biographie seines Bruders
Karl, Keclam Nr. 2408/09 und Schmidts groß angelegte Lebensgeschichte des Dichters).
^) Der gleiche Stoff mit besonderer Betonung der Bestrafungstendenz am Soline
ist behandelt in Calderons: Das Leben ein Traum (Reclam Nr. 65). Die Auf-
opferung des Sohnes wie in Lessings „Philotas" in desselben Dichters Drama: Der
standhafte Prinz (Reclam Nr. 1182).
248 VII. ( )dipus-üramen der Weltliteratur.
Mutter Arete verrHt ilini den ganzen Inhalt der Prophezeiung, um ihn zur
\'crui)ihluiie: mit Anna Massalska, einer von Peter erheuteten und von ilim
auch treliebten Gefanj^enen zu bewegen. Aus Verzweiflung über das pro-
phezeite Schicksal will sich Lukas (III, 4) erschießen, aber der Schuß
trifft seinen Vater, der herzugeeilt war, um den Selbstmord des
Sohnes zu verhindern. Angesichts des sterbenden Vaters rät Arete ihrem
Sohn wieder von der Verbindung mit Anna ab, da man sonst argwöhnen
würde, er habe seinen Vater als Nebenbuhler um di(^ Gunst
Annas vorsätzlich aus dem Wege geräumt. Darauf beschließt
Lukas neuerdings sich zu töten. Als aber der Vater stirbt und Anna
entflieht, fällt Lukas beim Versuch, sie wieder zurückzuerobern, in
sein Schwert und stirbt.
In dem dreifachen Selbstmordversuch des Sohnes, sowie in der
durch Orakel und Zufall gerechtfertigten Tötung des Vaters äußert
sich ein stark verdrängter und durch Selbstbestrafungstendenzen ge-
sühnter Haß gegen den Vater, der intensive Selbstbestrafungswünsche des
Sohnes zur Folge hat, wie sie auch das kleine Trauerspiel Philotas
deutlich verrät. Statt der Liebe zur Mutter ist die gemeinsame Nei-
gung zu einem Mädchen als Ersatz eingeschoben, die vom Vater und
vom Sohn gleichzeitig begehrt wird. Ahnlich wie im „Horoskop" sollte
auch in einem anderen unausgeführten Entwurf Lessings, im
„Kleonnis", die Weissagung des Bruder- und Sohnesmordes eine
Rolle spielen (Schmidt a. a. 0., S. 758) und es ist nach den erhal-
tenen Andeutungen Lessings wahrscheinlich, daß Euphaes seinen
Sohn Kleonnis unerkannt töten sollte (Hempel XI/2, S. 668).
Außer in diesen unausgeführten Entwürfen Lessings kommen
jedoch seine Inze^tgefühle in seinem dichterischen Schaffen nicht
offen zur Geltung. Aber an dieser uns schon bekannten Art der
Äußerung verdient ein typischer Charakter noch besonders hervor-
gehoben zu werden: daß nämlich die dichterische Beschäftigung mit
dem Inzestproblem meist in die Jugendzeit der Dichter fällt und daß
die meisten Inzestdramen Erstlingswerke der jugendlichen
Dichter sind. Als Beispiele seien neben Lessings Giangir ge-
nannt: Lohensteins Agrippina, Voltaires Oedipe, Julius Cäsars
Odipus, Otways Carlos, Brawes Brutus u. v. a., die zum Teil erst
später besprochen werden sollen: wie Schillers Räuber, Grill-
parzcrs Ahnfrau, Tiecks Berneck u. a. m. Als besonders instruk-
tives Beispiel für die mächtige inzestuöse Speisung der dichterischen
Phantasie, aber auch für diu spätere Ablösung und Verwandlung dieser
Regungen sei kurz auf zwei Pubertätsdichtungen Hebbels hingewiesen,
die das sonst bei diesem Dichter tief verborgene Inzestthema noch
unverhüllt verraten.') Hebbels erster dramatischer Versuch, den er
') „Im Grunde ist jedes Erstlinpßwerk monologisch, für einen und von einem
hingeflüstert oder gejauclizt. Krst später lernt man, selbst wider besseren Willen, auf
die erwidernden Btimmen horchen und sie beachten." „Der Gewaltsamkeit, mit der sich
(die erste Befreiung) vollzieht, läßt sich nichts mehr im Leben des öchatfenden vor-
Hebbels Jugenddichtungen, 249
im Alter von 19 Jahren noch im Elternhaus in Wesselburen unter-
nahm, führt den Titel : „Der Vater mord". Fernando will sich seiner
Spielschulden wegen erschießen, als ihm Graf Arendel in den Arm
fällt und ihn rettet. Er hält ihn aber in seiner Sinnes Verwirrung
für den Teufel und schießt ihn nieder. Da erscheint seine durch sein
Fernbleiben besorgte Mutter Isabella und enthüllt ihm, daß der Ge-
tötete sein Vater sei.
Fernando: „Es ist ja nicht mein Vater, es ist ja mein Henker, der
mich im Mutterleibe gebrandmarkt hat, ehe denn ich geworden war —
es ist ja nicht mein Vater, es ist der Verführer meiner
Mutter—"
Wir finden hier wieder die typische infantile Vorstellung vom
Vater als dem ruchlosen Verführer (vgl. Ibsen) und der Mutter als der
Geschändeten (Dirnenphantasie), woraus die auf Tötung des Vaters ab-
zielende ßettungsphantasie folgt. Die Verdrängung des Vaterhasses
bewirkt aber hier nicht nur die Abschwächung des Vatermordes zum
unbewußten Totschlag — wie bei d i p u s — sondern auch die fast ans
Neurotische grenzende Abwehr, die SelbstvorwUrfe und schließliche
Selbsttötung. Die Rechtfertigung des Sohnes liegt, wie so häufig, darin,
daß er den Grafen nicht als Vater und Nebenbuhler mordet, sondern
als Verführer der Mutter straft. Auch die Liebe der Mutter zum
Sohn ist angedeutet; in der ersten Szene sagt die Mutter in einem
Monolog :
„Ach mein Sohn, mein Sohn, warum tust du mir das! Mir, die ich
dich unter meinem Herzen getragen. Warum fliehst du deine Mutter,
du Ebenbild deines treulosen, aber noch feurig geliebten
Vaters, du einziger Trost in meinem Kummer."
Die Mutter nimmt zwar hier den Sohn als Ersatz für den Gatten,
sie identifiziert die beiden („Ebenbild"), aber die Abwehr der Neigung
zur Mutter äußert sich bei Hebbel darin, daß die Mutter seinen ge-
haßten Nebenbuhler, den Vater, ihm vorzieht:
Isabella (stinzt sich auf den Leichnam, verzweifelnd zu Fer-
nando) : Mensch — Sohn — Fernando, ich bitte dich, beschwöre dich,
gib mir wieder, den ich so herzlich geliebt.
Fernando: Mutter, du vergibst ihm? — Mutter, ich werde
zum Vatermörder, wenn du ihm vergibst - Mutter, Mutter,
fluch ihm, fluch ihm nur einmal — Mutter — laß mich nur njcht
hören, daß du ihm vergibst. (Er sieht Isabella ängstlich au; sie
umschlingt Arendels Leichnam.) Mutter — o Mutter — leb
wohl, du siehst mich nicht wieder. (Er reißt die Pistole aus dem
Gürtel und stürzt von der Szene. Gleich darauf fällt ein Schuß; Isabella
scheint wie aus einem Traum zu erwachen, dann fährt sie auf:)
Gott! Mein Sohn, mein Sohn — (Sie stürzt ab).
gleichen. Hier, wenn er ursprünglich veranlagt ist, schweigen alle Rücksichten. Alle
Erwägungen des Verstandes verstummen, denen bnld, ordnend und übergreifend, eine
nur zu große Rolle zugewiesen wird" (J. J. David: Vom Schaffen).
2ÖU Vll. Üdipiis-DraiiK'n der Weltliteratur.
Der Selbstmord des Sohnos erfolf^t also nicht so sehr aus Reue
über den Vatcrinord wie aus Kränkunof über die von der IMuttor ver-
schmähte Liebi', der er es nie vergeben kann, daß sie den Vater
vorgfezos^cn hat. Der darauffolgende Selbstmord der Mutter symbo-
lisiert die endliche Vereinigung mit dem Sohn (und Gatten). Die
Übertragung dieser aus dem Elternkomplex stammenden eifersüchtigen
Phantasien und Impulse zeigt die ein Jahr vorher entstandene Er
Zählung : „Der B r u d e r m o r d", wo Eduard unerkannt seinen Bruder
erschießt, der ihre gemeinsame Geliebte (die Mutter) entführt hatte
Auch hier wieder die reuige Selbstbestrafung des Älörders und die
Vereinigung der Liebenden im Tode.
Bemerkenswert ist, daß alle diese inzestuösen Leidenschaften in
Hebbels späteren Dichtungen nicht mehr deutlich zu Tage treten. Er
löste sich bald vom Vaterhaus und seiner Familie äußerlich los und
überwand diese jugendlichen Kegungen. Handgreiflich aber ist bei
ihm. daß die ersten Regungen seines Dichtertriebes aus der Abwehr
der inzestuösen Leidenschaften ihre Triebkraft bezogen, und daß diese
kindlichen Affekte auch das dichterische Feuer seiner späteren Pro-
duktionen schürten. Den Beweis dafür liefern die gleichsam als
Tummelplatz des Unbewußten anzusehenden Tagebücher Hebbels, die
auch noch in späterer Zeit über seine früheren Familienverhältnisse
im Sinne des Ödipus-Komplexes berichten. So schreibt er am 22. No-
vember 1838: „Wie war nicht meine Kindheit finster und öde!
Mein Vater haßte mich eigentlich, auch ich konnte ihn
nicht lieben." Dieser unzweifelhaften Bestätigung seines Vater-
hasses fügt sich der typische Traum vom Tod des Vaters
an, den Hebbel am 12. November 1838 im Tagebuch verzeichnet:
j,Ich kann den Gedanken nicht los werden, daß ich bald sterben
werde. Im Traum sah ich über Nacht meinen längst ver-
storbenen Vater, den ich fast noch nie im Traum sah." Daß der
Vater zur Zeit des Traumes schon tot war, ändert nichts an der ob-
ligaten Deutung dieses typischen Traumes als Erfüllung des in-
fantilen Todeswunsches gegen den Vater; fanden wir ja schon
früher, daß die tief wurzelnden infantilen Liebe- und Haßregungen
trotz des Todes der geliebten oder gehaßten Person in voller Macht
wirksam bleiben. Ja, die Bemerkung Hebbels, daß er seinen Vater
fast noch nie im Traum sah, läßt vermuten, daß die mächtigen Ab-
wehrregungen gegen den Todeswunsch des Vaters seine Realisierung
im Traum bei Lebzeiten des Vaters nicht zuließen. Der Eingangs-
gedanke des Träumers, er werde bald sterben, ist natürlich nur ein
Ausdruck der Abwehr (Selbstbestrafung) gegen den ehemals auf das
Leben des Vaters gerichteten bösen Wunsch. Wie sich dieser typische
Traum, der den toten Vater zeigt, im poetischen Schaffen äußert, er-
sieht man aus Hebbels Gedicht: Geburtsnachttraum, das am
22. März 1835 in Hamburg entstand; er erzählt darin, er habe im
Traum alle seine Ahnen cresehen:
Hebbels Entwürfe. 251
Mein Vater führte stumm den Zug,
Er lächelte hinüber,
Dann aber Avandte er sich ab,
Ihm ward das Auge trüber.
Auch die Furcht, die er als Kind vor dem Vater hatte, verläßt
ihn später nicht wieder. Zu Ende des Jahres 1834 trägt er ein: „Ich
träumte mich neulich ganz und gar in meine ängstliche Kindheit
zurück, es war nichts zu essen da, und ich zitterte vor meinem
Vater wie einst."
Interessant ist ein Ausdruck der Abwehr seines Vaterhasses, der
wie ein Zwangsvorwurf ^) anmutet (Tagebuch 3. Dezember 1836):
„Als mein Vater am Sonnabend, abends um 6 Uhr, den 11. No-
vember 1827, nachdem ich ihn am Freitag zuvor noch ge-
ärgert hatte, im Sterben lag, da flehte ich krampfhaft : nur noch acht
Tage, Gott ; es Avar, wie ein plötzliches Erfassen der unendlichen Kräfte,
ich kanns nur mit dem konvulsivischen Ergreifen
eines Menschen am Arm, der in irgend einem ungeheuren Fall
Hilfe oder Rettung bringen kann, vergleichen. Mein Vater
erholte sich sogleich; am nächstfolgenden Sonnabend,
abends um 6 Uhr, starb er!"
Dieser mächtige Abwehraffekt ist so zu erklären, daß Hebbel,
als er am Tage zuvor mit seinem Vater in Streit geraten war, ihm
— wie das ja Kinder fast regelmäßig machen und wie es Hebbel
wahrscheinlich auch schon früher tat — wohl im stillen den Tod gewünscht
haben wird. Die Verschlimmerung des Zustandes am nächsten Tag
mußte er dann wie eine Erfüllung seines bösen Wunsches empfinden;
denselben Glauben an die „Allmacht der Gedanken" (Freud) werden
Avir in der Zwangsneurose von Grill parzers Bruder und bei Ibsens
„Baumeister Solneß" finden. Diesen häßlichen Gedanken sucht er ab-
zuwehren, den Wunsch durch das Gebet unschädlich zu machen ; wir
werden hier nebenbei auf eine psychologische Wurzel des Gebetes
aufmerksam. Der Wunsch, Gott möge dem Vater noch acht Tage
Leben gewähren, dient nur zur Beruhigung seines Gewissen; er will
sich frei von dem VorAvurf fühlen, den Tod des Vaters durch seinen
Wunsch unmittelbar verschuldet zu haben : der heftige AbAvehrversuch
dieses Vorwurfes deutet aber auf den ursprünglich bestehenden Todes-
Avunsch hin.
Zahlreiche Gedanken, die Hebbel zur gelegentlichen Aus-
arbeitung ins Tagebuch eintrug, handeln vom Haß gegen den Vater:
„Ein s chAvächlicli er Hohn, der seinen Vater zum Duell
fordert, Aveil er A'or der Ehe zu viel von seinem, des Sohnes Eigentum
vergeudet hat, d. h. weil er die Säfte, aus denen der Sohn werden sollte,
verschwendet hat, ehe er ihn zeugte." Diesen Vorwurf, der bei Neu-
*) öeither hat Dr. J. S a d g^ e r auf Grund eingehender biographischer Studien
bei Hebbel zwangsneurotische Züge vermutet.
252 \' 1 1 . ' )dipus-Dramen der VVoltlitoratur.
rotikern uichts Seltenes ist und meist dem auf den Besitz der Mutter ge-
richteten 8exualneid entspringt, finden wir in krasser Ausprägung in
Ibsens Gespenstern. Ahnlich sagt Graf Bertram in Hebbels Julia
(Akt I, 6) zu sich selbst: „Nie darfst du ein Mädchen zum Weibe machen,
dein eigener Sohn würde dich dereinst dafür auf Pistolen fordern ! " Dann
heißt es wieder im Tagebuch: „Ein Sohn, der seinen Vater nur
dadurch, daß er ihn tötet, von einem furchtbaren Verbrechen abhalten
kann. "
Aher keiner dieser Stoffe kam zur Ausführung. lu welcher
Furiu Hebbel die Wahl eines solchen Stoffes abwehrte, zeigt eine
andere Eintragung (16. März 1858). Er schreibt zuerst die Stelle
aus der Ilias ab, wo Phönix von seiner Liebe zur Frau seines Vaters
(Stiefmutter) und vom Haß des Vaters erzählt (II. 9, 448 bis 461).
Dann fügt er hinzu: „Es wäre etwas für IMons. Alexander Dumas."
Hebbels inzestuöse Neigungen äußern sich auch in dem Interesse,
das er derartigen Krirainalfällen entgegenbrachte; am 31. August
1836 trägt er ein :
„Heute bei Professor Mittermaier in der Zurechnung: eine Frau
bildet sich ein, sie solle wegen Hexerei verbrannt werden; eine Mutter
sucht ihren blödsinnigen Sohn zur Ermordung des Stief-
vaters zu bewegen; er antwortet: die Ewigkeit ist eine lange Zeit;
sie sagt: mir bist du die erste Pflicht schuldig; sie bearbeitet ihn
ein volles Jahr; endlich, als der Vater schläft, kommt sie mit zwei
Hämmern herein und sagt: jetzt kommts darauf an, ob du mich verlassen
willst oder nicht; sie dringt ihm den einen Hammer auf, dann führt sie
mit dem zweiten den ersten Schlag." Diese Aufreizung der Mutter zur
Beseitigung des Vaters erinnert an die gleiche Motivgestaltung in der
Ballade von Edward (vgl. Kap. X).
Aber auch die vom Vaterkomplex verschobene Eivalität der
beiden Brüder um die Gunst der Mutter ist als treibendes Motiv
einer Inzesttragödie nachzuweisen, die infolge der mächtigen inneren
Widerstände unausgeführt blieb; es heißt im Tagebuch (19. De-
zember 1836):
„Timoleon, der göttlich Liebende, nach dem er seinen
Bruder Timophanes, der ein blutdürstiger, unerbittlicher Tyrann ge-
worden, mit unsäglichem Schmerz (Abwehr!), den der erhabenste Mut
überwand, dem Vaterlande aufgeopfert, versank bald in die tiefste
Schwermut (Reaktion) und wollte durch Entziehung der Speise sich selbst
das Leben nehmen (Selbstbestrafung), weil ihn die Lästerungen vieler
seiner Mitbürger und der Zorn seiner Mutter (Abwehr der Mutter-
liebe, der Wurzel des Brudermordes) in seinem Gewissen irre gemacht
und mit sich selbst entzweit hatten ( Jaco])is Woldemar; aus dem
Plutarch)." Am Rand schrieb Hebbel dazu: „Für eine Tragödie".
Den Kampf der Brüder um dasselbe Weib findet man auch in
der .Idee zu seiner Tragödie", die Hei) bei zu Beginn des Jahres 1845
aufzeichnet: -Ein wunderschönes Mädchen, noch unbekannt mit
Hebbels Ödipus-Komplex. 253
der Gewalt ihrer Reize, tritt ins Leben ein aus klösterlicher Abgeschieden-
heit. Alles schart sich um sie zusammen, Brüder entzweien sich
auf Tod und Leben, Freundschaftsbande zerreißen, ihre eigenen
Freundinnen, neidisch oder durch Untreue ihrer Anbeter verletzt, verlassen
sie. Sie liebt einen, dessen Bruder seinem Leben nachzu-
stellen anfängt, da schaudert sie vor sich selbst und tritt ins Kloster
zurück."
Wie dieses Inzestmotiv dann in abgeschwächter Form noch im
dichterischen Schaffen nachwirkte, zeigt eine Stelle aus „Agnes
Bernauer", wo der Sohn sich fast zum Vatermord hinreißen läßt.
Agnes sagt (III, 12): „. . . . wenns nur zwischen dir und
deinem Vater Friede bleibt. Wie fürchterlich wars mir früher
schon immer, wenn sich Freunde und Brüder meinetwegen
entzweiten . . .'' Wie sich für das Dichtungsmotiv des Vatermordes
aus Hebbels eigenen Worten (im Tagebuch) der infantile Vaterhaß
im Leben nachweisen ließ, so auch für den „Brudermord" die eifer-
süchtige infantile Rivalität, indem Hebbel, der tatsächlich von der
Mutter bevorzugt wurde ^), doch die Phantasie hegt, sein Bruder Johann
wäre der bevorzugte, Avas wir leicht als Rechtfertigung seines eigenen,
der Eifersucht auf die Mutter entspringenden, Bruderhasses erkennen.
Diese inzestuöse Eifersucht auf den Bruder äußert sich außer in den
angeführten Dichtungsstoffen noch deutlich in einem Traum, den der
Dichteram 29. März 1837 im Tagebuch notiert : „Über Nacht träumte
mir, meine Mutter und Johann wären nach München gekommen. "
Daß der Traum nicht allein seinem manifesten Inhalt nach gelesen
werden darf, ist klar und eine seiner unbewußten Tendenzen scheint
zu sein, das durch die Abwesenheit vom Hause ungestörte Bei-
sammensein der Mutter mit dem gehaßten Konkurrenten durch seine
Anwesenheit zu stören (im Traum kommen umgekehrt Mutter und
Bruder zu ihm, um ihn in seiner großstädtischen und weltmännischen
Herrlichkeit, auf die Hebbel immer sehr stolz war, zu bewundern).
Das während des ganzen Lebens gespannte Verhältnis der Brüder
offenbart sich auch in ihren materiellen Reibereien. Am 7. Januar 1842
schreibt der Dichter ins Tagebuch: „Wieder ein Bettelbrief von meinem
Bruder . . . dieser Mensch will immer Geld haben, zwischen ihm und
mir besteht kein anderes Verhältnis, als daß er Geld haben will!"
Aber auch Johanns durch übertriebene, vom Dichter durchschaute
Freundlichkeit schlecht verdeckte Abneigung gegen den wie früher
von der Mutter so später vom Schicksal begünstigten Bruder läßt sich
aus einer Tagebuchnotiz des Dichters erkennen (14. Februar 1842):
„Heute meldet mir mein Bruder den Empfang der Judith. Sein
Brief ist grob und impertinent, aber er macht auf mich einen
besseren Eindruck, wie der letzte, der so übertrieben süß war.
') „Ich war ihr Liebling', mein zwei Jahre jüngerer Bruder der Liebling
meines Vaters" (Meine Kindheit 1846 bis 1854).
254 VII. ( ){iipns-Dranien der Weltliteratur.
Dies ist Wahrheit, und vielleicht h a h ich ihm etwas zu derb
geschrieben. Daß er es uicht so einsteckt, •:;cf!illt mir."
Dieser jäho Wechsel im Ausdruck der Gesinnungeu Juhauns
gegen seinen Bruder ist als Ausdruck des Neides menschlich zu be-
o^reifen, wenn er auch dem Dichter selbst zur Rechtfertigung seiner
eigenen Abneigung erwünscht gewesen sein mag. Daß diese vom Vater
auf den Bruder übertragene und gegen diesen zeitlebens festgehaltene
iniantile Ilaßeinstellung aus der Liebesneigung zur Mutter stammt,
mag schließlich noch eine den ursprUngKchen Ödipus-Komplex rein
widerspiegelnde Tagebuchnotiz zeigen, die der Dichter nach der Nach-
richt vom Tode der Älutter niederschrieb (18. September 1838):
„Sie war eine gute Frau, deren Gutes und minder Gutes mir in
meine eigene Natur versponnen erscheint. — — — — ■ — Obwohl sie
mich niemals verstanden hat und bei ihrer Geistes- und Erfahrungsstufe
verstehen konnte, so muß sie doch immer eine Ahnung meines innersten
Wesens gehabt haben, denn sie war es, die mich fort und fort
gegen die Anfeindungen meines Vaters, der (von seinem Ge-
sichtspunkte aus mit Kecht) in mir stets ein mißratenes, unbrauchbares,
wohl gar böswilliges Geschöpf erblickte, mit Eifer in Schutz nahm
und lieber über sich selbst etwas hartes, woran es wahrlich
im eigentlichsten Sinne des Wortes nicht fehlte, ergehen ließ, als
daß sie mich preisgegeben hätte.'*
Die Wunscherfüllungsphantasie aber zu allen verdrängten Inzest-
regungen Hebbels ist sein Ausspruch : ,,Bei den ersten Menschen
gab es keine Blutschande" (Tgb. 21. September 1846). Er
verrät darin, ähnlich wie Byron in seinem „Kain" (vgl. II. Abschn.
Kap. XVIU), seine Sehnsucht nach diesem infantilen Urzustand.
Es spricht nicht nur für die noch voll lodernde Intensität der
Inzestgefühle, wenn die jungen Dichter sich von Inzeststoffen ange-
zogen fühlen, sondern auch dafür, daß die dichterische Produktions-
kraft nicht zum geringsten aus den Affekten dieses Komplexes gespeist
wird, wenn sie sich auch mit der menschlichen und künstlerischen
Reife anderer Themen bemächtigt. Ihre offenkundige Verwertung
auch als dichterisches Thema läßt sich gerade beim Jüngling sehr
gut verstehen, wenn man sie mit den Umwälzungen der Pubertät,
ihrer Forderung der Ablösung von den Eltern und den Folgen
derselben bei intensiver früherer Fixierung, in Zusammenhang zu
bringen weiß. Denn es werden bei stärkerer Triebanlage die in-
zestuösen Neigungen nicht, wie es die Pubertätumwälzungen des Normalen
init sich bringen, von den Eltern abgelöst und einer Neuanpassung
( Übertragung) an andere Personen fähig, sondern sie bleiben an die
Eltern fixiert, werden aber unter dem Ansturm der Pubertät zur Ver-
drängung genötigt und bleiben so aus dem Unbewußten heraus weiter
wirksam, indem sie sich in unbewußten Phantasien äußern, deren
Affektbeträge die Triebkraft für die bewußte künstlerische Gestaltung
ästhetische Vf*rlu.st) abgeben, und so zu einer gleichsam antoerdtischcn
Durchbruch des Dichterdranges im Inzestkomplex. 255
Befriedigung führen; cl. h. der Dichter macht alles gleichsam in sich,
während der Normale sein Trieb- und Gefühlsleben auf die Außenwelt
einstellt und es mit ihr in Einklang zu bringen sucht. Dieser auto-
erotische Charakter bringt aber den Dichter wieder dem Neurotiker
nahe, der gewöhnlich auch in der Pubertät an der Bewältigung des
Elternkomplexes scheitert und statt in die reale I^iebeseinstellang
immer tiefer in die infantile Regression gerät, die wohl der Dichter
auch ein iStück weit mitmacht, um dann doch durch die soziale An-
passung und Ausgestaltung seiner Phantasien den \Yeg in die Realität
zurückzufinden. (Vgl. Freud: Über Psychoanalyse S. 55/56.) — Die
Bevorzugung des Inzestthemas in der Jugend der Dichter, die
später ihre iufantüen Affekte als künstlerisches Interesse auch auf
andere Stoffe auszudehnen im stände sind, erscheint in diesem Zusam-
menhang wie die ontogenetische Wiederholung der auch in der phylo-
genetischen Ent\^'icklung• ursprünglich intensiv betonten und relativ
unverhüllten Inzestneigungen, die auf dem Wege der säkularen Ver-
drängung, die eben in den schöpferischen und produktiven Menschen
infolge ihrer mächtigeren (atavistischen) Triebanlagen ihre Träger
findet, genau so der Verhüllung, Verschiebung (Übertragung) und
Sublimierung unterliegen, wie im einzelnen dichterisch begabten Indi-
viduum im Verlaufe seiner menschlichen und künstlerischen Reifung.
VIII.
Zur Deutung der Odipus-Sage.
pWeh, was ist ein Mensch !
Wer über diesem brütet stirbt."
ödip u s.
Freud ist bei seiner Deutung der Odipus-Sage von ihrer innigen
Beziehung zu den beiden typischen Träumen vom Tode des Vaters
und vom geschlechtlichen Verkehr mit der Mutter ausgegangen, die
er in der „Traumdeutung" als Wiederbelebung längst verdrängter
infantiler Wünsche aufgedeckt hat. Wenn wir dieser psychologisch
tief berechtigten Parallelisierung von Traum und Mythos ^) weiter nach-
gehen wollen, so fällt uns vor allem ein wesentlicher Unterschied
zwischen der mythischen und der traumhaften Gestaltung derselben
unbewußten Kindheitswünsche auf. Während nämlich die beiden
Traumbilder, von denen Freuds bedeutsame Einsicht ausgegangen
war, die betreffenden Personen unverhüllt zeigten, ist die Durchsetzung
der Wunscherfüllung im vorliegenden Mythus nur durch die Unkennt-
lichmachung der Eltern möglich, die wir als das Werk der psychischen
Zensur, einer Verdrängungs- und Abwehrtendenz, erkennen. In der
unverhüllten Darstellung der unbewußten Traumo^edanken bilden aber
diese beiden typischen Träume eine besondere und höchst bemerkens-
werte Ausnahme, die ihnen, abweichend von allen anderen Träumen,
zukommt. Einer ihrer besonderen Charaktere ist eben der von Freud
hervorgehobene, der eigentlich eine Deutung dieser Trilume im ge-
wöhnlichen Sinne überflüssig macht: nämlich die auffiillige Tatsache,
daß die Eltern in diesen Träumen deutlich als solche erkannt Averden,
während in allen anderen Träumen entweder die der Verdrängung
verfallenen Wünsche oder aber die Personen, auf die sie sich beziehen,
erst die entstellende und verhüllende Zensur passieren müssen.^) Diese
'J Vgl. die gleichnamige Arbeit Abrahams in den „Schriften z. angewandten
Scelenkunde" Heft 4 (1909) sowie meine mythologischen Arbeiten ebenda.
^) In »einer Ödipas-Dichtung hat Hofraannsthal den beiden typischen Inzest-
träumen diesen allgemeinen Verdrängungscharakter verliehen, indem Odipus seine
Kitern im Traume nicht erkennt, wie er sie ja auch im Mythus nicht erkennt. —
Die vcrkapi)ten Inzesttränme, von denen einige im Zentr.ilblatt f. Psa (I, S 44,
Besonderheiten der Ödipus-Träume. 257
Begünstigung und psychische Ausnahmsstellung, die diese beiden typi-
schen Träume genießen, findet Freud in zwei Momenten. Vom To-
destraum des Vaters sagt er: „Erstens gibt es keinen Wunsch, von
dem wir uns ferner glauben; wir meinen, das zu wünschen, könnte
,uns auch im Traume nicht einfallen', und darum ist die Traumzensur
gegen dieses Ungeheuerliche nicht gerüstet, ähnlich wie etwa die Ge-
setzgebung Solons keine »Strafe für den Vatermord aufzustellen wußte. ^)
Zweitens aber kommt dem verdrängten und nicht geahnten Wunsche
gerade hier besonders häufig ein Tagesrest entgegen in Gestalt einer
Sorge um das Leben der teuern Person. Diese Sorge kann sich
nicht anders in den Traum eintragen, als indem sie sich des gleich-
lautenden Wunsches bedient ; der Wunsch aber kann sich mit der am
Tage rege gewordenen Sorge maskieren" (Traumdeutung 2. Aufl.
S. 188). Nur zu oft ist aber diese Sorge, wie auch hier im Sinne
Freuds ergänzt werden kann, nichts anderes als der Reaktionsgedanke
auf den im Unbewußten rege gewordenen Todeswunsch gegen die
betreffende Person (dieser Mechanismus ist der in der Neurose ge-
wöhnliche). Dieser ursprüngliche Charakter der Besorgnis verrät sich
auch noch in der schmerzlichen Empfindung, die nach Freud diese
Träume regelmäßig begleitet. Der Traum vom Tode des Vaters
ist also eigentlich doch nicht so ganz unentstellt, wie der andere
gleich zu besprechende Traum vom Geschlechtsverkehr mit der Mutter.
Denn vor allem handelt es sich in diesen Träumen nicht um den dem
Inzestakt komplementären Totschlag des Vaters durch den Sohn, son-
dern am häufigsten darum, daß man im Traum den Vater tot sieht
und Schmerz darüber empfindet. Die Person des Vaters bleibt zwar
erkannt, aber eben deswegen, weil ja der Mordwunsch durch die Be-
sorgnis und Trauer um den Vater ersetzt ist. Auf demselben Wege
wie dieser Ersatz geht dann z. B. auch die bereits besprochene
Verwandlung des seinen Vater hassenden Sohnes in den Rächer
seines getöteten Vaters vor sich (vgl. Hamlet und „Heldenmythus").
Der gleiche Mechanismus zeigt sich wirksam, wenn ein Neuro-
tiker, der anscheinend mit großer Liebe an seinen Eltern hängt,
plötzlich ganz grundlos erzählt, sein Vater sei gestorben:^') wie im
Traume so kommt auch darin statt des Todeswunsches der einfache
S. 1G7; II. 1912) mitgeteilt sind, ereignen sich natürlich weit häufiger als die
offenkundigen, unverhülUon ; wie ja auch in den sonstigen psychischen Gestaltungen
des Inzestkomplexes (Dichtung, Mythus, Neurose) die verhüllten Darstellungen über-
wiegen, da diese Gebilde erst unter dem Druck der Verdrängung entstehen können.
^) Die psychologische Begrüuduug dieser Tatsache hat Stör f er 1. c. S. 18
gegeben.
^) Aus dem Bericht über eine Verhandlung des Jugendsouats am 19. Januar
1907 gegen einen des Diebstahls angekbigten 17jährigen Burschen; als Grund
dieser Erzählung über seinen Vater gibt er an: „Es ist mir eingefallen und nicht
mehr aus dem Kopf gegangen, so daß ich es erzählen mußte." — Vgl. den ähnlichen
Bericht BaudelMire's über seinen Vatermord im „Zentralbl. f. Psa, I, 275 und den
dazu gehörigen Mutterkomplex ebenda S. 72."
Bank, Das Inzestmotiv. 17
258 Nlll. Zur Dcirtiins; der Odipus-Sage.
Bericht der Tatsache zum Ausdruck, wie sie der Träumer erzählt : ich sah
ineini'n Vatir tot dalico^en. Im Mythus dagegen wird zwar der Totschlag
am X'ater wirklich vollzogen, aber ohne daß der Sohn in dem Ermor-
deten den Vater erkennt. Ja, noch mehr: Ödipus weiß durch die
Oftenkirung des Orakels, daß er der Mörder seines \'aters werden
muß. Aber im Moment der Tat weiß er wieder nichts davon und
auch späterhin ist er sich nicht bewußt, der ]\Iörder des Vaters ge-
worden zu sein. Er weiß also, daß er es tun wird und tut es doch, ohne
es zu wissen : es gibt kein instruktiveres Beispiel für die Wirkung un-
bcAvußter Machte und der Verdrängung. Traum und Mythus zeigen
also, jedes der beiden psychischen Gebilde in seiner Art, entsprechende
Entstellungen des ursprünglichen j\I(jrdimpulses : im Traum wird der
Vater erkannt, aber nur, weil der Mordimpuls durch die Trauer er-
setzt ist; im Mythus dagegen, wo der Totschlag erfolgt, bleibt der
Vater, mit Rücksicht auf die Verdrängung dieser Bcgung, unerkannt.
Etwas anders verhält es sich beim typischen Traum vom Ge-
schlechtsverkehr mit der Mutter und der Beziehung des Mythus zu
ihm. Der typische Muttertraum ist nämlich oft ganz unverhüllt, er
zeigt die Mutter direkt in geschlechtlichem Verkehr mit dem Träumer.
Das hängt aber mit einem anderen Charakter innig zusammen, denn
diese offenen Mutterinzestträume sind Pollutionsträume ^) und in diesen
räumt die Spannung der aktuellen Libido die Widerstände rücksichts-
los hinweg. Allerdings weist auch diesem Traum gegenüber der vor-
liegende Mythus den Verdrängungscharakter auf in der Unkenntlich-
keit der Mutter. Aber trotzdem weiß auch hier der Sohn aus dem
Orakel, daß er die Mutter beschlafen wird, ein Zug, der wieder an
die Offenheit des Traumes gemahnt und darauf hinweist, daß das in
der Sage als offenkundige Deutung verwertete Orakel ursprünglich
eine traumhafte Offenbarung war, wie es Hof mann sthal in seiner
Tragödie auch auffaßt.
Ahnlich wie der Sohn seine Untaten schon vor ihrer Verübung
kennt, sie aber dennoch (unbewußt) vollführt, so weiß auch der Vater
schon vor der Geburt, ja vor der Zeugung des Sohnes, daß dieser
die Verbrechen begehen wird, und er zeugt ihn dennoch; im Rausch,
wie es heißt, oder von der vSinnlichkeit seiner Gemahlin verführt
(Schneidewin : Die Sage vom Ödipus), nachdem er jahrelang den
ehelichen Verkehr aus Furcht vor Erfüllung des Orakelspruchs ge-
mieden hatte. In dem tiefen Zug, daß der Vater schon vor der Ge-
burt des Sohnes dessen inzestuöse Begierden fürchtet, muß man einen
unbewußten Ausdruck der Vergeltungsfurcht des Vaters sehen, der
seiner eigenen Stellung zu den Eltern eingedenk, von seinem künf-
') Vgl. darüber meine Ausführungen im Jahrb. II, S. 2öl u. Anmkg. 41. Die ver-
kappten Mutterinzestträume, deren es eine Unzahl gibt (vgl. Traumdeutung*, S. 108)
sind in der Kegel keine Pollutionstrilume. Ebenso kann natürlich ;iuch der Traum
vom Tode des Vatirs je nach der Individualität des Träumers und nach äußeren
Uinstänlen die verschiedenartigsten Gestaltungen annehmen.
Geburt und Tod als Symbol der Vereinigung mit der Mutter. 259
tigen Sohn das Gleiche fürchtet. Dieses Motiv der Vergeltungsfurcht,
das uns in seiner Bedeutung schon bekannt ist, spielt in dem Um-
wertungsprozeß der Sohnes - in die Vatergefühle (vgl. Shakespeare)
die Hauptrolle (vgl. den später zii JDesprechenden Mythus von Kronos
und Uranos) und wird in der Odipus-Sage folgerichtig auch in die
nächste Generation fortgesetzt, da Odipus von seinen Söhnen, denen
er flucht, schlecht behandelt und verstoßen wird (vgl. beim Motiv der
feindlichen Brüder Kap. XIII und XXI E t e o k 1 e s und Polyneikes).
Um dem geweissagten Vergehen des Sohnes zuvorzukommen, beschließt
Laios, das neugeborene Kind auszusetzen. Um es desto sicherer dem Ver-
derben zu weihen, läßt bei Sophokles (v. 10o2) und Euripides
(Phoen. 26, 8()ö, vgl. Apgllodor 3, 5, 7) der Vater ihm die Fußgelenke
durchbohren. Nach der ältesten Fassung (vgl. Bethe: thebanische
Heldenlieder) soll der Knabe in einem Kästchen auf dem Meere aus-
gesetzt worden sein (Schol. Eur. Phoen. 20),^) wo ihn dann Periboea,
^) Jiethe sieht in den Worten des ödipus nach der Entdeckung eine be-
deutungsvolle Anspielung darauf: v. 1411 „. . . werft hinaus ins Meer mich, wo
ihr niramerdar mich wiederseht." Auch auf eine juristische Erklärung verweist Bethe
(S. 72 f.): „Der Vatermörder soll eingeschlossen werden in einen Letlersack
oder ein Gefäß und geworfen werden ins Meer oder in fließendes Wasser."
Das hieße in der Rückübersetzung mit Hilfe der Symbolik: es wäre besser, er wäre
nicht geboren (aus dem Wasser gezogen) worden, was ja auch das Orakel dem Laios
verkündet. (Bei 8chiller-Tietz heißt es: „Die Bestrafung der Blutschänder be
steht bei den meisten Völkern im Ersäufen der Verbrecher, die zusammen in einem
Sacke oder Korbe mit Steinen beschwert ins Wasser versenkt werden.") In meiner
Abhandlung über die Lohengrin-Sage habe ich nachgewiesen, daß der mythologisch
angenommene Aufenthalt des Menschen vor der Geburt und nach dem Tode im
Wasser völkerpsychologisch als Symbolisieruug des Aufenthalts im Mutterleibe auf-
gefaßt ist, der auch der Unterwelt, als dem Aufenthalt der Verstorbenen und Un-
geborenen, gleichgesetzt wird. Des Ödipus Bestrafung durch den Wassertod wäre
also im Sinne einer Wiedervereinigung mit seiner Mutter aufzufassen, als eine Rück-
kehr in die „Unterwelt", aus der er hergekommen war. Auch berichtet die gang-
bare Version des Mythus, daß dem von den Söhnen verratenen und von den The-
banern vertriebenen geblendeten Greis Apollo die Lösung seines beklagenswerten
Schicksals im Heiligtun:i der Semnen verkündet habe, wo Odipus durch die sogenannte
„eherne Schwelle", einem direkt in die Unterwelt führenden Spalt, auf geheimnis-
volle Weise verschwunden sein soll. Auch diese Version ginge, wie die vom Wasser-
tod, auf eine Vereinigung mit der Mutter, auf eine Rückkehr in ihren Leib, hinaus. Be-
weisend für diese Auffassung wird uns eine Bemerkung von W. Schultz: Rätsel
aus dem hellenischen Kulturkreise (1. Teil, Leipzig 1909, Mythol. Bibl. III 1, S. 107),
wo die Schamlippen als „Tore der Unterwelt" aufgefaßt sind, „d;i ja die Scheide
nach antiker Vorstellung tatsächlich in die Unterwelt führt". (Daraus erklärt sich,
warum regelmäßig ein Spalt als Eingang in die Unterwelt gilt.) Außer der Rückkehr
ins Wasser und in die Unterwelt, die in beiden Fällen die Wiedervereinigung mit
der Mutter symbolisiert, drückt auch das Einnähen in den Sack oder die Einschließung
in das Gefäß, wie in den Geburtsmythen, denselben Gedanken aus (im Grimm'schen
Märchen Nr. 111 wird die in ihrem Hemd eingenähte, schlafende Königstochter vom
Helden zum Leben erweckt, wozu Laistner: Rätsel der Sphinx 367 meint, es
könnte damit der Zustand der Ungeboreuheit gemeint sein, welche Bemerkung ein
Licht auf andere ähnliche Erweckungen bei Dornröschen, Schneewittchen, Brünnhilde
u. a. wirft. Die Wiederbelebung ist mythologisch als Belebung, d. i. Geburt auf-
zufassen). Diese Auffassung von der Rückkehr des Muttergatteu in den Leib der
Mutter, also die Wiedervereinigung von Mutter und Sohn nach dem Tode wie vor
17*
260 VIII. Zur J^eutuüg der Odipus-ISago.
die Gattin des Königs Polybos, beim Spülen der Wäsche aus dem
Wasser zog und au iSuhnes statt annahm (Hyginus fab. 66). Diesen
Teil der Üdipus-Sage, der die Aussetzung in Korbchen und Wasser
und den Elterntausch enthält, habe ich im „Mythus von der Geburt
des Heiden" im Zusammenhang mit zahlreichen und weitverbreiteten
ähnlichen Mythen psychologisch aufzuklären versucht. Alle diese
Helden werden von vornehmen Eltern geboren, wegen eines Orakels
im Körbchen und Wasser ausgesetzt, aber von geringen Leuten oder
Tieren gerettet und schließlich in ihre Hoheitsrechte wieder eingesetzt.
Die Aussetzung im Körbchen und Wasser enthüllte sich uns dort als
eine symbolische Darstellung des Geburtsvorganges, die dem infantilen
Storchmärchen nachgebildet ist, nach dem die Kinder vom Storch
(oder einem anderen Tier) aus dem Wasser 'gezogen und in einem
Körbchen den Eltern gebracht werden. Was zu dieser symbolischen
Darstellung des Geburtsvorganges in den Mythen nötige ist der Um-
stand, daß sie vom Standpunkt des in sexualibus noch nicht ganz auf-
geklärten Kindes gemacht erscheinen, dem der Vater die gewünschte
Aufklärung auf die Frage: „Woher kommen die Kinder?" verweigert
oder mit dem Hinweis auf das Storchmärchen beantwortet, welches
Verhalten die feindselige Einstellung gegen ihn, sowie die Sehnsucht
nach Einführung in die sexuellen Geheimnisse durch die Mutter ver-
stärkt. Diese Frage tritt in manchen Mythen ziemlich unverhüllt auf,
in anderen ist sie verschleiert oder in einem geheimnisvollen Rätsel
bis zur Unkenntlichkeit verborgen (vgl. Freud: Über infantile Sexual-
theorien, Kl. Sehr. II, S. 162, u. Jahrb. I, S. 99). In der Lohen-
grin-Sage tritt dieses Motiv, wie ich zeigen konnte, als Frage ver-
bot auf: Luhengrin, der in einem Nachen auf dem Wasser schwimmt
und von einem Schwan (Storch) ans Land gebracht wird, verbietet in
Umkehrung des ursprünglichen Verhältnisses nach seiner Herkunft zu
fragen. In anderen Mythen erscheint der Sinn dieses Motivs weniger
deutlich und darum meist in Form eines Rätsels, also der Auffor-
derung zum Forschen, die ein Gegensatz zum Frageverbot ist.
So wird es uns nicht schwer, auch aus dem Rätsel, das die Sphinx
dem Ödipus vorlegt und das niemand vor ihm erraten konnte, die
gleiche Frage nach der Herkunft der Kinder zu vernehmen. Nur ist
auch hier eine Entstellung vorgenommen: die Frage lautet nach dem
der Gebart, erhält wie Storfer (Der Vatermord, S. 26 u. fg.) treffend ausgeführt
hat, eine bedeutsame Stütze durch das bei Bestrafung des Vatermörders angewendete
Zeremoniell, das seine Verbindung mit der ,, Mutter-Erde" verhüten sollte: deswegen trug
er hölzerne Sohlen (1. c. 28) und wurde nicht begraben, sondern ins Wasser geworfen.
Daß aber auch diese Arten der Bestrafung ebenso wie seine geheimnisvolle Entrückung
in die l'nterwelt und das Einnähen nichts anderes als diese Phantasie realisiert, glauben
wir gezeigt zu haben. Es ist beachtenswert, daß die Kennzeichnung des Blutschänders
als lüsternen Sexaaltieres, als phallischen Dämons, nach Storfer durch eine ähnliche
Häufung der Symbolik (Hund, Schlange, Hahn) ausgedrückt ist, wie seine Wieder-
vereinigang mit der Matter (Wasser, Sack, Unterwelt), die ja nur eine über den Tod
binaas währende sinnliche Neigung andeutet.
Das Forschnngsverbot gegen die kindliche Sexualneugierde. 261
Wesen, das zwei-, drei- und vierbeinig-, aber nur mit einer Stimme
ausgestattet ist und das seine Gestalt, so lange es lebt, verändert. Die
Antwort daraufist: der Mensch, der als neugeborenes Kind^)
auf allen vieren (wie ein Tier) auf der Erde kriecht, als Mann auf-
recht auf zwei Beinen geht und als Greis einen Stock als drittes
Bein zur Stütze nimmt. Statt daß also das Rätsel die Frage ent-
hielte, was ist der Mensch, ist die Frage zur Antwort gemacht: das,
wonach gefragt wird, das rätselhafte Wesen, ist der Mensch. Häufiger
noch als das Rätsel, die Aufforderung zum Forschen (von dem noch
Beispiele genannt werden sollen), ist das Verbot nachzuforschen, wie
es uns in der Lohengrin-Sage entgegengetreten ist, das sich regelmäßig
als Verbot, nach dem sexuellen Geheimnis zu fragen, erkennen läßt.
Ohne auf eine detaillirte Deutung eingehen zu können, sei hier nur die
in vielen deutschen Märchen vorkommende „gründliche Idee von vielen
erlaubten, aber einer verbotenen Tür" (Grimm Märchen III, An-
merk. zu Nr. P>) angeführt, der zweifellos derselbe Gedanke zu Grunde
liegt. Im Märchen von Fitchers Vogel (Grimm Nr. 46) ist die
sexuelle Symbolik leicht zu durchschauen, weshalb die betreffende
Stelle ohne Kommentar hergesetzt sei,^)
Der böse Hexenmeister sagt zur ersten der drei geraubten Schwestern :
„ich muß fortreisen und dich eine kurze Zeit allein lassen, da sind die
Hausschlüssel, du kannst überall hingehen und alles betrachten, nur
nicht in eine Stube, die dieser kleine Schlüssel da aufschließt, das
verbiet ich dir bei Lebensstrafe, Auch gab er ihr ein Ei und sprach:
,das Ei verwahre mir sorgfältig und trag es lieber beständig bei dir, denn
ginge es verloren, so würde ein großes Unglück daraus ent-
stehen.' Sie nahm die Schlüssel und das Ei, und versprach, alles wohl
auszurichten. Als er fort war, ging sie in dem Haus herum von unten
bis oben und besah alles, die Stuben glänzten von Silber und Gold, und
sie meinte sie hätte nie so große Pracht gesehen. Endlich kam sie auch
zu der verbotenen Tür, sie wollte vorübergehen, aber die Neugierde
ließ ihr keine Ruhe. Sie besah den Schlüssel, er sah aus wie ein anderer,
sie steckte ihn ein und drehte ein wenig, da sprang die Tür auf. Aber
was erblickte sie als sie hineintrat? ein großes blutiges Becken stand in
der Mitte, und darin lagen tote zerhauene Menschen, daneben stand ein
Holzblock und ein blinkendes Beil lag darauf. Sie erschrak so sehr, daß
^) Daß die Frage indirekt auf das Eätsel der menschlichen Geburt abzielt,
zeigt ein Vers .-lus der Antwort des Ödipus, der das eben aus dem Mutterleib
kommende Kind als das vier füßige Wesen bezeichnet, was deutlich auf die Tiergeburt
hinweist:
"AvOptuTtov xaTsXeca;, 5; i^vf-zot falct^ k'si[jr.ti,
-cpöjrov 'io'j TExpct-o'j; vi^ttio; Ix XaYOvwv.
Das letzte Wort, das Mutterleib bedeutet, heißt auch „Höhle", was wieder auf die im
Heldenmythus vorkommende symbolische Darstellung des Mutterleibes durch eine
Höhle hinweist.
^) Einige Hinweise zur Deutung findet man in Stekels Aufsatz über „Die
Symbolik des Märchens (Feuilleton der „Zeit" 1908).
262 Vni. Zur Dentunp: der Ödipiis-Sa{2;e.
das Ei, das sie in dor Hand hielt, liineinplumpte. Sie lioltc es wieder
luTiius und wisclito das Hlut ab, aber vorgeblich, es kam den Augenl)lick
wifdor zum Vorschein; sie wischte und schabte, aber sie konnte es nicht
herunter kriegen." Daran erkennt der Hexenmeister, daß sie sein Verbot
übertreten habe und richtet sie auf grausame Weise liin. Ebenso ergeht
es ilirer zweiten Schwester und erst die dritte weiß den Zauberer durch
List zu besiegen und rettet so auch ihre beiden Schwestern. — Im Märchen
von Marienkiud (Nr. 3) ist mancher dieser Züge verblaßt und ideali-
siert: dort ist es die Jungfrau Maria, die dem Mädchen die Schlüssel zu
den 13 Türen des Himmelreichs übergibt: „zwölf davon darfst du auf-
schließen und die Herrlichkeit darin betrachten, al)er die dreizehnte, wozu
dieser kleine Schlüssel gehört, die ist dir verboten: hiito dich, daß
du sie nicht aufschließt, sonst wirst du unglücklich." Auch wird
der Finger hier nicht blutig, sondern golden. Aber neb(>n dierser Ver-
blassung weisen wieder andere Züge noch deutlicher aufs Sexuelle hin. ')
So die unbezwingliche Neugierde und die Angst nach der Tat : „ . . . . die
Begierde in seinem Herzen schwieg nicht still, sondern nagte und pickte
ordentlich daran und ließ ihm keine Ruhe. Und als die Knglein einmal
alle hinausgegangen Avaren, dachte es : nun bin ich ja ganz allein und
könnte hineingucken, es weiß es ja niemand, wenn icbs tue. Es suchte
den Schlüssel heraus und als es ihn in der Hand hielt, steckte es ihn
auch in das Schloß, und als es ihn hineingesteckt hatte, drehte es auch
um. Alsbald empfand es eine gewaltige Angst,
schlug die Tür heftig zu und lief fort. Die Angst wollte auch nicht wieder
weichen, es mochte anfangen, was es wollte, und das Herz kloj)fte in
einem fort und wollte nicht ruhig werden." Hier erkennt auch die
Jungfrau Maria an diesem Herzklopfen, also an einer auffälligen Ver-
änderung ihres ganzen psychischen Zustands, die Übertretung des Gebots.
Charakteristisch ist dann der Zug, wie das Mädchen mit einer ans Unglaub-
liche grenzenden Hartnäckigkeit leugnet, das Verbot übertreten zu haben. ^)
Mit einer deutlich symbolischen Anspielung auf die Sexualrätscl
kommt das Verbotmotiv auch im griechischen j\Iytlius von
Erichthonios vor. Die Göttin Athene sucht sich der hrünstjo^on
Umarmung des Hephaistos zu entziehen, wobei sein S'ame auf die
Erde fällt, die dann den schlangen füßigen Erichthonios hervorbringt.
Athene nimmt sich des Kindes an und zieht es ohne Wissen der
Götter auf, indem sie den Knaben in einem geflochtenen Korb ver-
birgt (nach O V i d s Metamorphosen II, 532 ff gibt sie dem Kind zwei
*) Vpl. meine Ausfiilirunpfen über den aatoerotischen Charakter dieses Sexual-
vorgehens im II. Heft der „Wiener psychoanalytischen Diskussionen" über die
Onanie und: Ein Traum, der sich selbst deutet" .Tahrb. II, S. 486. — Parallelen zu
den Märchen bei Grimm ITI, /.a Nr. 46 der Hinweis auf das gleiche Verbotmotiv
im Blaubart, dann in 1001 Nacht auf die Gesch. des 3. Kalenders (Nacht 66).
Ferner Märchensamnilung von Asbjürnson und Moe (Nr. 8); weitere Beleg:e bei
Wolf: Beitr. zur deutschen Mythologie I, 23 fg'., 103. — Eine Saji^e der Toboltataren
bei Frobenius: Das Zeitalter des Sonnengottes I 328. — Auch bei Zingerle:
Tirols Volkadicbtangen, Innsbruck 1852, I, S. 192, Nr. 32: „Goldener". —
Das Motiv des Dummsteilens. 263
Schlangen zur Bewachung bei). Den verschlossenen Korb übergibt
sie dann den drei Töchtern des Kekrops zur Obhut, mit dem aus-
drücklichen Verbot, die Kiste jemals zu öffnen. Die
Schwestern, Aglauros, Herse und Pandrosos, können aber, bis auf die
letzte, der Neugier nicht widerstehen; als sie das Körbchen öffnen
und darin das Kind in Gestalt einer Schlange erblicken, ergreift sie
Wahnsinn und sie stürzen sich vom Felsen der Kekropischen Burg
herab, bis auf Pandrosos, die dem Schicksal ihrer Schwestern entging
(nach Apollodor).^) Weist das Körbchen, in dem das Kind liegt, auf
die Herkunft vom Weibe hin (vgl. die Aussetzung im Körbchen und
Wasser) und die Schlange auf den Anteil des Mannes (Schlangenfüße),
so verbindet sich anderseits dieser griechische Mythus in einigen
Punkten auffällig mit den beiden angeführten Märchen. Die Jung-
fräuliche Göttin" Athene, die ein Kind ohne Empfängnis gebiert, ent-
spricht der Jungfrau Maria in dem einen Märchen, während die drei
Schwestern, deren letzte dem Geschick entgeht, genau der Anordnung
in Fitchers Vogel entsprechen; das Verbot einen Verschluß zu öffnen
und die Übertretung ist allen drei Erzählungen gemeinsam. Als ein
tiefer Zug der griechischen Sage ist der Ausbruch des Wahnsinns
nach Enthüllung des Geheimnisses hervorzuheben. Freud hat
darauf aufmerksam gemacht, daß eine Anzahl neurotischer Symptome,
besonders der Zwangsneurose, wie z. B. die Grübelsucht u. a. auf
diese unbefriedigte kindliche Sexualneugierde zurückgeht (vgl. inf.
Sex. Theorien). Tritt auch in zahlreichen anderen Überlieferungen
der Wahnsinn nicht direkt als Folge des sexuellen Grübelzwanges
oder der plötzlichen Sexualaufklärung auf, so erscheinen doch eine
Reihe von Helden, die wie den antiken Ödipus die Auflehnung gegen
den Vater auszeichnet, auffälligerweise fast regelmäßig als zeitweilig
dumm, töricht oder wahnsinnig, welche Eigenschaften sie aber meist
nur heucheln. Drückt sich vielleicht darin, wie die Märchen von dem
immer erfolgreichen Dummling zeigen, der Gedanke aus, daß der ge-
sunde zutappende Instinkt ohne viel Reflexion im Leben am besten
weiterkommt^), so ist doch das spezitische Merkmal dieser Dummheit,
die sexuelle Unwissenheit des Kindes, nicht zu verkennen, wozu auch
die Verstellung am besten paßt; denn das Kind stellt sich eigentlich
immer dumm, es weiß viel mehr, als mau ihm gewöhnlich zutraut. "*)
Auf den Zusammenhang dieses Dummsteilens mit dem zum Teil
^) B. Powell: Erichthonios und the ihree daughters af Cecrops (New York
1906) faßt aus naturmythologischeu Gründen lierse als jüngeres Gegenbild der Pan-
drosos.
■') Thinime „Das Märchen" S. 55 hebt als häufiges Märchenraotiv die Klug-
heit hervor, „mit der sich oft körperliche Kleinheit verbindet ;" und wenn der Kluge
auch nicht immer zwergenhaft erscheint, wie im Märchen vom Däumling, so ist er
doch wenigstens dem „dummen Riesen" gegenüber, den er überlistet, klein gedacht,
wie Odysseus dem Polyphem gegenüber, David dem Goliatli u. v. a.
^) Vgl. die interessante Kinderanalyse von Ernest Jones: Simulated
Foolishness in Hysteria (American Journ. of Insanity, Oct. 1910),
264 VI II. Zur Deutung der Odipus-Sage.
eratenen Geheimnis der sexuellen Herkunft habe ich im Mythus von
der Geburt des Helden hingewiesen. Es kunimt in den ^agen von
Moses, David, Kyros, Hamlet, Kaikhusrav, dem jüngeren Brutus, Teil,
Parzival u. a. vor. Auch in die Odipus-Sage spielt es hinein, denn
Odipus nennt sich bei Sophokles, allerdings ironisch, dem Seher
Teresias gegenüber „der unberatene ()dipus", o (xtjosv stöo)? OtSiirouc,
der Unwissende, während sein Name gerade das Gegenteil, den "Wis-
senden, bezeichnet. Es ist nun interessant, dali die Namen vieler der
genannten Helden keine Eigennamen im Sinne des Sprachgebrauchs
sind, sondern Beinamen, Bezeichnungen, die meist auf die angedeutete
Dümmhngsnatur der Helden hinweisen. So heißt Teil „der Einfältige"
(vgl. noch bei Schiller: „war ich besonnen, hieß ich nicht der Teil"),
der Name Brutus bedeutet: „der Dumme, Blödsinnige'' und auch
Hamlet ist nach Detter (Zcitschr. f. deutsch. Alt. 36, S. 1 ff.) nur
„eine Übersetzung des Namens Brutus und bezeichnet einen Narren,
einen Tölpel. " ^) Auch Brutus, der sich wahnsinnig stellt, löst ähnlich
wie Ödipus einen rätselhaften Ornkelspruch auf, in welchem es sich
um das Küssen der j\Iutter handelt, die er als Mutter Erde auffaßt
(vgl. die gleiche Ausdeutung von Cäsars Inzesttraum). Derselbe
Brutus, der durch diese List die Tyrannen vertreibt, läßt dann als
erster Konsul seine eigenen Söhne hinrichten (Vergeltungsfurcht).
Diese Inzestzüge linden sich mehr oder minder verkappt auch in den
anderen Mythen. Lessmann^) betont, daß diese Helden, Teil,
Brutus, Hamlet, deren Namen das gleiche bedeuten, Tyrannen-
mörder seien, wie auch ]\roses, David, Kyros als Revolutionäre gegen
die bestehende Herrschaft auftreten. Der Tyrannenmord ist uns aber
als Ersatz des Vatermordes schon bekannt und die Auflehnung gegen
den Vater wird bedeutend verstärkt durch die Verheimlichung der
sexuellen Vorgänge^), die das Kind eben zwingen, dumm zu bleiben
oder sich wenigstens so zu stellen, um der Strenge des Vaters zu ent-
gehen. Daß diese Unwissenheit sich vornehmlich auf sexuelle Dinge
bezieht, lehrt in Übereinstimmung mit unseren analytischen Er-
fahrungen die Sage von Parzival, der von seiner Mutter Herzeleide
'j Nach Detter soll die Hamlet-Saf^e direkt aus der nach Norden gewanderltn
Brutu.ssape entstanden sein. Die Übereinstimmung einzelner Details, z. B. dos in
Stäbe geflossenen Goldes, ist tatsächlich aufiällig. Diese in Anlehnung an das
Zepter auf die Aneignung der Herrschaft (den Sturz des Vaters) hinweisenden gold-
gefüllten Stäbe hat Storfer scharfsinnig als Symbol einer mächtigen Potenzphan-
tasie aufgefaßt (Zentralbi. f. Psa. II, S. 2ü0), was ja zu dem in der Brutus-Sago ver-
borgenen Inzest (das Kursen der Mutter) stimmen würde. — In einem mit dem
^Eisenhans" verwandten lothringischen Alärchen (Em. Cosqnin: C'ontes pop. de
Lorraine I, S. 133. Nr. XII) kämpft der Hohl des Märchens, wie Ödipus, gegen
seinen Vater und reitet zu diesem Kampf auf einem dreibeiuigen Kosse aus, was
nicht nur an das Ödipus llätsel, sondern auch an den verkehrt auf seinem Pferde aus-
reitenden Hamlet erinnert.
-) „Die Kyro.s-Sago in Europa". 1906.
^) Vgl. Heidenmythns, wo auch die Hamlet- und Kaikhosrav-Sage in ihren Zu-
sammenhang mit diesem Mvthenkreis jicbracht sind.
Das Fragegebot und -verbot. 265
in der Einsamkeit des Waldes in vullkommener Unwissenheit auf-
gezogen wird, damit er dem uno^lücklichen Schicksal seines taten-
lustigen Vaters entgehe.^) Aber der Knabe kann seinen mächtigen
Tatendrang nicht unterdrücken und vreder die Bitten der ]\Iutter, noch
die Narrenkleider, die sie ihm anzieht, sind im stände, ihn zu
Hause zurückzuhalten. Auf seinen Ritterfahrten kommt er auch in
die prächtige Gralsburg, deren König Anfortas, Parzivals Oheim, als
Strafe für seine Sinnlielikeit an einer schweren Wunde am Schambein
unheilbar krankt. Parzival brauchte nur nach des
Königs Leiden und den Wundern des Schlosses zu fragen, so
wäre Anfortas seines Schicksals ledig und er selbst Herr und König
der G ralsburg geworden. Aber in seiner Jugend gelehrt, so
wenig als möglich zu fragen (Frageverbot), unterläßt er in
seiner „Tumpheit" die Frage, wo er sei, und muß am pudern Morgen
die Burg wieder verlassen, von der Fluehbotin des Grals, Kundrie,
ziellos umhergetrieben (Motiv des Unglücks). Erst nach langen Mühen
und Kämpfen gelingt ilim die Erlösung des Anfortas und die Erriu-
gung der Königswürde. Während also Parzival fragen sollte (Aul-
f u'derung zum Forschen, Rätsel), es aber aus anerzogener Dummheit unter-
läßt, da ihm seine i\Iutter das Fragen verboten hat (Motiv des Verbots),
stellt sein Sohn Lohengrin das Frage-Verbot als Bedingung der
Glücksdauer. ^) Während also die Lohengrin-Sage die vordringliche
Neugierde nach der Herkunft der Kinder durch das Verbot zu fragen
in ihre Schranken verweist, bleibt Parzival, dem von Jugend an das
Fragen verboten ist, der ,,reine Tor".^) Er ist so dumm, daß ihm
die Frage: wo bin ich hergekommen? (in die Gralsburg), die er
stellen müßte, um selbst König (Vater) werden zu können, gar nicht
zum Problem geworden ist und er sich dementsprechend auch mehr-
fach als zu dumm für die Minne erweist (Str. 165), indem er zwei
Nächte neben seiner Frau liegt, ohne sie zu berühren.^)
^) In Lyiikeus' Novelle: Gärende Kraft eines Geheimnisses (in:
Phantasien eines Realisten) ist dieses Motiv der sexuellen Unwissenheit iu ähnlichem
Sinne vertieft. Die Mutter will ihren Sohn vor den schädlichen Verlockungen der
Welt bewahren und gibt sich ihm darum, nachdem sie ihn bis zur Zeit seiner Eeife
in völliger Unwissenheit gelassen hatte, dann selbst hin. In einer Erzählung des
Girolamo Morlini „Von einem Sohne, der seine Mutter schwängerte'' (deutsch in
der Zeitschr. „Die Opale" 2. Teil) ist dieses Motiv ins Obszöne gewendet. Ein Junge
sieht seine Eltern koitieren und verlangt von der Mutter Geld zum Besuch eines
Bordells. Sie sagt ihm aber, er verstehe das noch nicht und lehrt es ihn an ihrem
eigenen Körper.
^) Der Dichter des Lohengrin-Epos will diese Aufforderung zum Fragen bei
Parzival und das Frageverbot von Lohengrin iu einen sagengeschichtlichen Zusammen-
hang bringen (vgl. meine Abhandlung über die Lohengrin-Sage).
") Es ist der Erwähnung wert, daß Gör res (Lohengrin S. VI) auch den Nam n
Parzival als „der reine oder arme Dumme" aus dem Persischen erklären will. —
Durch märchenhafte Motive, wie das Lachen und Sprechen der traurigen Königs-
tochter beim Anblick des Albernen (vgl. Grimm K H. M. 9. 49, Pentamerone I, 3)
verrät die Parzival-Sage ihron Zusammenhang mit der Mäichenüberlieferung.
■*) Auch Hamlet wird in der Sage dadurch auf die W;ihnsinnprobe gestellt,
daß ihm ein Mädchen zum Beischlaf zu<:eführt \\Jrd und die Lauscher sehen wollen,
266 \'III. Zur Dcutiiiii,' der Ödipiis-Sage.
Ni'bon dirstin das kindliche Denken beschäftin^enden Hauptriltsel:
WHS ist der ^lensch, woher kommt er, das sich ja bestilndig um die
Eltern dreht und in zahlreichen Mythen mit der infantilen Sexual-
theorie vom Körbchen und Wasser beantwortet wird {vgl- Helden-
mvthus). scheint noch ein anderes sexuelles Hauptproblem besonders
in die Odipus-Sage hineinzuspielcn, das hier nicht in seinem ganzen
Umfannf entwickelt werden kann. Wir haben bis jetzt dem merk-
würdigen Wesen, welches das schwer lösbare und verderbliche Kätael
stellt, der Sphinx, unsere Aufmerksamkeit entzogen. Die Sphinx ist
ein Wesen mit einem menschlichen Oberkörper und einem tierischen
iJinterkörper. ^Vi^ sehen von dem im großen ganzen noch immer
rätselhaften, auf AgYj)ten als Heimatland weisenden Ursprung dieses
menschenwürwnden Unjjeheuer ab und wollen sein Wesen nur im
engen Zusammenhang mit der Odipus-Sage und ihrem Mythenkreis
aufzuklären versuchen.
Im Älythus von der Geburt des Helden ist darauf hingewiesen
(S. 88 fg.), daß in den meisten dieser Sagen die niedere Mutter, die
das ausgesetzte Kind tindet und aufzieht (säugt), durch ein weibliches
Tier ersetzt ist, das den Findling säu'i^t und beschützt. In einzelnen
Sagen, wie der von Kjaiulus oder Kyros, hat die spätere rationali-
stische Deutung die3e wunderbare Tiersäugung dadurch plausibel zu
machen gesucht, daß sie den Weibsra Tiernaraen beilegt [Kyno
(Spako), Lupa], die dann den Anlaß zu dieser wunderbaren Ausschmük-
kung gegeben haben sollen. In beiden Fällen aber ist — wie Forscher,
wie Duncker und Mommen hervorheben — die reine Ticrftibel
die ursprüngliche Version, die sich auch in beiden Fällen noch als
selbständig übarlieferter Mythus nachweisen läßt (vgl. Heldenmythus).
Was nun in diesen Fällen auf zwei Versionen der Sage verteilt ist,
das bietet uns die Odipus-Sage in einem Ausdruck vereinigt dar:
nämlich die Identität des säugenden Weibes mit dem säugenden
Tier. Wie die Aussetzung im Körbchen und Wasser den Geburts-
vorgang in kindlicher Weise gleichsam asexualisiert, so berichtigt
die Tiersäugung, zu der der Storch den Übergang bildet, diese
Vorstellung durch den Hinweis auf die Ähnlichkeit der menschlichen
mit der tierischen Geburt, gleichsam durch den Satz: der Mensch ist
ein Säugetier. Diese Identifizierung der IMutter mit dem säugenden
Tier erscheint begreiflich, wenn man die alltägliche Erfahrung in Be-
tracht zieht, die lehrt, daß das Kind zur Kenntnis der sexuellen Be-
ziehungen und Vorgänge sowie zu ihrer Bedeutung, im Gegensatz zu
den unzugänglichen (vornehmen) Eltern, in der Regel an dem frei-
mütigen und naiven Tier gelangt, das sein Sexualleben und seine Se-
xu?.loro:ane so unverhüllt offenbart. Und darum zeisft auch die nackte
was er mit ihr anfangen wird. Daß diese Bei au schang des Sohnes seiner eigenen
infantilen Unwissenheit in bezug auf den Geschleclitsvnrkelir der Eltern nachgebildet
ißt und einer revanchemäßigcu Identifizierung mit dem Vater entspringt, ist be-
reits aus;'eführt worden.
Die Phantasie vom Weib mit dem Penis. 267
Sphiux einen weiblichen Oberkörper (bis zu den Hüften), der die für
den Säugetiercharakter des Menschen bezeichnenden weiblichen Brüste
darbietet. So weit läßt sich Wesen, Gestalt und Bedeutung der Sphinx,
immer noch im Hinblick auf das Kätscl: woher kommen die Kinder,
und den infontilen BeantAvortungen dieser Frage verstehen. Nim aber
hat die Sphinx anschließend an ihren ay eiblichen Oberkörper
einen tierischen Hinter kör per, der wieder das für das männ-
liche Geschlecht charakteristische Organ, nämlich das männliche
Glied trägt. ^) Sie ist also eigentlicL, abgesehen von dem tierischen
Charakter, ein av eibliches Wesen mit einem männlichen
Glied. Diese Vorstellung aber ist, Avie Freud nachgewiesen hat,
für die kindliche Auffassung mit ihrer Vernachlässigung der Geschlechts-
unterschiede typisch und sie findet ihren regelmäßigen Ausdruck in
einer Aveitern „infantilen Sexualtheorie ^' der Knaben, die darin be-
steht, „allen Menschen, auch den weiblichen Personen,
einen Penis zuzusprechen, Avie ihn der Knabe vom eigenen
Körper kennt" (inf. Sex. Th. S. 165). Auch die Lösung dieses Rät-
sels der Geschlechtsunterschiede ist dann der zunehmenden Kenntnis
sexueller Dinge vorbehalten.^) Aber „die Vorstellung des Weibes mit
dem Penis kehrt noch spät in den Träumen des Er Avachsenen wieder ;
in nächtlicher sexueller Erregung wirft er ein Weib nieder, entblößt
es und bereitet sich zum Koitus, um dann beim Anblick des wohl-
ausgebildeten Gliedes an Stelle der weiblichen Genitalien den Traum
und die Erregung abzubrechen" (Freud 1. c. 165). Daß dieser dem
Inzesttraum nahestehende, ins Homosexuelle und Angstvolle gewen-
dete Traum^) tatsächlich eine der unbewußten Bedeutungen der
Sphinx im Odipus-Mythus erschließt, möchten wir — ehe in der psycho-
') öo zeigen sie die geflügelten (Vogel) Sphingen, die beiden einzigen
Bildwerke, die sie als Eätselfragerin des Ödipus darstellen, nämlich zwei etruskische
Aschenkisten; vor ihr steht 0di|)us bärtig und ganz bekleidet. Vgl. dazu Rösche rs
Lexikon und Ilberg: Die Sphinx (Progr. d. kgl. Gjm. Leipzig 1896).
^) Hier sei einer weiteren Vermutung bezüglich der Kätseldeutung llaum
gegeben, welche die Auffassung des ,.dritten Fusses"* als den später vermißten Pe-
nis des Weibes betrifft. Der Fuß ist bekanntlich ein uraltes phallisches Symbol (Vgl.
Aigremont: Fuß- und Scliuh-Symbolik und -Erotik) und es scheint mit Rücksicht
auf den ganzen unbewußten Gehalt des Mythus sehr wahrscheinlich, daß diese sexuelle
Bedeutung auch in das Rätsel hineinspieit. Die scherzhafte Bezeichnung des Penis
als .dritter Fuß" ist uns heute noch geläufig und im Slowenischen heißt der Phallus
direkt so (1. c. S. 46). Das vierfüßige Wesen deutet wieder auf den bereits bespro-
chenen tierischen (i. e. gleichfalls sexuellen) Charakter hin. Auch der schwellende
Fuß des neugeborenen Knaben erinnert an ähnliche Symbolismen der Erektion in
Träumen, wie auch der scblangentiißige Erichthonios den gleichen Sinn hat, und
weist damit auf die ursprünglich phallische Xatur des Ödipus hin.
^) Die dem Odipus-Traum fast gleichkommende Bedeutung dieses ins Homo-
sexuelle gewendeten Inzesttraumes für das Verständnis des künstlerischen Schaffens
und gewisser typischer Dichtungsmotive soll in anderem Zusammenhang aufgezeigt
werden. Es wird sich dort die im Hinblick auf die folgenden Ausführungen höchst
bedeutsame Tatsache ergeben, daß fast alle Dichter, deren stark betonter Inzestkom-
plex zur Bedingung ihres Schaffens wurde, eine zweite Triebkraft ihrer Produktion
aus der latenten (unbewußten) Homosexualität schöpfen.
26S \II1. Zur Denturi}; der ('")dipus-Sage
aualvtisehen BcufiflUhruii*): lortgesfhrilti'ii wird von rein mytho-
Ictt^iscInT Seite her stützen. Laistner hat in seinem Buche „das Kilt-
sei der Sphinx" (Berlin 1889) in ü herzen ölender Weise dnrj^^etan, daß
den schwierigen Kätself'rap^on der änj;-stliehe Examen- inul Alptraum
zu Grunde liff^e, den wir auf Grund der ]>sychoanalytisehen Aufklä-
runircn als (gehemmten Sexualtraum (Anf,'st) auffiissen müssen. Hat
alst) Laistner bereits den traumhaften Ursprung des Sphinxraotivs
erAviesen, so wird es uns nahe^i^eleo^t, die Ursache der zur Ang-st führenden
Sexualhemmung in dem Weib mit dem Penis zu sehen, das ja den Ge-
schlechtsakt unmöglich macht. Es wird uns aber auch nicht wundern,
daß der ( )di|ius-Mythus, welcher die sonst mit intensiv peinlichen Affekten
verbundenen Träume vom Tod des Vaters und dem Geschlechts-
verkehr mit der iMutter so hemmungs- und angstfrei realisiert, dann
im Sphinxtraum den dazugehörigen Angstaffekt gleichsam nachträgt.
Diese für das kindliche Seelenleben bedeutsame Vorstellung vom Weib
mit dem Penis geht ursprünglich von der geliebten Mutter aus (vgl.
P^reuds Anahse der Phobie eines fünfjährigen Knaben, Jahrb. I) und
auch in der ()(li])us-Sage konnten wir ja bereits die tierische Sphinx
mit der säugenden Mutter identifizieren. Dieser Auffassung entspräche
vollauf die von den meisten Mythologen angenommene spätere Ein-
fügung der Sphinxgestalt in den Mythus^), die also dann in unserem
Sinne nur eine nachträgliche!lDoublierung der Mutter wäre. Eine neu-
griechische Rätselwette bei Schmidt (Griech. Märchen und Sagen
S. 143) läßt tatsächlich Jokaste und die Sj)hinx als eine Person er-
scheinen, was auch Schmidt im Hinblick darauf für ursprünglicher
hält, daß in allen ähnlichen Überlieferungen die umworbene Königin
selbst diejAufgeberin des Rätsels ist.^) Das Motiv für die Einführung der
von der mütterlichen Königin gesonderten Sphinxgestalt hängt mit der
durch den Verdrängungsfortschritt gebotenen allmählichen Verhüllung
und Ausschmückung der Sage eng zusammen. Wir haben sichere An-
haltspunkte dafür, daß die ursprüngliche Gestaltung des Mythos die
unverhüllten Inzestträume an Skrupellosigkeit und Roheit womög-
lich noch übertraf. Doch ist es im Rahmen dieser allgemeinen Unter-
suchung nicht angängig, auf diese mythologische Rekonstruktion der ur-
sprünglichen () d i ]) u s- Fabel näher einzugehen. Daß sie gewalttätiger
in jedem Sinne war, zeigen vereinzelte uns überkommene Nachrichten.
So ist nach Nikolaos Damaskenos Epikaste bei der Ermordung
ihres Gatten zugegen. „Es ist schwer begreiflich, wie dann später die
Mutterehe möglich war. Fast möchte man vermuten, daß Odipus un-
mittelbar nach der Tat auch den Inzest verübte, doch ist dies kaum
mit dem Exzerpt zu vereinigen." ((Jruppe 1. c). Nach dem vor-
') Preller: Phil. Jh. LXXIX, 1859. — f'om pare tti : Oedipo etc. p. 1 7 iV. —
r u p ji e Haiiilbucli der griech. Mytb. 502 fg.
^) Allerdings gezwungen durch ihren eifersüchtigen Vater, der die Freier der
Tochter verderben will (vgl. Tnrandot, Apollonins von Tyrup, Portia im Kaufmann
von Venedig etc. in K:'p. X.).
Die Symbolik von Gürtel- und Schwertabnahme. 269
sophokleischen Epos, derj, Ödipodie'*'^), wird der erschlagene Vater vom
Sohne der Waffeiirüstung beraubt; vor allem nimmt er ihm Güitel
nnd Schwert, wohl als Zeichen der Besitzergreifung seiner Macht, ab.
Das Gürtellösen ist in griechischer Überlieferung durchgehends als
erotisches Symbol aufgefaßt (nach Röscher bei Dio Chrysost. 8, 13G;
Nonn. Dion. 2ö, 250; Claudian 11, lo7), wie auch der Hochzeits-
gott Hymenaios das Attribut: „der Gürtellösende " führt und der Sitz
von Aphrodites, der Liebesgöttin, Zauberreizen von Homer (II. XIV,
215 fij in ihren Gürtel verlegt wird. Auch in der nordischen Thidrek-
Sage verleiht ein zauberkräftiger Gürtel der Brünnhilde die Kraft, in
der Brautnacht ihr Magdtum standhaft gegen Günther zu verteidigen
und erst Siegfried-) bezwingt sie in der Tarnkappe dem König, wo-
bei er ihr den Gürtel entreißt. Erscheint hier der Gürteh'aub direkt
als Symbol der sexuellen Vergewaltigung (der ]\Iutter), so tritt
auch das Schwert als typisches Symbol des männlichen Gliedes auf,
indem Siegfried sein nacktes Schwert als Keuschheitszeiehen'') zwi-
schen sich und die für den Blutsbruder geworbene Brünnhild legt.
Dürfen wir so die ähnlichen Motive der Gürtel- und Schw^ertabnahme
durch Ödipus einerseits als Symbol der mütterlichen Besitzergreifung
(Gürtellösen; Heirat) auffassen, so ist vielleicht die Vermutung ge-
stattet, die Schwertabnahme als spätere Milderung einer ursprüngli-
chen Entmannung aufzufassen, was im nächsten Kapitel aus der grie-
chischen Göttersage insoferne eine beweiskräftige Stütze erhält, als
dort die Eifersucht und sexuelle Rivalität zwischen Vater und Sohn
überhaupt nicht in der '.lötung, sondern lediglich in der Entmannung
des Vaters Ausdruck findet, die in der auf den Sohn zurückgewen-
deten Strafform vielleicht noch in der späten Überarbeitung der uns
vorliegenden Sage in der Durchbohrung der Fußgelenke erhalten ist.*)
^) Vgl. Constans: La legende d'Oedipe p. 13 fg. — W. Richter: Das
Ödipus-Motiv in der kyklischen Thebais und Oedipodie. Programm Schaffhausen.
^) Auch Siegfried gewinnt Brünnhilde durch Überwindung schwerer Aufga-
ben. Das dem Mythus zu Grunde liegende mütterliche Verhältnis zum Helden hat
Wagner in seinem Nibelungenring deutlich gestaltet (Vgl. im II. Abschn. Kap.
XXni, 5, und meine „Lohengrin-Sage"). Aus rein mUhologischen Gründen folgert
auch Stücken (Mitt. d. vorderas. Ges. 1904, 4j „Brynhild war die Mutter des
Siegfried, mag die Sage es auch vergessen haben," indem er dies aus dem Alters-
unterschied schließt. Zu diesem beachtenswerten, in der Stiefmuttergestalt überbrückten,
Altersunterschied macht Freud (Zur Psychopathologie des Alltagslebens, 2. Aufl. S. 84)
die bedeutsame Bemerkung: „Die Sonderbarkeit, daß die Sage keinen Anstoß an
dem Alter der Königin Jokaste nimmt, schien mir gat zu dem Ergebnis zu stimmen, daß
es sich bei der Verliebtheit in die eigene Mutter niemals um deren gegenwärtige Person
handelt, sondern um ihr jugendliches Erinnerungsbild aus den Kinderjahren. Solche
Inkongruenzen stellen sich immer heraus, wo eine zwischen zwei Zeiten schwankende
Phantasie bewußt gemacht und dadurch an eine bestimmte Zeit gebunden wird."
^) Zur Deutung des symbolum castitatis vgl. meine: „Vöikerpsycholugischen
Parallelen zu den infantilen Sexualtheorien" (Zentralbl. f. Psa. iL Jhg. 1912. Heft 7).
*) Wir dürfen uns bei einer vermutlichen Entmannung in der Odipus-Sage
und ihrer spateren Entstellung um so eher auf die Entmannung des Kronos
durch seinen Sohn Zeus berufen, als nach einer abgeschwächten Version dem Vater
nur die Fußsehnen durrh.v.bnitten worden sein sollen. (Vgl. das nächste Kap.)
270 \'1II. Zur Deutung der ÖdipuF-Sagc.
Wie die unbewußte Tötunj^ des Vaters ursprünglich vermutlich eine
gehässige Verstihiiinelung war, so entbehite wahrscheinlich auch der
Geschlechtsverkehr mit der Mutter ursprünglich jeder verhüllenden
Milderung. Einer gelegentlichen Mitteilung von Prof. Ernst Oppen-
h e i m in Wien verdanke ich den Hinweis darauf, daß es sich my-
thologisch beweisbar machen läßt, daß der ehemals als ])hallischer
Dämou gedachte Ö d i p u s seine Mutter be« ußterweise vergewaltigt hcibe.
Mit der einsetzenden Verdrängung wurden diese krassen iSagenzüge
zunächst durch die anfängliche Üukenntlichmacliung der Eltern ge-
mildert und in einer noch späteren Verdränguugsperiode wird der
Mythus in reuiger Rückwendung der Grausamkeiten auf den Sohn
vom Standpunkt des Vaters umgearbeitet. Hier wird natürlich auch
erst das Orakel eingeführt, daß dem Vater den Tod von Soiineshand
und die Heraubung des W^übes weissagt und so die ursprünglich den
beiden Haiidlungen selbst zugehörige Offenkundigkeit als Straf begrün-
dung für den Sohn verwendet. Denn auf Grund des Orakels fügt der
Vater dem Sohne nunmehr das als Strafe zu, w^as dem ursprünglichen
Sinn der Sage nach dem Sohn als lustvolle Befriedigung am Vater
galt: der Vater entmannt ihn (Durchbohrung der Fußgelenke) und
stößt ihn — indem er ihn im Kästchen ins Wasser aussetzt — wieder
in den Mutterleib zurück, die innigste Verbindung mit der Mutter
so gleichsam als Strafe des Nicht-zur- Weltkommens bewirkend
(darum enthält er sich auch des Geschlechtsverkehrs), die dann, wie
wir sahen, den im Sinne der ursprünglich lustvollen Taten schuldig
gewordenen Sohn auch tatsächlich in Form der Wiedervereinigung
mit den mütterlichen Symbolen trifft. Mit der auf Grund des unheil-
vullen Orakels erfolgenden Aussetzung des Neugeborenen sind dann
auch die mit den eigentlichen Eltern identischen, im Sinne der Ver-
drängung aber nicht mehr als solche gekannten Pflegeeltern gegeben,
durch deren Einführung sich nunmehr der alte anstößige Inhalt der
hage in verhüllter Form doch wieder durchzusetzen vermag. Wenn
sich darum Odipus nach Kenntnisnahme des unheilvollen Orakel-
spruches seinem Schicksal durch die Flucht zu entziehen sucht, ihm
aber damit nur um so sicherer anheim fällt, so haben wir psycho-
logisch darin nichts anderes als den Ausdruck für die mißglückte Ab-
wehr (Verdrängung) dieser ursprünglich lustbetonten Kinderwünsche zu
sehen, wie ja bereits Freud in der „Traumdeutung" die Abwehr als das
psychische Korrelat der primären Flucht auffassen lehrte. Erscheint
so mit dem Fortschritt der Verdrängung die ursprüngliche Wunsch-
erfüllung als tragisches Verhängnis, das vom Schicksal dem Helden
auferlegt ist, so wird damit deutlich, daß das „Schicksal", wie auch
das Orakel eigentlich nichts anderes als die rechtfertigende Projek-
tion der eigenen Wünsche (samt ihrer Abwehr- und Straftendenz) auf
ein zwingendes Fatum darstellt. Da wir den Mythus teilweise nur
aus den Epikern, zum größten Teil jedoch aus den Tragikern kennen,
läßt sieli der Furls^iu'itt der Verdrängung am Mythos selbst nicht
Die Verdrängungs Schichtung in der Ödipus-Sage, 271
mehr genau verfolgen. Doch wissen wir, daß hier — ■ wie bei anderen
volkskandlichen Überlieferungen — die mit heftigen inneren Kon-
fliktan des Ödipus-Komplexes ringenden Dichter meist die inzestuöse
Note verstärken, anderseits aber auch die Gegenregungen der Recht-
fertiofung und Strafe stärker betonen.
So wissen wir, daß ursprünglich eine Vergewaltigung der beim
Vatermord anwesenden Mutter sogleich nach der Tötung stattgefunden
hatte und daß erst in der „Odipodie" eine förmliche (unbewußte) Ehe
eingeführt ist, die später auf mehrere Jahre ausgedehnt und von
Aischylos sogar mit Kindern gesegnet wurde, die schließlich
im Sinne der Vergeltung den Fluch am Vater vollziehen. Anderseits
wissen wir, daß Sophokles die Abwehrregungen bedeutend ver-
stärkte, indem er am Kreuzweg sogar den Vater (im Sinne einer
vorgreifenden Strafe und Eechtfertigung des Sohnes) den Anlaß zum
„Totschlag aus I^otwehr'" geben läßt ^). Wie der ursprünglich bewußte
Inzestmythus rein vom Standpunkt des lüsternen und rachsüchtigen
Sohnes gemacht war, und der erste Verdrängungs- und Selbst-
bestrafungsschub die Umarbeitung vom Standpunkt des Vaters und
damit die unbewußte Durchsetzung der primären Wunsch regungen
bewirkte (Orakel, Aussetzung, Pflegeeltern), so wird schließlich im
Sinne der Vergeltungsfurcht die dritte Verdrängungs- und Abwehr-
schichte darüber gelagert, welche die Bestrafung des unbewußt schuldig
Gewordenen durch seine eigenen Söhne enthält, die den Vater so
schlecht behandeln, wie d i p u s selbst ursprünglich seinen eigenen
Vater und dieser ihn in der zweiten strafenden Schichte des Mythus.
Diese Vergeltung von Seiten der Söhne -) ist, ebenso Avie die Ver-
bannung aus Theben und das Umherirren des Geblendeten •'), spät
an die Sage gefügt worden, als die fortschreitende Verdrängung das
durch alle Wandlungen festgehaltene Lustmotiv der Sage durch immer
schärfere Straf- und Abwehrmotive dem sublimären Empfinden späterer
^) Üdipus: — — — Aus der Straße clr;inj,'te mich
Der Führer, und der Alte selbst, gewaltsam weg;
— — — — — — — — — — — — — — Tind schwingt
Den Doppelstachel mitten mir aufs Jianpt herab.
Doch büLH er nicht rlas Gleiche; nein, im Augenblick
Vom Stabe dieser Hand gerühit, enttaumelt er
Zurückgesunken alsobald dem "Wagensitz (v. 804 u. ff.).
^) Es zeigt in charakteristischer Weise die ewige Wiederkehr der sexuellen
Wunschmotive auch noch in der fortgescbritiensten Verdrängung, daß nur die Söhne
dieses grausame Verhalten gegen den Vater zeigen, während seine Töchter ihn in
treuer Liebe auf seiner flüchtigen Wanderung begleiten und bis zum Tode bei ihm
ausharicu.
^) Über die psychologische Bedeutung der Blendung vgl. man meine Ab-
handlung „über das Motiv der Nacktheit in Sage und Dichtung" '„Imago", Zeitschr.
f. Anwendung der Psa. auf die Geisteswissenschaften, I. Jhg. 1912) — .^uf die
sexnalsyrabolische Bedeutung der Selbstblenduug hat Storfer (Zentrnlbl. f. Psa. II,
S. 201) hingewiesen, wozu der von mir ebenda mitgeteilte „seltsame Ödipus-Traum"
zu vergleichen ist.
272 Vi 11. Zur Deutung der ( )dipus-Öage.
Geschlechter wenig'stens annehmbarer zu machen suchte ^). Der drei-
sehic'htifjen Ver(lränfifun«]^sarlx'it am Vattrk(tm})k'x entspricht eine eben-
solche dos noch austüßi«:eron ]\Iutterinzests, der erst bewußt im An-
schluß an den Vatermord (Entmannunf^), dann in der zweiten Schichte
durch Einführung von Orakel, Aussetzung, Pflegeeltern unbewußt er-
folgt und endlich in der dritten Schichte zu mehrjähriger Ehe und
Kindersegen führt. In einem Stadium dieses Verdrängungsprozesses,
wo aus der bewußten und lustbetonten \\'rgewaltigung der Mutter die
unbewußt vollzogene und mit Grauen enthüllte Mutterheirat wird,
findet auch die Einführung der Sphinx stntt, in der sich die durch
den Verdriingungsvorgang geschaffenen Angstaffekte in Anlehnung an
die Traumerfahrung niederschlagen.
^Die Sphinx wurde in die Sag« erst aufgenommen, als man die
Mutterehe neu begründete. Indem man dazu das alte Novellenmotiv
benützte, daß durch die Besiegung eines Ungeheuers die Hand einer
Königstochter errungen wird, bot sich von selbst dieses furchtbare,
von der Sage in Böotien lokalisierte Wesen dar" (Gruppe I.e.). Daß
Sphinx und Mutter ursprünglich zusammenfielen, d. h. daß die Ein-
führung der Sphinx eine Abspaltung gewisser anstößiger Züge von
der ]\Iutter gestatten sollte, haben wir bereits aus dem „Weib mit dem
Penis** geschlossen und in einer neugriechischen Variante bestätigt ge-
funden. Nach Einführung der Sphinx wurde auch ihr eigentlicher
Muttercharakter von einer späteren Verdrängungswelle verwischt;
denn wie es sich ursprünglich um eine Vergewaltigung der Mutter
handelte, so hatte der Held nach Gruppe zuerst auch einen Kam]»f
mit der Sphinx zu bestehen und der Umstand, daß sie sich infolge
ihres Unterliegens in dem später eingeführten „geistigen" Wettkampf-)
in den Abgrund stürzt, deutet noch auf diese ursprüngliche Besiegung
durch den Helden, die tatsächlich als heroische Tat gelten konnte,
während die Lösung des plumpen und albernen Kinderrätsels auch
jedem anderen hätte gelingen können. Jetzt verstehen wir vielleicht
auch besser, daß die ehemals vergewaltigte Sphinxmutter dem um das
Verständnis der Sexualprobleme (Aussetzung, Tiersäugung) ringenden
Jüngling ein sexuelles Rätsel nach dem Wesen des Menschen aufgibi
und daß der Held erst nach Lösung desselben, also nach der Ver-
gewaltigung der Mutter im ursprünglichen Sinne, die Ehe vollziehen
kann (vgl. ,,Lohengrin-Sage", S. 58 f.). Es wird gewissermaßen
sein mangelhaftes infantiles Sexualwissen (Kästchen und Wnsscr, Tier-
') Hier zwei'f^t das Problem der „tragischen Schuld" ab, die unter einein ganz
bestimnifen, dem Emplinden der Zuschauer entsprechenden \'erdrängungiäRtadium ur-
sprünglich lust^'olle Kegungen als strafwürdig darzustellen und so vorwurfslos und
affektlösend zu akzeptieren gestattet.
*) Aus difser späten Schichtung stammt offenbar auch die Etymologisiernng
des ursprünglich rein sexuellen Naincns „Schwellfuß" (von oioi(o schwellen und
r.fi'Ji fnti) in den Namen eines geistigen Heros und ethischen Revolutionärs, den
„Wissenden" („Fiißwisser") von oiöa wissen und noj;, was anderseits doch wieder
das sexuelle Wissen andeutet
Das homosexuelle Moment in der Ödipns-Sage. 273
sängung, Weib mit dem Penis), das sich ursprünglich auf die Mutter
bezog, von dieser selbst erprobt und der Sohn beweist seine Über-
legenheit durch die später ins Intellektuelle abgeschwächte Besiegung
der Mutter. Hier wird vielleicht auch verständlich, warum vor der
Lösung des Rätsels im Lande Unglück herrscht, die Weiber unfrucht-
bar sind und erst durch die Bewältigung der Sphinx wieder fruchtbar
werden. Wie in der typischen Jünglingsphantasie der Sohn die Mutter
aus der vermeintlichen Gewalt des Vaters errettet, so rettet Ödipus
auch die in zahlreichen Überlieferungen als Weib symbolisierte Stadt
und bringt dem ganzen Lande die Fruchtbarkeit wieder ^). Wie der
Vatermord zur Tyrannentötung, so wird die Besitzergreifung der
Mutter -) zur Befreiung des Landes (Heimaterde) gemacht.
Ist die Sphinxgestalt also erst im Verlaufe der Verdrängung und
mythischen Schichtenbildung als Abspaltung von der ^Mutter eingeführt
Avorden, so läßt sich zeigen, daß die ihr anhaftende Vorstellung vom
Weib mit dem Penis in einer wahrscheinlich aUerspätesten Periode zu
einer bemerkenswerten Ausgestaltung der Vorgeschichte führte, die
nur auf Grund der psychoanalytischen Forschungen gleichfalls im
Sinne eines Verdrängungsprodukts verständlich wird. Freud führt
bei den „infantüen Sexualtheorien '^ aus: „Wenn sich diese Vorstellung
des Weibes mit dem Penis bei dem Kinde „fixiert'", allen Einflüssen
des späteren Lebens widersteht, und ihn unfähig macht, bei seinem
Sexualobjekt auf den Penis zu verzichten, so muß ein solches Indi-
viduum bei sonst normalem Sexualleben ein Homosexueller
werden, seine Sexualobjekte unter den Männern suchen, die durch
andere somatische und seelische Charaktere ans Weib
erinnern". Nun hat uns auch der d i p u s-Mythus diese Fixierung
der infantilen Sexualeinstellung zur homosexuellen Neigung überliefert,
und zwar charakteristischerweise gerade im Zusammenhang mit der
Sphinx. Den über den Vater des Ödipus verhängten Fluch der
Kinderlosigkeit führt nämlich Bethe (a. a. 0.) auf die Odipodie
zurück und kombiniert damit die Erzählung des Peisandros, wonach
Hera, die Göttin der ehelichen Liebe, den Thebanern die Sphinx zur
Strafe geschickt habe, weil sie die verbrecherische Liebe des Laios
zu dem schönen Jüngling Chrysippos geduldet hatten. Ja,
^) ödipus selbst vergleicht bei Sophokles die Geschlechtsteile seiner Mutter
wiederholt mit einem Saatfeld (v. 1257, 1405, 1481, 1496 der Reclam'schen t'ber-
setzuDg von T h u d i c h u m). So sag-t Ödipus (v. 1496) zu seinen Kindern :
„Euer Vater schlug den eigenen Vater; nahte sich der Mutterflur, von wo c-r selbst
entkeimet war und euch gewann." ■ — Feld, Garten, Wiese Ovaren nach \V i n c k e 1
mann (alte Denkm. der Kunst) allgemein geläufige Bezeichnimgen für die weiblichen
Geschlechtsteile. — Auch Shakespeare läßt im ^Pericles" den Boult, der die
spröde Marina entjungfern soll, ein Gleichnis vom Ackern gebrauclsen (IV, 5): „And
if she were a thornier piece of ground than she 1?=, she shall be ploughed."
^) Umgekehrt wurde die Besitzergreifung der Macht und des Landes von Sei-
ten des neuen Herrschers durch Beschlafung der Weiber seines Vorgängers ausge-
drückt, wie noch Absalom (2. Sam. 22) vor den Augen des ganzen Israel die Kebs-
weiber seines königlichen Vaters David beschlät't.
Kank, Das Inzesfmotiv. 18
274 VIII. Zur Dentung der Odipns-Sage.
auch das del]>hisc'he Orakel, welches Laios gegen diesen Fluch um Rat
fragt, erteilt iiim die Auskunft, der gewünschte Sohn werde ihn nach
dem Ratschluß des Zeus tüten, zur kStrafe für den Raub des
Chrysippos, des Sohnes des Pelops. Und die Ödi})odie berichtet
in diesem Sinne, Laios habe das neugeborene Kniiblein der erzürnten
Göttin Hera als Vorsölinungsopfer dargebracht, indem er es auf der
ihr ^geheiligten Wiese des Kithairon aussetzen ließ. Dieser Raub und
die Schändung des Chrysippos sind nach der, wie es bei Röscher heiür,
alteren Fassung des ^lythus der Grund alles späteren P>lends im Hause des
Laios. Pelops, der Vater des geraubten Jünglings, stößt nämlich gegen
den Entführer den Fluch aus, er möge kinderlos bleiben;
wenn er aber doch einen Solin bekomme, möge er von ihm getötet
werden. Im Hinblick auf die urnische Neigung des Laios
gewinnt dieser Fluch der Kinderlosigkeit eine tiefere Bedeutung. Ja,
auch Ödipus seibat wird als Jüngling homosexuell gedacht, me die
Fragmente der Praxi IIa, einer Dichterin des V. Jahrhunderts v. Chr.,
erkennen lassen (vgl. dazu auch Schneidewin a. a. 0.). Nach der
Sage ist er in denselben Jüngling, Chrysippos, verliebt, wie sein von
ihm unerkaimter V^ater, und nach der Angabe des Schol. Eurip.
Phon. 66 Avird Laios aus Eifersucht wegen Chrysippos oder in dem
um den Knaben entstandenen Handgemenge von Odipus getötet, was
das volle Gegenstück zur Eifersucht um die Mutter darstellt. Wie
Odipus das erste und deutlichste Beispiel des Inzests bei den Griechen
ist, so gilt sein Vater Laios als Urheber der Knabenliebe.
Wenn wir nun auch von der ganz unerfüllbaren Forderung
einer sozusagen wörtlichen psychologischen Übersetzung des Mythus
absehen, die — wenn wir auch seinen ganzen unbewußten Gehalt er-
schöpft hätten — doch an unserer Unkenntnis der bewußten Fak-
toren, die zur Mythenbildung führten, scheitern würde, so müssen wir
anderseits doch auch diesen zweiten homosexuellen Teil des Mythus
als eng zur ganzen S^ige gehörig wenigstens in groben Strichen in
ihren Sinn einzufügen suchen. Das scheinen nun unsere psycho-
logischen Erfahrungen und Einsichten zwanglos zu gestatten. Seit
Freud die Röntgenisierung des Seelenlebens unternommen hat, wissen
wir, daß das Kind an Vater und Mutter lieben lernt, im weitesten
Umüing des W^ortes genommen, und daß dieses Verhältnis zu den
Eltern für das ganze spätere Leben des Menschen vorbildlich und be-
stimmend ist. Wie die erotische Neigung zur Mutter in der Pubertät
von ihr abgelöst und auf andere Personen übertreigen, normalerweise
für die W^ahl des Sexunlobjekts und für den Typus des späteren
Liebeslebens bestimmend wird, so kann sie anderseits bei Fixierung
auf die Mutter je nachdem ob und wie sie dann verdrängt wird, zu
Perversion (Inzest) oder Neurose führen. Ahnlich ist es auch mit dem
Verhältnis zum Vater, das normalerweise sublimiert die Stellung zu
den sozialen Obrigkeiten und persönlichen Vorgesetzten, Freunden,
Lehrern u. s. w. ergibt. Anderseits kann auch diese Beziehung in
Inzestneignng und Homosexualität. 275
ihren beiden extremen Formen als leidenschaftliche Verliebtheit zur
Homosexualität und als eifersüchtiger auf andere Autoritäten ver-
schobener Haß zum Verbrechen führen. Geht nun logischerweise dem
eifersüchtigen Vaterhaß eine stärkere Neigung zur Mutter parallel, so
hat es den Anschein, als ob anderseits die homosexuelle Neigung zum
Vater nur auf Kosten einer übertriebenen Abneigung gegen das Weib
überhaupt, deren Urbild ja die Mutter ist, za stände käme '). Das ist
nun keineswegs eine schematische Konstruktion, sondern das haben
zwei Schüler JFreuds, die praktisch die Psychoanalyse zu therapeu-
tischen Zwecken ausüben, bei ihren Patienten ganz unabhängig von
einander gefunden, ebenso wie ich es schon vor ihren Publikationen
aus meinem Material deduziert habe. S t e k e 1 kommt in seinem Buche :
„Nervöse Angstzustände" (Berlin 1908) auf Grund einer Reihe von Ana-
lysen zu dem Ergebnis, „die Homosexualität wäre nur eine be-
sondere Form der neurotischen Abwehr", nämlich ,.die gelungene
Abwehr des infantilen Inzestgedaiikens'" (S. 311). Und
ganz ähnlich heißt es bei Sa dg er-) im Anschluß an die Analyse
eines Falles, daß der Homosexuelle au den Folgen der Verdrängung
nach zu starken und vorzeitigen libidinösen Regungen zum Weibe
leidet, gewöhnlich seiner eigenen Mutter. Ganz das gleiche Schwanken
nun zwischen diesen beiden Extremen, der Homosexualität auf der
einen und dem Inzest auf der anderen Seite zeigt uns der Mythus
von Odipus. Er zeigt uns aber damit — und zwar in riesiger Ver-
gröberung und darum auch so nah ans Neurotische streifend — die
im Kinde sich normalerweise vollziehende psychosexuelle Entwicklung,
die zwischen den einander widerstreitenden Gefühlen für Vater und
Mutter hindurch und darüber hinaus, also jenseits von Inzest und Ho-
mosexualität, im normalen Liebesleben ihren Abschluß findet. Sie
zeigt uns in der für den Mythus charakteristischen aber auch not-
wendigen Alfreskomanier, an riesig verzerrten Extremen, daß sich das
Individuum nur durch die erotische Neigung zur Mutter vor der homo-
sexuellen Fixierung seiner Gefühle schützen kann, wie es anderseits
vor den übermächtig gewordenen Inzestreguugen in die Homosexualität
flüchtet ■''). Der Mythus zeigt uns aber auch — und darin liegt ja
seine unbewußte Tendenz, die so mächtig auf unser Gemüt wirkt —
^) Vgl. diesen „umgekehrten", die Umwandlung des Vaterhasses in die Vater-
rache ermöglichenden, Ödipus-Komplex bei Shakespeare. Er ist nur möglich auf
Grund der „ambivalenten" (Bleuler) Einstellung des Kindes zu den Eltern.
-) „Zur Ätiologie der konträren Sexualempfindung." Mediz. Klinik, 1909, Nr. 2.
Vgl. auch die feine Bemerkung von Bürger-Diether (Zürich) in „Sexual-
Probleme", Juli 1909, S. 549: „Wirklich haben fast alle Homosexuelle eine zärtliche
Verehrung für ihre Mutter, oft der einzige rudimentäre Hinweis auf eine vorhandene,
aber nicht entwickelte heterosexuelle Komponente, die ihnen aber als solche nicht
bewußt wird."
•^ Der charakteristische Abscheu der Homose.xuellen vor dem Weibe ist psy-
chologisch gleichzusetzen dem angeblich phylogenetisch vererbten Abscheu des
Menscheugescblechtes vor dem Inzest (vgl. die Ausführungen in Kap. I, S. 38).
18*
27(3 VIII. Zur Deutung^ der Odipus-Sage.
wie der Mensch, wenn er nicht beide Extreme zugleich gegeneinander
ausspielt und sie so einander das Gleichgewicht halten läßt, unglücklich
werden muß, wie er sich und seine Nächsten ins ViTderben stürzt.
Denn was uns der Mythus schaudernd vorführt, das spielt sich im
unbewußten »Seelen- und Gefühlsleben eines jeden einzelnen normal
Gewordenen bis auf den heutigen Tag immer wieder ab, aber nur das
Resultat dieses Prozesses, ein normales, gesundes Liebesleben tritt in
die wirkliche Erscheinung, ohne etwas von seiner dunklen Herkunft
ahnen zu lassen, und wir wüßten von diesen Vorgängen, trotz ihrer
mythologischen Darstellung und der Wiederkehr in unserem Traum-
leben niciits, wenn nicht die Menschen, die an der Bewältigung dieses
janusköpfigen Komplexes scheitern, die Neurotiker, dieses infantil ge-
bliebene Entwicklungsstadiuni in krassen und übertriebenen Formen
äußerten und in der psychoanalytischen Kur überwinden lernten.
IX.
Der Inzestkomplex in antiker Mythenbildung
lind Überlieferung.
Beiträge zur Sexualsymbolik.
„Es wird aber ein Bruder den anderen zum Tode
überantworten, und der Vater den Sohn, und die
Kinder werden sich empören wider ihre Eltern und
ihnen zum Tode helfen" (Ev. Matth. 10, 21).
,,Denn der Sohn verachtet den Vater, die Tochter
setzt sich wider die Mutter, die Schnur ist wider
die Schwieger, und des Menschen Feinde sind seine
eigenen Hausgenossen'' (Prophet Micha 7, 6).
Wie uns zum Nachweis des durchgängigen Vorkommens und der
Bedeutsamkeit inzestuöser Regungen beim Individuum die Träume
der Gesunden, die pathologischen Gebilde der Neurotiker und, wie
die vorliegenden Untersuchungen zu zeigen bemüht sind, auch die
Schöpfungen der Dichter zur Verfügung stehen, so haben wir aus
der Massenpsyche ganzer Völker den Beweis für die ursprünglich
mächtigen Wirkungen der Inzestregungen aus den beim Volke all-
gemein beliebten, zum Teil als Religion verehrten und seit uralten Zeiten
fortgepflanzten mythischen Überlieferungen geschöpft. Wir gingen dabei
von der psychologisch nahegelegten Annahme aus, daß die Mythen
gleichsam als Mittelgebilde zwischen Massenträumen und Massendich-
tungen aufzufassen seien ^) ; denn wie beim einzelnen der Traum oder
die Dichtung die im Laufe der Kulturentwicklung unterdrückten, un-
bewußt gewordenen Regungen abzuleiten bestimmt ist, so befreit sich
ein ganzes Volk zu seiner psychischen Gesunderhaltung in mythischen
oder religiösen Phantasien von diesen kulturwidrigen Urtrieben, indem
es gleichsam ein Masseusymptom zur Aufnahme aller verdrängten Re-
gungen schafft. Die Triebbefriedigung, auf die der einzelne unter der
Anforderung der Kultur verzichten muß, die gestattet er den nach
seinem Ebenbild geschaffenen mythischen Göttern-) und durch Iden-
tifizierung mit diesen in letzter Linie sich selbst wieder, wenigstens
in der Phantasie. Und da einer der ersten der Verdrängung ver-
^) Vgl. zu dieser Auffjissung Freud: Der Dichter und das Phantasieren.
Sammlung kl. Sehr. z. Neurosenlehrc, 2. Folge, S. 197 f.; Abraham: Traum und
Mythus; Kank: „Der Künstler" S. 36 und „Der Mythus von der Geburt des Helden".
2j Vgl. Freud: Zwangshandlungen und Keligionsübung (KI. Sehr. H).
27S IX. Der Inzestkomplex in antiker Mytheni)ildunf; und Überlioferung.
fallenden Komplexe das agressive Verhalten des Sohnes g'egen die
Kltt^rn. Verf^^ewalti^unn: der Mutter und Totschlags des Vaters ist, so
wird es uns nicht wundern, die Mythen aller Volker von diesen Phan-
tiisien erfüllt zu sehen. Eine so auffiillige Erscheinung konnte natür-
lich auch den ]\[ythenforschern nicht entgehen, nur wußten sie sie infolge
ihrer eigenen, den Mythensehöpfern analogen Verdrängungseinstellung
zu diesen jtsychisch anstößigen Themen nicht ihrer eigentlichen Be-
dt'utung nach zu Avürdigen. Sie bezogen all diese Mythen, sicherlich
mit einer weitgehenden Berechtigung, auf Vorgänge in der Natur oder
am Himmel und erreichten dadurch, wie einer ihrer Hauptvertreter')
naiv eingesteht, die Beseitigung einiger der empörendsten Züge der
klassischen Mythologie. Nun ist es ja nicht zu verkennen, daß eine
Reihe mythologischer Überlieferungen oder wenigstens einzelner Ele-
mente durch ZurUckführung auf Natur- oder Himmelsvorgänge neben
ihrer menschlichen Bedeutung oft noch einen guten naturmythologischen
Sinn erkennen lassen, der zweifellos einmal genau so in die fertigen
IMytheu hineingelegt wurde, wäe es heute die Natur- oder Astral-
mythologen tun, die damit nur eine Entwicklungsjjhase der Mythen-
bildung wiederholen,-') woraus sich eben die Berechtigung ihrer Deu-
tungen ableitet. Wenn man also beispielsweise den Odipus als Sonnen-
helden auffaßt, der seinen ihn zeugenden Vater, die Finsternis, er-
mordet, und sein l^ett mit der Älutter, der Morgenröte, aus deren
Schoß er hervorgegangen ist, teilt, so mag diese Erklärung-^) ja viel-
leicht bescheidenen Ansprüchen genügen. Zweifellos ist aber doch, daß
diese Vorstellungen vom Inzest mit der Mutter und dem Totschlag des
Vaters dem menschlichen Leben entstammen und daß der Mythos in
dieser menschlichen Einkleidung niemals vom Himmel heruntergelesen
werden konnte, ohne eine entsprechende ])sychische Vorstellung, die
gewiß auch — wie bei den heutigen Mythologen — bereits zur Zeit
der Mythenbiklung eine unbewußte gewesen sein kann. Psychologisch
wahrscheinlicher ist es jedoch, daß der Mythus ursprünglich, wie die
Traumerfxhrung, rein menschlich gedacht war und erst zu einer Zeit,
Avo der Mensch anfing, die ihn umgebende Natur und das All zu se-
') Max Müller: Essays (Bd. U, Leipz. 1S69, S. 143). Ebenso steht Cox(The
Mytholopy of the Arjan Nations) ;iuf dem Standpunkt, daß die Mythen durch die
Zurückfuhrimg auf Naturvorgänge ihre Anstößigkeit verlieren.
*) Meyer (Gesch. d. Altertums V. Bd.. S. 48): „In zahlreichen Fällen ist die
in den Mythen gesuchte Natursvmbolik nur scheinbar vorhanden oder sekundär in sie
hineingetragen, wie sehr vielfach in den vedischen und in den ägyptischen Mythen, sie
ist ein primitiver Deutungsversuch, so gut wie die bei den Griechen seit
dem V. Jahrhundert aufkommenden Mythendeutungen." Ahnlich sagt Wnndt in seiner
„Völkerpsychologie" (II. Bd. 3. Teil, Leipzig 190!), 8. 252): „Damit würde hier die
Mytiieiibildung wieder zu einer allegorischen Deutung. Auch ist e.s bezeichnend für
diese Mythendeutung, die eigentlich selbst schon die ursprüngliche
Mythenbild nng begleitet haben müßte, daß sie zwei Sageninhalto von
gänzlich abweichendem Charakter auf ein und dasselbe äußere Grundmotiv zurückführt."
^) Ignaz Goldziher: Der Mythus bei den Hebräern und seine gcschicbtliclio
Entwicklung. Leipzig 1876, S. 125.
Weltelternmytheu der Naturvölker. 279
xualisieren durch Unterlegung des Himmelsvorganges, ganz wie von
unseren Mythologen, seiner Anstößigkeit beraubt und damit in
seiner Existenz gerechtfertigt wurde. Ebenso verhält es sich mit den
zahlreichen als Befruchtungsmythen aufgefaßten Überlieferungen,
die ursprünglich rein sexuelle Bedeutung hatten, aber zur Zeit, als
der Mensch die Erde zu bebauen begann, auf die Fruchtbarkeitsträger
(Mutter-Erde) und -erreger (Samen- Vater) in der Natur tibertragen
wurde. Wenn darum Goldziher (1. c. S. 107) tiusführt, daß
„Elternmorde oder Kindestötungen, Brudermorde und Geschwister-
kämpfe, geschlechtliche Liebe und Vereinigung zwischen Kindern und
Eltern, zwischen dem Bruder und der Schwester die Hauptmotive des
JMythos ausmachen", so trifft wohl die Tatsache im weitesten Ausmaße
zu, aber nicht ihre Begründung, daß der Mensch diese Mythen aus
der Naturanschauung geschöpft habe; er hat sie vielmehr, in der
gleichen Auffassung und Tendenz wie die Naturmythologen, sekundär
auf die Natur bezogen.
1. Die Weltelternmythe.
Eines der großartigsten Beispiele dieser Übertragung der indi-
viduell-menschlichen Inzestregungen und -Phantasien auf das Weltall
bieten die namentlich bei den Naturvölkern weitverbreiteten sogenann-
ten „Weltelternmythen", die jedoch auch in den Kosmogonien ^) der
Kulturvölker nicht fehlen. Frobenius, der eine Eeihe derartiger
Überlieferungen bei Naturvölkern gesammelt hat^), charakterisiert die
Mythe folgendermaßen (S. 2G8 f.)
„Im Anfang der Dinge lag Vater Himmel eng gepreßt auf der Mutter
Erde", und zwar ist hinzuzufügen, daß sie sich in dieser Stellung be-
gatteten. „Der junge Sohn drängt die Eltern auseinander, so daß der Vater
als Himmel in die Höhe rückte."
Diese Auffassung findet sich nicht nur bei den großen Kultur-
völkern, Babyloniern, Ägyptern, Griechen u. a., sondern auch bei fast
allen Naturvölkern. Frobenius sagt darüber (268 f.):
„Im übrigen finden wir die Auffassung vom Himmel als dem Vater
und der Erde als der Mutter der Welt in ganz Ozeanien, in China, im
alten Indien, bei den Semiten, Griechen und unseren nordischen Völkern.
Auch in Amerika fehlt sie nicht und die Zuin haben sie ganz besonders
klar ausgesprochen." — »Ich habe diese Aussage in Nord- und Ostafrika,
in Mela und Polynesien, in Indonesien, bei den Nordwestamerikanern
u. s. Av. gefunden. Es ist eine harmlose, einfache Berichterstattung, die
aber genau die gleichen Elemente enthält, wie die vier Mythen der Kultur-
völker. In diesen sehen wir immer den Vater auf der Mutter in
mehr oder weniger ausgeprägter geschlechtlicher Verbin-
- ^) Vgl. Wuttke: Kosmogonien der heidnischen Völker. — Lukas: Grund-
begriffe der Kosmogonien,
-) Das Zeitalter des Sonnengottes. I. Band, Berlin 1904.
280 iX.. Der Inzeatkomplex in antiker Mythenbilduug und Überlieferung.
duno' Heften. Die Kinder revoltieren, P]s sind schon viele ge-
hören worden, und diese wollen nun ans Tageslicht". (S, 3:57 fg.) „In
Afrika ist sie in .loiuba hervorragend schon ausgebildet: Im Anfange liegt
Obatahi der Himmel und Odudua die Erde, sein Weib, in einer Kalabasse
fest aufeinandergepreßt. Da entsteht Streit und der edle Gatte reißl Odudua
das Auge aus, worauf die Trennung der Kalabasse und das Emporsteigen des
Himmels folgt. Der zweite Teil der Mythe wird von den Kindern Oduduas
i'rzählt. Der Knabe Aganju (das Firmament) und das Mädchen Jeniaja (die
Wassergöttin) heiraten einander und gebieren den Sohn Orungan, wieder
einen Himmelsgott, in dessen Namen aber Orun, die Sonne, stark hervor-
tritt. Orungan verliebt sich in seine Mutter, und da sie sich
weigert, seiner Lüidenschaft zu willfahren, verfolgt und vergewaltigt
er sie. Jemaja springt gleich darauf wieder auf die Füße und rennt
jammernd von dannen. Der Sohn verfolgt sie, um sie zu beschwichtigen,
und als er sie endlich fast erreicht hat, stürzt sie rittlings zu Boden. Ihr
Körper beginnt zu schwellen. Zwei Wasserströme quellen aus ihren Brüsten
und ihr Körper zerberstet. Ihrem zerklüfteten Leibe entspringen 15 Götter,
von denen der erste Dana, der Gott der Pflanzen, und der zweite Schango,
der Gott des Blitzes, ist. Als letzte werden jedesmal in der stets gleich-
lautenden Aufzählung die Sonne und der Mond genannt. Rekonstruieren
wir den Fall, so werden wir ein einziges Götterpaar zu setzen haben,
nämlich den Gott des Himmels und die Göttin der Erde [die Bruder und
Schwester sind]. Der Sohn ist der trennende Gott." (S. 268 fg.)
Ehe wir die Überlieferungen der Kulturvölker betrachten, sei
darauf hingewiesen, daß wir in diesen Mythen die reine Übertragung
des infantilen Ödipus-Komplexes auf das Weltall wiederfinden. In
diesen Kosmogonien wird aber nicht nur, wie Ehr enr eich bemerkt,
die Welt- -Schöpfung nach Analogie der tierischen und menschlichen
Zeugung gedacht", sondern diese Mythen verdanken ihre Entstehung
einer Tendenz, die wir in der Durchsetzung der der Verdrängung ver-
fallenen Urregungen des infantilen Inzestkomplexes zu erkennen glauben.
Ja, der Mythus reproduziert mit aller nur erwünschten Deutlichkeit die
ursprüngliche infantile Situation, in der beim Kind durch Belauschung des
elterlichen Geschlechtsverkehrs die sexuelle Eifersucht erweckt wird,
die dann nach Beseitigung des Vaters und Besitzergreifung der Mutter
strebt. Alle diese jMythen von der Entstehung der Welt oder der die
W^elt schaffenden Götter aus einem Urelternpaar sind also nur Über-
tragungen der infantilen Sexualphantasien auf die der Kindheit des
Menschengeschlechtes ebenso rätselhafte Weltentstehuug und werden,
da sie von der Annahme eines ersten Menschenpaares ausgehend, not-
wendig zur Folgerung von Inzestverbindungen (namentlich zwischen
Geschwistern) genötigt sind, zu großartigen Befriedigungen und Recht-
fertigungen der ursprünglich rein menschlichen Inzestphantasien.
Bei den Ägyptern l)esteht die große Götterneunheit nach Schneiders
Darstellung (Kultur und Denken der alten Ägypter, S. 435) aus Re, seinen
Kindern und Geschwistergatten Schu und Tefent, seinen Enkeln Keb und
Weltelternmythen der Kulturvölker. 281
Nut, denen weiter zwei Geschwister- und Gattenpaare, Osiris und Isis,
Set und Nephthys, als Kinder, Ees Urenkel, angeschlossen sind. Horus,
der Sohn von Osiris und Isis, bildet schon den Übergang zu den Königen
und Menschen. Die Entstehung dieser in ununterbrochener Inzestfolge
gezeugten Göttergeneration geht in der Einkleidung der Weltelternmythe
vor sich. „Im Anfang erfüllte das All ein grenzenloses Urwasser (Nun),
welches in seinem Schoß die männlichen und weiblichen Keime, oder die
Anfänge der zukünftigen Welt in sich barg". Der erste Schöpfungsakt
begann mit der Bildung des Eies aus dem Urwasser, aus dem das Tages-
licht Ra, die unmittelbare Ursache des Lebens in dem Bereich der irdi-
schen Welt herausbricht." (Brugsch: Eel. und Myth. d. Ägypt., 1888,
S. 101). Ist diese Kosmogonie eine detaillierte Wiedergabe des menschlichen
Befruchtungsaktes, so verbindet sie sich mit dem nach den Mythen im Käst-
chen (Ei) auf dem „Urwasser" schwimmenden neugeborenen Helden^)
noch enger dadurch, daß Nun sowohl „junges Wasser" als .Junges Kind"
heißt (1. c. S. 129). Ee zeugt nun — wie in der griechischen Kosmo-
gonie Gäa — aus sich selbst die ersten Götter, in deutlicher Weiteran-
lehnung an die von Freud im unbewußten Seelenleben aufgedeckten infan-
tilen Sexualtheorien^). Nur hat hier die Weltelternmythe die typische
auf Verdrängung zurückgehende Verschiebung in die zweite Generation
erfahren, was in der uns erhaltenen ägyptischen Überlieferung fast durch-
gängig durchgeführt ist (vgl. den Osiris-Mythus). Ees Kinder sind Schu
und Tefent (Luft und Wasser), ein Geschwistergattenpaar, die Keb und
Nut (Erde und Himmel), selbst wieder Geschwister und Gatten, zeugen,
die ursprünglich aufeinander liegen, bis sich ihr Vater Schu zwischen sie
drängt und Nut emporhebt und stützt (S chneid er S. 430). In der grie-
chischen Kosmogonie ensteht aus dem uranfänglichen Chaos Gäa, die
Erde, welche aus sich selbst, „ohne die freundliche Liebe" (Hesiod,
Theog. V. 132) den Uranos, den Himmel erzeugt und mit diesem,
ihrem Sohne sechs männliche and ebenso viele weibliche Titanen.
Diese Verbindung der Urmutter mit ihrem Sohn zur Schaffung der Welt
spielt in den uralten orientalischen Mythen und Kosmologien eine große
Eolle. '^) Im babylonischen Schöpfungsmythus entsteht aus dem Inzest von
Mutter und Sohn die erste Welt. „Im Anfang war das Chaos, das mit
dem Namen „Ozean" als Mann und „Meer" als Weib (Apsu und Tiamat)
bezeichnet wird. .... Beider Sohn Mummu .... drängt sich zwischen
sie ... . und zeugt mit seiner Mutter Tiamat eine neue Gene-
ration, d. h. eine neue Weltform." In ähnlicher Weise betrachtet das
babylonische Schema Mond, Sonne und Venus als Vater, Sohn und Tochter
oder Gattin; u. zw. erscheint die weibliche Gottheit sowohl als Gattin
des Vaters wie des Sohnes (W ine kler a.a.O. S. 79). Inder
ägyptischen Kosmologie erscheint Amon als Ka-mutef, d. i. als Gatte der
^) Rank: Der Mythus von der Geburt des Helden. 1909.
-) Rank: Völkerpsycholog. Parallelen zu den inf. Sex. Th. {Zenlralbl. II, H. 7/8.)
^) Vgl. Winckler: Die babylonische Geisteskultur und ihre Beziehungen
zur Kulturentwicklung der Menschheit. Leipzig 1907. Aus dieser Arbeit (S. 92 f.)
ist auch die oben angefühlte Stelle über den Tiamat-Mythus entnommen.
282 IX. I>i'i Inzestkomplex in antiker Mythenbildung und Überlieferung.
Mutter'' (Hruf^sch IS. 9i) und auch in dem s[)ätcr ausführlich zu be-
handelnden ägyptischen O s i r i s-Mytluis erscheint Osiris zugleich als Gemahl
und Sühn der Isis (Jeremias 1. c. 14G), wenngleich die spätere Aus
gestaltung der Sage, die noch im Märchen von Bitin und Anepu
nachklingt, den Elternkomplex durch den Geschwisterkomjdex ersetzt
hat. Ahnlich ist auch Izanagi in der japauischen Gescliwisterkosniologie
ursprünglich Sohn und Gatte zugleich (Stucken: Mose), wie auch der
indische Pushan sträflichen Umgang mit seiner Schwester Surga und
mit seiner Mutter hatte (Rigveda VI). Nach phJinizischer Lehre
(Jeremias 141) entbrannte der Geist in Liebe zu seinem Ursprung
und vermischte sich mit ihm. Nach griechischer Sage gilt die Plejade
Sterope als Mutter desOinomaos, aber auch als seine Gattin (Siecke:
Hermes als Mondgott S. 85), ähnlich wie Orion nach einer Version als
Sohn des CHnopioi» gilt, uährend er nach einer anderen Version der Gattin
der Oinopion, also seiner eigenen Mutter, Gewalt angetan hatte und dafür
vom Vater — ähnlich wie Ö d i p u s — gehlendet wurde (Roschers Lexikon).
Wir sehen in all diesen Doppelüberlieferungen, wie die x;rsprüngliche
Phantasie vom Mutterinzest allmählich als anstößig empfunden und daher
auf mehrere einander scheinbar widersprechende, ja ausschließende Über-
lieferungen verteilt wurde, die zusammeugefüg-t erst wieder den ursprüng-
lichen Sinn ergeben. So ist die Inzestphantasie bloß angedeutet, in dem bei
Herodot (II, 50 ff) mitgeteilten Fest von der Heimkehr des Ares (Horus)
aus der Fremde, der mit seinen Dienern den Zugang zu seiner Mutter
erkämpft, weil er ihr beiwohnen will (Jeremias S. 85, Anmkg. 8; vgl.
dazu Wiedmanns Kommentar). — Den Inzest mit der Mutter zeigt der
später behandelte griechische A tti s-Mythus (vgl. S. 290) sowie die Tam-
muz-Dusares-Mythen. ') Überhaupt ist die Anschauung von einem Sohn,
der in seine Mutter verliebt ist, wie Lenourmant-) nachweist, in der
asiatischen Mythologie ganz allgemein ; im altbabylonischen Mythus ist Dazi,
der hebräische Tammuz, Liebhaber seiner Mutter Istar. Bei den Ägyptern
heißt Amon der Gemahl seiner Mutter Neith. Indra . . . vereinigt sich mit
seiner Mutter, der Dahfina'" ') (aus Goldziher, S. 108 f.). Ahnlich „soll
auch Azhi Dahaka, eine Drudsh, halb Mensch halb Ungeheuer, mit seiner
Mutter Uda, welche selbst eine Dämonin ist, blutschänderischen Umgang
gehabt haben "■^) und ebenso wird dem Mithra ein Ehebund mit seiner
Mutter zugeschrieben (Hü sing: Beitr. z. Kyros-Sage, XI). — „In den
vedischen Hymnen gibt es noch keine Genealogien, noch keine
festen Ehen unter den Göttern und Göttinnen. Der Vater ist zuweilender
Sohn, der Bruder der Gatte, und sie, die in der einen Hymne die Mutter
ist, ist in einer anderen das Weib" (Max Müller, Essays 11, S. 68). —
Ähnlich ist auch noch in der Apokalypse 12, 1 die Himmelskönigin die
') Jeremias: Habylonisches im alton Testament, S. 146 Anmkg., S. 82, 141
und 108 Annik;;. 1.
'■') Lettre» asByriolopi'iues et epigraphiques, Paris 1.^72, II, 5. Brief.
^) Müller iiax: Hi.st. of Snnskr. Lit. p. 530; Essays II, 143.
") Au.s: Grundriß d. iran. Pbilol. hg. von Geiger u. Kuhn, bd. 2, !S. 603/4.
Der Kastrationskomplex. 283
Mutter des Siegers, während sie an anderer Stelle (21, 9 fg.) als dessen
Braut gefeiert wird. ^) „Mutter und Gemahlin sind im Mythus vom neuen
Zeitalter eins" (Jeremias: Bab. im A. T. S. 409). Auch in gnostischen
Lehren, die nach Bachofen (Mutterrecht, S. 385) den Verkehr mit der
Mutter gestatten, spielt die Inzestphantasie eine große Rolle. Von den
„zalilreichen Inzestmythen aller Völker, die von dem geschlechtlichen
Verkehr zwischen Vater und Tochter, Mutter und Sohn, Bruder und
Schwester handeln" führt W. Schultz in einer interessanten Arbeit^) die
Lehre der Ophiten an: „Im Anfang befindet sich der Mensch, der Gott
der Götter, der als grenzenloses Licht im Urgrund verharrt. Sein Gedanke
geht von ihm aus und ist der zweite Mensch, der Sohn des Menschen.
Zwischen dem Licht und der Finsternis schwebt das Pneuma, das erste
Weib, von welchem Vater und Sohn in gemeinsamer Liebe
durch Bestrahlung-') den Gesalbten und seine Schwester Sophia zeugen.
Das erste Weib hat also durch Ehebruch gefrevelt, da sie zwei männli-
chen Wiesen zugleich zu Willen war. Sie war zuerst Jungfrau, dann
Hure, dann Mutter, nämlich des Gesalbten, den sie zur Rechten und
der Soj)hia, die sie zur Linken aus sich entließ. Während dieser Gesalbte
mit seiner Mutter sogleich zum oberen Lichte und zur LTrgottheit zu-
rückkehrte, versank die Weisheit (Sophia) auf der Suche nach
ihrem Vater in die Finsternis, und aus ihr wurde, wie schon gesagt,
die Welt gebildet". In der Anziehung, die Mutter und Sohn, Vater und
Tochter aufeinander ausüben, ist noch ein Nachklang der in die zweite
Generation fortgesetzten Elterninzeste erhalten. Jungfrau, Mutter und
Hure in einer Person kennen wir bereits aus den typischen Phantasien
der Knabenzeit, die den frühen Eindruck von der Belauschung des elter-
lichen Verkehrs und der sich daran schließenden Wunschregungen (Tren-
nung des Weltelternpaares) in weiterer Ausbildung zur Dirnenphantasie
verarbeiten.
2. Der Kastrationskomplex.
Während in all diesen Überlieferungen der Inzest mit der
Mutter (oder in abgeschwächter Form mit der Schwester) betont er-
^) Auch der Minnesänger Frauenlob, der als erster das Wort „Frau" vor
dem „Weib" gepriesen haben soll, hat in einer Paraphmse das Hohe Lied, das früher
auf die Kirche als Braut Christi übertragen worden war, auf M;iria angewandt, die
darin zugleich als Gottes Braut und Mutter erscheint (vgl. Ettmüller: Hein-
richs von Meißen, des Frauenlobs, Briefe, Sprüche, Streitgedichte und Lieder. Qued-
linburg 1843).
^) Das Geschlechtliche in gnostischer Lehre und Übung (Zeitschr. f. Eel.
Psychoh Bd. 5, 1911, H. 3).
^) Es sei auf die frappante Ähnlichkeit dieser Systeme mit den VVahnbilduugen
der Dementia praecox und Paranoia hingewiesen. Man vgl. dazu die Analysen
von Froud (Schrebers Paranoia), Mae der (Dementia praec.) und Spielreiu
(Dem. pr.) im Jahrbuch f. psa. Forschungen 1910 und 1911), zu deren Ergänzung
C. G. Jung auf die Phylogenese rekurriert hat (Wandlungen und Symbole der
Libido, Jahrb. HI, 1911). Siehe auch Bleuler: Dementia praecox oder Gruppe
der SchiKophrenif^n (Deuticke 1911).
*>.S4 IX. Der Inzestkomplex in antiker Mythenbildung und Überlieferung.
scheint und das eifersUchtijje Vaterhaßmotiv zurUcktritt, findet — auf
dem Wefj^o der bereits charakterisierten \'^erteilung des Inzestkomplexes
auf mehrere Üi)erlieferun«^en oder Generationen — der Eifersuchtshaß
gecjen den Vater in einer Reihe anderer mythologischer Überlieferungen,
am deutlichsten in der auf ägyptische Einflüsse zurückgehenden grie-
chischen Kcsmogonie, einen ganz speziellen Ausdruck, den die modernen
Mvthulogen (Stucken, Jeremias u. a.) neben dem Inzest als das
zweite .Motiv der Urzeit" bezeichnen, und das wir, so wie das erste,
aus dem individuellen kindlichen Seelenleben psychologisch verstehen
können. Diese besondere Art der Rache am Vater verrät mit aller
nur erwünschten Deutlichkeit als den Grund der Auflehnung des
Sohnes die sexuelle Rivalität; denn der Haß gegen den Vater richtet
sich nur indirekt gegen dessen Leben, zunächst vielmehr auf dessen
Genitalien, deren der Sohn den Vater beraubt, um ihn so für den
Geschlechtsverkehr mit der Mutter untauglich zu machen.
Unter den sechs männlichen Titanen der griechischen Kosmogonie
sind Okeanos, Japetns und Kronos die berühmtesten, unter den sechs
weihlichen Titaniden Thetis, Rhea und Themis. Von Kronos heißt
es bei Hesiod (Theog. 138): „er haßte den blühenden Vater".
Aber auch dieser, Uranos, haßt seine Kinder (Theog. 155) und ver-
bannt sie in den tiefen Schoß der Gäa, ihrer Mutter. Diese richtet nun
an ihre Kinder die Auftbrderung, sich und zugleich auch sie selbst von
dem frevelhaften Vater zu befreien; ihre Anstiftung zur Rachetat begründet
sie mit der Rechtfertigung: .er übte zuerst solch schimpfliche Taten"
(Theog. 166.) Aber nur Kronos, der jüngste Sohn, der nach Ro scher s
Lexikon „besonders an die Mutter attachiert" ist, zeigt sich zur Tat bereit:')
.Mutter, ich willige gerne darein und möchte vollenden
Gern dies Werk ; denn um unsern ver ruf eu en Vater bekümmro ich
Gar nicht mich; er übte zuerst solch schimpfliche Taten."
(Theog. 107 ff.)
^) Wie in der von Fr oben ins (S. 335) mitgeteilten Mythe:
-In Polynesien liegen im Uranfange Rangi und Papa. Himmel nnd Erde, dicht
aafeinanJfirgepreßt. Himmel und Erde wurden als Erzeuger der Mt-nschen und Ur-
sprung aller Dinge bezeichnet. Die Mythe von Neuseeland erzählt, daß aie nie ge-
trennt gewesen seien, und daß die Kinder des Himmeis und der Erde danach ge-
stiebt hätten, den Unterschied zwischen Licht und Finsternis zn entdecken —
zwi-^cheu Tag nnd Nacht; denn die Menschen waren zahlreich geworden, alier die
Finsternis wählte noch fort. So ratschlagten die Sllhne Hangis nnd Papas miteinander
nnd sprachen : „Lasset uns Mittel suchen, um Himmel und Erde zu vernichten, oder
sie voneinander zu scheiden." Und es beschlossen die Kinder des Himmels und der
Erde die Eltern voneinander zu reißen. Nach dem Bemühen der anderen gelang es endlich
Tane-Mahuta, dem Waldgott, sie au.seinander zu dränpren. Da wehklagte der Himmel
nnd rief die Erde : .Weshalb dieser Mord? Warum diese große Sünde?
Warum willst du uns vernichten V Warum willst du uns trennen V Doch Tane gelang
das Trennungswerk. Er ist c», der die Nacht vom Tage getrennt hat." — In der
nach dem vorliegenden Text nicht genügend befi rundeten Wehklage des Vaters über
den ,.Mord" und der Mutter über die -Sünde" dürfen wir einen Rest der ehemals
durch den jüngsten Sohn vollzogenen Ödipus-Taten erblicken.
Die griechische Kosmologie, 285
Gäa stiftet nun ihren jüngsten Sohn an, den Vater
mit einer eigens zu diesem Zweck verfertigten Sichel zu entmannen.
„Als der Vater sich nächtlicher Weile wieder der
Ehegattin nähern will, schneidet ilim sein Sohn Kronos
die Zeugungsteile ab und wirft sie ins Meer " (Roschers Mythol.
Lexikon) :
„Und der gewaltige Uranos kam und braclite die Nacht mit;
Sehnsuchtsvoll nach Lieb umarmt er die Gäa und dehnt sich
Allwärts ; aber da griff aus dem Hinterhalt mit der Linken
Jetzo der Sohn ; mit der Rechten erfaßt er die riesige Hippe,
Lang und spitzigen Zahns, und mähte dem eigenen Vater
Schnelle die Scham nun ab und warf im Fluge sie wieder
Rückwärts; (Theog. 176 u. ff.)
Nach der Entmannung seines Vaters reißt Krono^ die Herrschaft an
sich und heiratet seine Schwester Rhea, die ihm drei Töchter,
Hestia, Demeter und Hera und zwei Söhne, Hades und Poseidon gebar.
Da aber ;Kronos fürchtete, seine Kinder würden ihm das
gleiche Los bereiten, das er selbst seinem Vater Uranos
bereitet hatte (Motiv der Vergeltungsfurcht), so verschlang er alle
Kinder "sofort nach deren Geburt. Als daher seine Gemahlin Rhea ihren
dritten, jüngsten Sohn gebären sollte, flüchtete sie auf Anraten ihrer Eltern
in eine Höhle des Idagebirges, wo sie den Zeus zur Welt brachte und
verborgen hielt. Den Vater täuschte sie, indem sie ihm statt des Kindes
einen in Windeln gewickelten Stein zeigte, den er auch verschlang. Zeus
wächst, von der Ziege (oder Nymphe) Amalthea gesäugt, rasch heran, und
bewältigt seinen Vater Kronos mit Hilfe der Mutter Erde, die dem Vater
ein Brechmittel eingab (nach Apollodor), wodurch zuerst der verschluckte
Stein und dann auch die Kinder Avieder zum Vorschein kamen. ^)
Nach der orphischen Theogonie soll sich aber die Befürchtung-
des Kronos tatsächlich erfüllt liajjen, da er mit Hilfe der Nacht ein-
geschläfert, gebunden und von Zeus, ganz wie Uranos, ent-
mannt wurde (Preller I.) Ebenso wiederholen sich aber auch alle
weiteren"' Folgen dieser Tat in der zweiten Generation, so daß der
Sohn mit all seinem Erleben und Tun eigentlich nur als eine Wieder-
holung des Vaters erscheint, eine im wirklichen Leben der Menschen
nur zu häufige Erscheinung, deren große Bedeutung „für das Schicksal
des Einzelnen"^) uns die Neurosenpsychologie erkennen lehrte. Auch
Zeus bemächtigt sich nach der Entmannung des Vaters der Herrschaft
^) Über Verschlacken und Ausspoien in der Kronos-Sage als infantile Zeugungs-
und GeburtBvorstellungen vgl. meine Abhandlung: Vülkerpsycholog. Parallelen zu
den inf. Sex.-Theorien (Zentralbl. 11., H. 7/8).
'^) Vgl. Jung im Jahrb. f. psychoanalyt. u. psychopath. Forschungen, I, 1
Wien u. Leipzig 1909, Freud: Traumdeutung und Rank: Mythus v. d. Geburt d.
Helden.
286 IX. Der Inzestkomplex iu antiker Mythenbildung nnd Überlieferung.
ilor Welt und heiratet ebenfalls seine Schwester Hera.
Aber dieses N.iehloben des Sohnes ist eher einer umgearbeiteten Neu-
auflage als einem bloßen Neudruck zu vergleichen. Wie sich diese
Abweichungen im Leben des einzelnen aus individuellen Zügen und
gewissen gegensätzlichen Reaktionen der jungen Generationen notwen-
dig ergeben, so bieten diese Neuauflagen dem Volke Gelegenheit —
und das ist vielleicht das wichtigste Motiv der Neuauflegung resp.
Fortsetzung des Mythus — den Fortschritt der Sexualverdrängung,
der ja gleichbedeutend ist mit dem allgemeinen kulturellen Fortschritt,
Rechnung zu tragen. So vollzieht sich z. B. iu der offiziellen Über-
lieferung die Bewältigung des Kronos durch seinen Sohn Zeus nicht
mehr in der Form der Fntmanaung wie bei Urauos, sondern in einer
abgeschwächten Form, welche die Art des Vollzugs nicht nennt; die
Entmannung wird nur noch nebenbei als eine SpezialÜberlieferung ge-
nannt, weil das in der Sexualverdrängung inzwischen vorgeschrittene
Volk darin nicht mehr ausschließlich den Ausdruck seiner eigenen
unbewußten Entmannungsgelüste gegen den Vater sieht, sondern bereits
mit Abwehrregungen (gesteigerte Vergeltungsfurcht, Angst, Abscheu,
Ekel etc.) darauf zu reagieren beginnt. Noch weiter geht dann die
Verdrängung in der dritten Generation, wo Zeus im Kampf gegen
Kronos und die Titanen von Typhon, einem hundertköpfigen Unge-
heuer, das die zürnende Gäa mit dem Tartarus erzeugt hatte, an den
Füßen geschwächt wurde, indem ihm mit einer Sichel (giinz wie bei
der Entmannung des Uranos) die Sehnen ausgeschnitten wurden.
Schon Schwartz^) sieht darin eine „in besonderer Weise modifizierte"
Form der Entmannung, die uns auf Grund der Sexual Verdrängung
verständlich wird, und aus der Üdipus-Sage schon bekannt ist. Die
beiden anstößigen Momente, daß die Tat durch den Sohn erfolgt
und daß sie rein sexuelle Motive und Folgen hat, werden beseitigt,
während das indifferente Material gleichsam als j\Iarke des Inzest-
komplexes bestehen bleibt: die Sichel (mit der die Entmannung
vorgenommen wurde) und die äußere Furm der Tat, das Abschneiden
oder Ausschneiden gewisser Körperteile. Das feindliche Verhältnis
zum Sohne, wie es Urauos dargeboten hatte, taucht dafür aber an
einer anderen Stelle des Mythus auf: im Verhältnis des Zeus zu
llephaistos, der einst wagte, seiner von Zeus hart bestraften Mutter
Hera beizustehen, und von dem erzürnten Vater aus dem Himmel ge-
schleudert wurde, so daß er erst nach eintägigem Falle halbtot zur
Erde stürzte. Hier behält also der Vater die Oberhand, was ja einer-
seits Bedingung der dauernden Weltherrschaft des Zeus ist, anderseits
aber darauf hinweist, daß das Motiv der Vergfeltungsfurcht bei dieser
7 O O _
verstärkten Verdrängung des Entmannungsgelüstes die Hauptrolle
spielt, denn dar Zeus-Mythus ist ja in vollem Gegensatz zu seinen
beiden Vorbildern vom Standpunkt des Vaters gearbeitet, ja in diesem
Sinne überhaupt als Reaktion auf die Bevorzugung des Sohnes in den
>) Urspraug dei ilylh., lierlin 18Ü6, S, 138 ff.
Die Kastration als Strafe für den Inzest 287
früheren Stadien aufzufassen, da ja auch Zeus nicht von einem seiner
Nachkommen, sondern eigentlich von einem entfernten Vorfahren, so-
zusagen einem indirekten Vater, geschwächt wird. Dieser Sieg des
Vaters Zeus, (Dy spater, deus pater, Jupiter) also der obrigkeitlichen
Gewalt in jeder Form, ist hier mit tielem Verständnis seelischer Vor-
gänge und Beziehungen zum Fundament der Weltordnung gemacht.
In dem Umstand, daß Kronos den Vater beim Geschlechtsver-
kehr mit der Mutter überrascht und entmannt^), ist die infantile Wur-
zel des Vaterhasses voll erhalten, der aus der sexuellen Rivalität um
die Mutter entspringt. Und wenn auch der Mutterinzest des Kronos
in Anlehnung an die ägyptische Mythologie zum Schwesterinzest ge-
mildert ist, so erscheint dafür der Mutterinzest noch in der vorigen
Generation, wo Uranos sich mit seiner Mutter Gäa vereinigt. Dürfen
wir diesen in allmählicher Abschwächung auf drei Generationen aus-
einandergezogenen Mythus wieder auf die ihm ursprünglich zu Grunde
hegende Phantasie reduzieren, so enthält er den bewußten Odipus-
Komplex, der auf Entmannung des Vaters und auf Vergewaltigung
der Mutter abzielt. Es wird uns aber hier auch ein Motiv für die
Verdrängung im Ödipus-Mythus verständlich. Dort werden beide in-
fantile Wunschreg ungeu in kausalen Zusammenhang und zur realen
Erfüllung gebracht: die Bedingung dieser vollkommenen Wuiisch-
erfüllung ist aber, daß beide Taten in Unkenntnis geschehen. In der
griechischen Kosmologie dagegen, wo beide Handlungen bewußt vollbracht
werden, weiß sich die Verdrängungstendenz doch so durchzusetzen,
daß der kausale Zusammenhang der beiden Wunschregungen gelöst
und sie auf zwei Generationen, eventuell weiterhin wie beim Kronos-
Mythus auf zwei Versionen verteilt werden, in deren jeder sich
aber meist noch Rudimente des verdrängten Komplementärwunsches
tinden. Während also in der Götter-Mythe die Verdrängung immer
einen der beiden Wünsche selbst betrifft, geht die Ödipus-Sage auf
eine vollkommene Erfüllung beider Wtinsclie aus, die sie jedoch nur durch
eine Abdrängung vom Bewußtsein erreichen kann.
Neben dem Wunschkomplex des Sohnes (Kronos) verrät uns aber
der M3^thus noch, daß Uranos wegen des geschlechtlichen Ver-
kehrsmitder Mutter entmannt wird. Das Motiv der Entmannung
als Strafe für den Inzest spielt im Phantasieleben des einzelnen und der
Völker eine ungeheure Rolle. Aus der reichen Überlieferung aller
Zeiten und Völker, die uns aus der individuellen Entwicklung des
Inzestkomplexes verständlich wird, seien hier einige Beispiele genannt:
So die griechische Fabel von Lykurgos wie sie Ilyginus erzählt:
Lykurgos leugnete die Gottheit des Dionysos und wurde zur Strafe
dafür von diesem trunken gemacht. Er trug Gelüste nach seiner
*) In Koschers Lexikon (siehe Kronos) ist bemerkt, daß die Greuel des hesio-
dischen Mythus oft nacherzählt wurden; „am liebsten von den Kirchen-
vätern, die an der anstößigen (Jeschichte eine gewisse Scliaden-
freude bekunden." Auch werde die Untat des Uranos oft nnr als Kastration im
eigentlichen Sinne dargestellt.
288 IX. Her TiizestkomplcN in antiker Mythenbildung und Überlieferung.
Mutter und vertilgte die Keben als schlimmes Gift. Aber in dem von
Dionysos vorhängton Wahnsinn tötet er sein Weib und seinen
Sohn (den er für eine Weinrebe hält). Auch soll er sich dabei
selbst einen Fuß statt einer Weinrebe abgeschnitten
haben (traditur unum pedom sibi pro vitibus excidisse).
Im lliiil)liclv auf die uralte und allbekannte phallische Bedeutuno^
dos Fußes, die auch die Symbolik der (.)di ))us-Sage beherrscht, dürfen
wir dieses Abschneiden des Fußes als Selbstentmannung weo^en des
Gelüstes auf die Mutter auffassen. Daß hier, wie in zahlreichen ande-
ren Inzestüberlicferun;^en (z. ß. Laios, Lot; später Noah, Mirrha),
der Durchbruch der verdrängten Wunschregungen dem übermäßigen
Alkoholgenuß zugeschrieben wird, verrät ein gutes Verständnis für
dessen psychologische Unentbehrlichkeit und Wirkung. Die Auffas-
sung des Fußabschneidens als P^ntmannung, die hier — wie im deut-
schen Glauben*) — mit der Selbstverletzung des Baumfrevlers in Zu-
sammenhang gebracht ist, wird auch von etymologischer Seite her
gestützt, da excido sowolil abschneiden (abhauen) wie auch verschnei-
den i. e. kastrieren heißt. Daß der Rasende auch seinen Sohn für
eine Weinrebe hält und wie eine solche mit dem Messer zu Grunde
richtet, scheint im Zusammenhang mit dem Abschneiden der Reben
auf ein Entmannungsgelüste am Sohn hinzudeuten, das uns — wie
die zweite Entmannung im Kronos-Mythus — als Ausdruck der Ver-
geltungsfurcht erscheint, die vom Sohne eine ähnliche Begierde nach
der Mutter, also der eigenen Gattin, fürchtet, und darum beide zu-
sammen, wie ein ertapptes und schuldiges Ehebrecherpaar, aus Eifer-
sucht tötet. Aus der infantilen Einstellung wird uns auch verständ-
lich, daß manche Völker als Strafe des Ehebruchs die Kastration ein-
geführt haben, wie z.B. die Abessinier (St oll: Geschlechtsleben in
der Völkerpsychologie S. 990), und daß diese infantile Form der Be-
strafung für eine verbotene Sexuallust auch heute noch in Form „kri-
mineller" Handlungen durchlmcht, wo sie \on Sitte und Recht be-
reits verpönt ist. ^) Konnte doch, nach einer Bemerkung von Storfer
(Vatermord S. 29 Anmkg.), ^auf gewisser, rein patriarchalischer Stufe
als frevelhafter Ehebruch nur Blutschande, Verkehr zwischen dem
^) Vgl. W. Mannhardt: Antike Feld- und Waldkulte aus nordeuropäischer
Überliefernngr erläutert (Berlin 1S77). Wie hier auf Bäurne, so erscheint andere Male
der Komplex auf Tiere übertragen. So sagt Plutarch (de Iside et Osiride, cap. 32):
„Die Ägypter schreiben dem Flußpferde richamlosigkeit zu; denn es soll seinen Va-
ter tüten und mit Gewalt seiner Mutter hei wohnen." Dazu bemerkt Jeremias (8. 396
Anmkg.): ^Ob in der zweiten Hälfte ein Doppelsinn beabsichtigt ist („du wurdest
geschändet'', statt „da hast .Schändung verübt"), wie Stucken will, so daß auch
das andere Motiv der Urzeit, das Motiv der Kastration des Urvaters (liahab Ps. 89,
11 wird entmannt) hineinspielt, wage ich nicht zu entscheiden."
'■') Ein Bei8j)iel für viele. Mitte Juni 1906 fand in Krems eine Schwurgerichts-
verhandlung gegen den 42jährigen Taglöhner Franz H. statt, der angeklagt war,
den Liebhaber seiner Frau, den Schmied Franz L., durch Schläge auf den Kopf be-
täubt und hierauf entmannt zn haben, welcher Verletzung der seit langem gehaßte
Nebenbuhler erlag.
Die Kastration als Inzest-Strafe. 289
physiologischen oder nur rechthchen Sohne und dem Weib des Patri-
archen in Betracht kommen." In den Phantasieproduktionen des ein-
zelnen und der Völker hat diese infantile Strafauffassung überraschend
häufig Ausdruck gefunden.^) So berichtet H. E. Meyer (Indogerm.
Myth. 1, 16, 27), daß die indischen Buhlgeister, die Gandharven,
wenn sie Weiber beschleiche n, um sie zu beschlafen,
die Gestalt des Vaters oder Bruders annehmen. Im At-
harveda (4, 37) ist eine Stelle, wo der eifersüchtige Gatte dem Gand-
Iiarven Rache droht: es heißt dort: „Des heraxitanzenden Gandharven,
des Gatten der Apsaras, mit dem Haarbusch, dessen Hoden zer-
reiße ich, dessen Rute schneide ich ab" (Deutsch von Kuhn).
Also auch hier die Entmannung für eine, an die Inzestträume gemah-
nende Art des blutschänderischen Verkehrs^). — Bestrafung des Ehe-
bruchs durch Entmannung findet sich auch in der Helen a-Sage. Nach
der Einnahme von Troja nimmt Menelaos noch am letzten Buhlen
der Helena, dem Bruder und Nachfolger des Paris, Deiphobos, diese
Rache :
Atque hie Priamiden laniatum corpore toto
Deiphobum videt ut lacerum crudeliter ora,
ora manusque ambas populataque tempora raptis
auribns et truueas inhonesto volnere naris (Vergil Aeneis VI, 494 fg.)
Diese Stelle hat zweifellos Goethe im zweiten Teü des Faust
(III. Akt) im Sinne gehabt, wenn er die Phorkyade zu Helena sagen
läßt :
^) Eine dem Motiv der Kastration scheinbar entgegengesetzte Strafe für den
Ehebruch findet sich in einer indischen Sage, die erzählt, daß der Indra Ahalya die
schöne Gattin des Rishi Gautama lieb gewann und verführte. Im Zorn verflucht der
betrogene Ehegatte den Verführer, auf seinem Körper tausendfach das Glied zu tra-
gen, mit dem er gesündigt. Auf die verzveeifelten Bitten Indras verwandelt er jedoch
bald diesen traurigen Schmuck in 1000 Augen, mit denen Indras Körper nun besät
ist (Vgl. dazu den indischen Varuna, den griechischen Argos und den nordischen
Thunar; über den letzten Zeitschr., für deutsche Mythol. III, 86 — 107 und S. 146 eine
ähnliche phallische Darstellung). Daß diese Strafe einer Schmähung entspricht, ist
klar (auch Ödipus wird an den Augen gestraft), daß sie aber nur eine ursprüng-
liche Entmannung durch das Gegenteil darstellt, zeigt eine im „Amethyst" (Juli 1908)
mitgeteilte Erzählung aus 1001 Nacht, wo ein Mann, dem drei Wünsche freistehen,
diese durch den ersten unüberlegten vergeudet. Zuerst wünscht er nämlich den gan-
zen Leib mit männlichen Gliedern bedeckt, merkt aber bald die daraus entspringende
Plage und wünscht nun alle weg, so daß er selbst keinGliedmehr hat.
Er ist schließlich froh, den 3. Wunsch zur Wiedergewinnung seines eigenen Gliedes
noch frei zu haben.
^) Übrigens werden die Ghandarven von den Weibern der Menschen weg zu
ihren eigenen gescheucht (vgl. oben „des Gatten der Apsaras"), wozu Meyer be-
merkt, daß ein magyarischer und ein niederdeutscher Fluch den Verfluchten
an seine Mutter weist; brüe dine Moor (Brem. Nds. Wb. 1, 146). — Bekannt-
lich hat auch eine Reihe von slawischen Flüchen den Geschlechtsverkehr mit der
Mutter zum Inhalt.
Bank, Das Inzostmotiv. 19
290 IX. DtT Inzostkomplox in antikor Mythcnbildnng und Überlieferung.
Phorkyas: Hast du vergessen, wie er deinen Deiphobos,
Des totgekämpften Paris Hruder, unerbört
Verstiinin ehe, der starrsinnig Witwe dicb erstritt
Und gliicklicb kebste? Nas' und Olireu scbnitt er ab
Und stUmmelte mebr so; Greuel war es anzuscbauu.
Ahnlich ergeht es in der Gral-Sago dem Zauberer Klingsohr, der
beim Ehebruch ertappt, von dem betrogenen ]\Ianne kastriert wird
und nun die Zauberkunst erlernt, um seine Schmach zu rächen
(Wolfram: Parzival str. 657). Bekanntlich leidet der ursprünglichen
Sage nach auch König Anfortas an einer unheilbaren Wunde des
Schambeines, die ihm der böse Klingsohr, wie zur Revanche, zugefügt
hat und in der wir eine Abschwächung der Entmannung erkennen.
Eine weitere AbschwJlchung hat die Überlieferung in R. Wagners
Bühnenweihfestspiel Parsifal erfahren, wo Klingsor zwar einerseits
sich selbst entmannt („Ohnmächtig, in sich selbst die Sünde zu er-
töten, an sich legt er die Frevlerhand"), anderseits aber dem durch
ein schönes Weib zum Geschlechtsverkehr verführten Anfortas bloß
den „heiligen Speer'^ entwendet, was Avie ein letzter Ausläufer der
Welteltemmythe klingt, wo auch dem Manne während des Geschlechts-
aktes der heilige Phallus abgeschnitten wird (Speer: Phallus und ver-
derbliche , Waffe in einem' Symbol). ') Die Klingsor-Episode führt uns
wieder auf die Selbstentmannung zurück, die wir als Strafe für das
verpönte Inzestgelüste in der Ly kurgos-Sage fanden. Als Selbst-
bestrafung für den Inzestwunsch findet sich die Entmannung im ]\Iy
thus von Attis, der mit der Göttermutter Kybele bald als Sohn, bald
als Geliebter verbunden erscheint, 2) und schließlich von seiner eifer-
süchtigen Mutter, die ihn keiner anderen Frau gönnt, bei seiner
Hochzeit in Wahnsinn versetzt wird, so daß er sich unter einer
Fichte selbst entmannt (Arnobius: advers. gentes 5, 5).
Nach Pausanias (7, 19, 9 uff.) ist Attis ein indirekter Sohn des
Zwitterwesens Agdistis, das von den Göttern entmannt wird. Aus dem
Blut entsprang ein Mandelbaum, dessen Früchte eine Tochter des Fluß-
gottes Sangarios in ihren Busen steckte, woduich sie schwanger wurde
und den Attis gel)ar, in den sich, als er zum schönen Jüngling herange-
wachsen war, Agdistis verliebte und ihn aus Eifersucht zur Selbstentraan-
nung treibt. Von Zeus erbittet sie seine Wiederbelebung, erhält jedoch
*) Ähnlich ist es ein Bymbolischer Aasdrack der Enlmannnng, wenn Siegfried
in Wagners: Ring des Nibelungen seinem Großv.-iter Wotan, der ihm den
Weg zu Brünnhilde verwehren will, mit seinem Schwert den Speer (das Sym-
bol des männli'chen Gliedes) zerschlägt. Von da an ist Wotan- machtlos und
triit nicht mehr liaiideind auf.
^) In dem Hericht des Diodor (3, 58, 59) ist noch ein Nachklang der einfachen
menschlichen Verhältnisse erhalten. Kybele wird dort als Tochter des Königs von Phry-
gien auH;,'e8etzt und wird herangewachsen von Attis, dessen Abstammung hier nicht
genannt ist, go-cliwängert, worüber ihr Vater so maßlos erzürnt, daß er den Jüngling
ti'tet und seinen Lei(;hnam unbestattct liegen läßt. — Kybele irrt wahnsinnig im
Lande omher. Vgl. zu dem Mythu^* Hepding: Attis, seine Mythen and sein Kalt.
Das inzestuöse Gruudmotiv der Kybele-Mysterien. 291
nur die Gnade, daß der Körper des Attis unverweslich bleibe, seine
Haare (Symbol der männlichen Kraft) immer wachsen, sein kleiner
Finger (Phallos) immer lebe und allein in beständiger Bewegung
bleibe. Damit zufrieden bestattete Agdistis den Körper des Attes. Aber
sein Glied begrub sie besonders und es wuchsen aus dessen Blut Veilchen
(wie aus dem Blut des Agdistis-Penis der Granatbaum), mit denen der
Fichtenbaum bekränzt wurde. Wie hier die Wiederherstellung der Zeugungs-
kraft mehrfach in symbolischer (naturmythologischer) Einkleidung erfolgf,
so ist auch die Entmannung selbst in mehrfacher Doublcttierung vor-
handen. Nicht nur Agdistis und Attes werden direkt entmannt, sondern
an den Friihlingsfesten der Göttermutter Kybele wurde als symbolischer
Ersatz eine mächtige Fichte gefällt und im Tempel der Kybele wieder
aufgepflanzt. Bekannt ist, daß die Kybelepriester die Selbstkastration
auch an sich vollzogen, die späterhin jedoch durch Schnitte in den Arm
ersetzt wurde. ^) Über Attis heißt es bei Koscher: Er erscheint als
Sohn der Kybele; als er aber ein schöner Jüngling gewor-
den war, liebte ihn Kybele,^) die ihn am Ufer des Gallosflusses
liegen sah : der Sohn wird zum Geliebten, was derlnhalt der
Mysterien des Attis und der Kybele gewesen zu sein
scheint. Clemens. Alex, Protr. 2. — Aber der Liebesbuud mit dem
schönen Jüngling, der sich ganz ihrem Dienste ergibt und
ihr Treue gelobt, wird durch ein grausames Verhängnis gestört:
Attis entmannt sich selbst zur Strafe für seine Untreue
und stirbt.
Wie die Kastration ursprünglich als Strafe für den Inzest zu
fassen ist, so erkennen wir in der lür das InzestgelUste erfolgenden
Selbstentmannung den uns schon bekannten typischen Zug nach Selbst-
bestrafung, der regelmäßig als Folge aus der Verdrängung eines verpönten
Wunsches hervorgeht und nichts anderes zu sein scheint, als der der
Verdrängung anheimgefallene Impuls zur verbotenen Tat selbst, der
sich nur jetzt im Rahmen der geänderten Komplexkonstellation (für
Inzest abschneiden des Gliedes) auf die eigene Person richtet. Diese
für alles psychische Geschehen so überaus charakteristische doppel-
seitige (ambivalente) Verwertung der Entmannung im Sinne der eifer-
süchtigen Rache am Vater und der reuigen Selbstbestrafung an dei-
eigenen Person, wird uns — wie das ganze Kastrationsmotiv über-
haupt — nur aus den durch Freuds Untersuchungen angebahnten
tiefen Einsichten in das individuelle Seelenleben, vornehmlich beim
Kinde und Neurotiker, verständlich.
^) Ein ähnlicher Kult war in Syrien der syrischen Göttin geweiht. (Stoll, I. c.
648). — Auch der indische Linga-Knlt wird auf eine kompensatorische Überwertung-
der verlorenen Manneskraft zurückgeführt (1. c. S. 639), was psychologisch wahr-
scheinlich auf die Angst vor dem etwaigen Verlust des geschätzten Penis zurück-
gehen mag.
^) Der Kybele wird auch ein blutschänderisches Verhältnis mit ihrem Vater
zugeschrieben, da sie dem Flnßgott ^angarios, als dessen Tochter sie auch erscheint,
die Flußnymphe Nikeia gebar.
292 IX. Der Inzestkomplt'x in antiker M>i;henbildun<^ und Überlieferung.
Schon in der Traumdcutunn^ (2. Aufl. S. 181) hat Freud gele-
gentlich der Darstollurg des ibindlichon Verhältnisses zwischen Vater
und Sohn auf den „Kastratiunswunsch" als Ausdruck des eifersüchtigen
Hasses gegen den \'^ater hingewiesen und dann in s})ilteren Publika-
tionen') diesen „Kastrationskomplex" auf Grund seiner reichen psycho-
analytischen Erfahrung dem allgemeinen Verständnis näher zu bringen
gesucht. Zunächst wird der Zusammenliang dieses Komplexes mit dem
Infantili'U handgreiflich, wenn man an die allgemein verbreitete An-
drohung VDii Eltern und rflegcpersonen denkt, dem ja „hauptsächlich
von der Peniserregung beherrschten" Knaben das Glied abzuschneiden,
wenn er es nicht unterlasse, sich durch Reizung desselben mit der
Hand (Kinderonanie) Lust zu verschaffen. — »Die Wirkung dieser
Kastrationsdrohung ist im richtigen Verhältnis zur Schätzung dieses
Körperteiles eine ganz außerordentlich tiefgreifende und nachhaltige."
Beim Kind verbindet sich dann, wenn es — in der Kegel durch die
Belauschung des elterlichen Koitus veranlaßt — beginnt, mit inzestuösen
L'hantasien auf die Mutter (oder Schwester oder sonst der verbotenen
Sexualhandlung entsjjrechend verbotenen Objekte) zu masturbieren, die
meist vom Vater ausgegangene Kastrationsdrohung auf jede Art von
verbotenen Lustgewinns an den Genitalien auszudehnen, wozu auch
der Inzest und weiterhin der Ehebruch überhaupt gehört. Zugleich
aber wird in der liegel auch die Eifersucht und feindselige Einstellung
zum Vater sowohl durch das Masturbationsverbot wie durch die Be-
lauschung des Koitus verstilrkt und es wird uns nicht wundern, wenn
es diesen angedrohten und gefürchteten Verlust mit der beim Kinde
üblichen „Ketourkutschen"-Psychologie auf den Vater zurück-
projiziert. Ein besonderes Motiv erhält diese Rückprojektion der
Kastrationsdrohung auf den Vater durch die bereits geweckte Eifer-
sucht des Kindes wegen der Zärtlichkeit der Mutter. Und da das
Kind in der Regel merkt oder ahnt, daß der von der Mutter vorge-
zogene Vater im Besitze eines größeren Penis ist, wird es verständlich,
daß er den Vater gerade dieses Vorzugs berauben will, um ihm auf
diese Weise die Gunst der Mutter zu entziehen. In diesem Zusammen-
hang wird uns auch die Entmannung als Strafe für den Inzest ver-
ständlich, der nur als eine andere Art des verbotenen Spielens mit
den Genitalien angesehen wird. — Von da zweigt auch ein Motiv
zur Selbstentmannuug ab: den Sohn, der den Vater aus Eifersucht
auf die Mutter zu entmannen wünschte, trifft, wenn er selbst den Inzest
mit der Mutter wünscht oder in der Phantasie vollführt, die gleiche
Strafe, die ihm in der Kindheit für das verbotene Spielen zugedacht
war, und di(! er auf den Vater projiziert hatte.
') „Über infiintile Sexualtheorien" in der 2. Folge der „Siimmlung kleiner
Schriften zur Neurosenlehre", Wien u. Leipzif^ 1909, S. 169 uff. und : „Analyse der
Phobie eines öjährig. Knaben" im Jahrb. f. jmychoanalyt. u. [isycbopathol. For-
schungen I (1909) S. 3, 23/24,
Kastrations-Symbole als Inzest-Strafen. 293
Wie nun die infantile Neigung- des Sohnes zur Mutter und ihre
Schicksale das spätere Liebesleben des Mannes beeinflussen, ja beherr-
schen, so entbehrt auch die sexuelle Eifersucht des Erwachsenen, die
das Kind in seinem Verhältnis zu den Eltern erwarb, niemals der
infantilen Wurzel (vg-1. Freud: Drei Abhandlungen z. Sexualtheorie),
das heißt des inzestuösen Affekts, und es ist nur folgerichtig, wenn das
erste Rivalitätsverhältnis zum Vater in seinem weitesten Umfang vom
Erwachsenen später auf alle anderen Nebenbuhler übertragen wird
(vgl. die erste Übertragung auf den Bruder; Kap. XIII).
Von diesen Masturbationsphantasien mit ihren verbotenen Ob-
jekten und schweren Selbstvorwtirfen uud Selbststrafen führt ein
breiter Weg in die künstlerische Phantasietätigkeit hinein, deren In-
tensität, Reichhaltigkeit und Affektbesetzung zum größten Teile aus
den im späteren Leben unbefriedigten infantilen Sexualquellen ver-
ständlich wird. Nur ein Seitenpfad sei hier angedeutet, der über den
Rahmen der Kastrationsphantasie nicht hinausführt.
Wie bei Lykurgos, Ödipus und Zeus der dritte Fuß, so dient andere
Male der ,, elfte" Finger (vgl. die Greschichte von Hans Carvel und seinem
Ring bei Rabelais und Groethe') als Symbol des Penis und vertritt ihn
bei der Entmannung. Eine solche Phantasie findet sich, gleichfalls in Ver-
bindung mit dem ersetzenden Baumfrevel und wie bei Kronos mit Ver-
wendung der Sichel, in Ibsens „Peer Gynt". In der ersten Szene des
dritten Aufzugs, wo Peer Gynt sich bemüht, eine mäclitige Kiefer zu
fällen, erscheint plötzlich in seiner Nähe ein junger Bauernbursche, der
sich unbemerkt glaubt und, um nicht in den Krieg ziehen zu müssen,
sich mit einer Sichel den Finger abschneidet:
Peer: Doch abhau'n — ? Von einem Glied sich trennen — ?
Ja denken das; wünschen es; doch es tun.
Es wirklich vollbringen — ? Wie soll ich's nennen?
^) Zur sexuellen Symbolik des Fingers sei ans Goethes Notizbuch von der
schlesischen Eeise (1790) das folgende mit verschiedenen Lesarten überlieferte Ge-
dicht angeführt:
Köstliche Ringe besitz ich gegraben von köstlichem Stein,
(gegrabne fürtreffliche Steine)
hoher Gedanken und Stjls,
(fasset ein lauteres Gold).
Teuer bezahlt man die liinge, (geschmückt mit feurigen Steinen)
Blinken hast du sie oft über dem Spieltisch gesehn,
Aber ein Ringelchen kenn ich, das hat sich anders (gewaschen),
Das Hans Carvel einmal (traurig) im Alter behagte (besaß).
Unklug schob er den kleinsten der zehen Fing'Or ins Ringchen,
Nur der größte gehört würdig, der eilfte hinein.
Die Geschichte von Hans Carvel und seinem Ring war vor Goethe oft behandelt
worden; so in des Florentiners Poggius liher facetiarum in dem annulus überschrie-
benen Stück, wo Hans Carvel Franciscus Philelphus heißt; auch Rabelais erzälilt
im Pantagruel (HI, 28 zu Ende) die Geschichte vom anneau Hans Carvels aus-
fiihrlicli ; desgleichen Ijafontaine in dem ebenso benannten conte und Ariost in
der Satire L'Anello; Fu giä un Pittor.
294 IX. Der Inzestkomplex in antiker Mvt]ienl»il(luni:ij und Lberlieferun«^.
Tnd im n. Auf/ii<; kommt T'oer Gynt gerade zum Leichenbogäugnis dieses
Mannes in die Heimat ziiiiick imd liört die Grabrede des (icistlicliei^ :
„Ilir alle kanntet ihn, mit seliliclitem Ilaar,
Die Stimme solnvacli, unmännlich seine Haltung;
Wenig begabt, stellt er sieh sehüchtern dar;
Es ran<r das Wort nach rechten Sinns Eiitfaltune:.
Doch denkt ihr wohl bei dieses Toten Asche.
Wie stets er trug die Rechte in der Tasche.
Die Hand stets in der Tasche : seht das drückte
Das ganze Wesen dieses Menschen aus; —
Und dann, wie er sich trug und lächelnd bückte,
Trat er verlegen in ein Nachbarhaus.
Stets lebt er einsam, stille Wege ging er;
Doch ob er auch ein Fremdling bei uns blieb
TTnd sein Geheimnis wahrte wie ein Dieb,
Die Hand, wir wußtcns, — hatte nur vier Finger."
(Übersetzt von Passarge, Reclam.)
Wie hier die Kastrationsphantasie als Bestrafung des unverbesser-
lichen Masturbanten erscheint, so hat Ibsen in den „Gespenstern" die
zweite typische Strafphantasie des Onanisten auf Grund einer medizinisch
unhaltbaren Vererbungstheorie, die nur als Ausdruck des onanistischon
Schuldbewußtseins verständlich ist, dargestellt. Verblödung, Rückenmark-
schwindsuclit und Paralyse glaubt der exzessive Onanist als Folgen seines
Lasters erwarten zu müssen ; und wenn diese Folgen auch auf Grund des
(Ödipuskomplexes dem Vater zur Last gelegt werden, so verrät doch der
Dichter, wie der Neurotiker, die dahinter liegenden persönlichen Selbst-
vorwürfe :
Oswald:.. . . . und dann erfuhr ich die Wahrheit. Die un-
faßbare Wahrheit! ich hätte mich fern halten sollen von diesem jubelnden,
glückseligen Jug^endleben mit den Kameraden. Es sei für meine Kräfte
zu stürmisch gewesen. Selbstverschuldet, also!"
(Übers, v. Borch, Rec]am .S. 55.)
Tn dem .Tugendwerk eines anderen Dichters, auf dessen psychischen
Zustand die Masturbation erwiesenermaßen keinen geringen Einfluß ausübte,
findet sich das Abschneiden des kleinen Fingers, das an einem
Kinde zu abergläubischen Zwecken vollzogen wird. In Kleists „Fa-
milie Schroflenstein" sagt Bar nahe:
.Drauf schnitt die Mutter, die's versteht.
Dem Kinde einen kleinen Finger ab;
Denn der tut nach dem Tod mehr Gutes noch.
Als eines Auferwachsenen ganze Hand
In seinem Leben , . . . "
Weibliche Analoga zur Kastrationsdrohung. 295
Und es wird gleichfalls nicht als Zufall angesehen werden dürfen,
wenn in Shakespeares Erstlingswerk : „Titas Andronicus" das Abhauen
der Hand eine so bedeutsame Strafrolle spielt.
Beziehen sich diese symbolischen Strafen wie natürlich nur auf das
männliche Genitale, so kennt doch die Überlieferung auch das entsprechende
weibliche Gegenstück, das auch hier sich mit der für die Masturbation an-
gedrohten Strafe berührt, wenn auch nicht direkt mit ihr zusammenfällt.^) Ist
die Strafdrohung für die Masturbation das Abhauen der Finger oder Hände,
wie im Grimm' sehen Märchen Nr. 31, wo die Hände, so lange sie rein
sind, unversehrt bleiben oder wie in Shakespeare Erstlingswerk „ Titus
Andronicus", wo daneben auch das Ausschneiden der Zunge vorkommt,
so ist die weibliche Strafe für den verbotenen sexuellen Genuß überhaupt
der Verschluß des Genitales durch Zunähen oder mittels eines Schlosses.
Eine derartige Episode erzählt Diderot in seinen „Bijoux indiscrets'-', in-
dem er den Ehebruch im Kongo mit dem Verlust des sündigen Gliedes
bestraft werden läßt, was gewöhnlich den Tod nach sich zieht. Er erzählt
dort die Geschichte einer ehebrecherischen Frau, die ihren früheren Lieb-
haber der Notzüchtigung beschuldigt ; schon sollte er die Strafe empfangen,
als der mysteriöse Ring ihren Verrat enthüllt, worauf sie selbst zu der ana-
logen Strafe verurteilt wird: nämlich ihr Kleinod durch ein Florentiner
Vorhängeschloß gefangen gehalten7zu sehen. ^) Die Strafe des Zunähens
für den Inzest mit dem Sohn findet sich, allerdings auf den Mund ver-
schoben, wie beim Mann auf die Nase, in der Legende vom heiligen
Andreas (Kap. X, S. 345 f.). Auch als Strafe für den Ehebruch der Frau
wird das Zunähen der Lippen nach einem Bericht des „Avenir du Tonkin"
in China geübt. Über den uralten Brauch der Naturvölker, die Vagina
der Mädchen zur Erhaltung ihrer Jungfernschaft zuzunähen, findet man
ausführliche Notizen bei P 1 o s s - B a r t e 1 s : Das Weib und Stell (1. c
549 f.). Die gleiche Vorstellung, daß die Schwierigkeit der immissio penis
bei Mädchen auf einem gleichsam zugenähten Scheideneingang beruhe,
kommt in dem Jargonwort für koitieren, „trennen", zum Ausdruck.
Auf die infantile Drohung des Zunähens scheint der deutsche Glaube hin-
zuweisen, der die Libelle als Teufelsnadel bezeichnet und vorgibt, sie
nähe schreienden Kindern den Mund zu (Rochholz: Aargau-Sagen 1, 347).
Dies „Teufelsnodle" heißt aber auch Wasserjungfer.
Wie Finger und Fuß, so wird häufig auch als symbolischer Ersatz
der Kastration die Nase abgeschnitten, 2) wie in der Deiphobos-Rache
^) Bei den Hottentotten ist nach St oll die Amputation von Fingergliedern
auf die Frauen beschränkt (S, 273) und erfolgt nach dem Ableben des Ehemannes.
^) In der als besonders sittenlos charakterisierten Zeit der Königin Johanna
von Neapel wurde von den Venezianern die phj'sische Treue der Frauen durch eiserne
Keuschheitsgiirtel, die mit Schlössern versehen waren, geschützt (siehe Hei hing:
Gesch. d. weibl. Untreue).
^) Über den symbolischen Ersatz des Phallus durch die Nase belehrt uns der
samt seinen Parallelen von Köhler (Kl. Sehr. I, 111) mitgeteilte Schwank: La
bague magique, wo ein Jüngling mittels eines Zauberringes die Nase einer anderen
Person beliebig verlängern oder verkürzen kann, und sich dadurch eine Frau
verschafft. In der 39. Novelle des Nicolas von Troyes, „Grand Paragon
296 IX. Der Inzestkomplcx in antiker ^rytlionhildiini,' iiiid llljorliefcrun«;.
neben derselben, p;loichsam als Verdoppelung und Vervielfachung der auch
den anderen Nebenbuhlern geltenden Rachegt^liiste, Die Nase tritt in Traum,
Neumse und \'olksiil)erlieferung in ty])ischer Weise als Symbol des Penis
auf. ') Nicht sowohl infolge ihrer histologischen Verwandtschaft als erectiles
(lewebe (K raf f t - Eb i ng : Psychopatli. sex. 9. Aufl., S. 28) oder ihrer
biologischen Beziehunn^, die Fliess aufdeckte, sondern offenbar infolge
ihrer formalen Ähnlichkeit, auf die ja schon der antike Glaube ans})iclt,
der besagt: robur viri cognoscitur ex nasone. So wird es verständlich,
daß bei den Indianern Ehebruch mit Abschneiden oder Abbeißen der Nase
bestraft wird (Franz Holbing-: Gesch. der weil)l. Untreue), und so erklärt
sich auch der für die Betroffenen überaus schändliche Ersatz der Ent-
mannung durch Abschneiden der Nase oder der Ohren, der den als un-
männliche und feige ]\Iahner zurückgewiesenen Kriegsboten so häufig wider-
fahren ist. Nach altem deutschen Kecht schnitt man Unfreien und Sklaven
überhaupt zur Strafe die Nase ab (Grimm: Deutsche Rechtsaltertümer,
4. Aufl. I, 1899, S. 468 ff.). Den gleichen geheimen Sinn" der Kastration
des Novelles iiouvelles" (Ausg'. v. E. Mabille, Paris 18G9) haudelt es sich nicht um
die Nase, sondern um das mäunh'che Glied, welches durch den Zaaberring'(^- Va-
gina) beeinflußt, um einen halben l'"uß wächst (Erektion) und ebenso wieder ab-
nimmt, wenn das entgegengesetzte ZL-ichen gemacht wird. (Vgl. dazu Kryptadia 1,
77. 307. 349; 4, 203. — Bedier Les fabliaux- p. 446. — Kabrizi: Urigine dei pro-
verbi 25. — Imbriani: Conti pomigl. p. 89. — Friedr. Müller : Romsprache S. 168).
In Ferdinand Kaimunds Märchenspiel : „Der Barometermacher auf der Zauberinsel"
wird das Wachsen der Nase durch Essen von Feigen bewirkt (11, 16.) Vgl. dazu
;iuch Kühler, (Kl. Sehr. I, S. 588). Über den Zusammenhang von männliehem Glied
und Nase hat F. S. Krauß in seinem Artikel: Selbstentmaunung (Sexual-Probleme,
Juli 1'.'08) gehandelt und in seiner „Authropophyteia" (IV, 299) führt er dazu ein
serbisches Sprichwort an. Auch die Beziehung zum Baum zeigt sich im Volks-
glauben erhalten, wenn ein Mann, der ein Geschwür an der Eichel bekommt und den
Baum, der als Wohnsitz des Krankheitsgeistes gilt, nicht finden kann, um ihn zur
lleilung zu fällen, sich die schwärende Eichel selbst abschneidet (Krauß 1. c). Zur
Selbstentmannung vgl. auch Hovorka: Die Selbstverstümmelungen des männlichen
Gliedes bei einigen Völkern des Altertums und der Jetztzeit, mit besonderer Berück-
sichtigung der sogen. Infibulation u. s. w. (Mitt. d. "Wiener anthropolog. Ges. 1894,
S. 131—141).
^) Ein anderer symbolischer Ersatz der Kastration ist das , Abschneiden" der
Haare, worauf schon Kiklin in seiner Studie „Wunscherfüllung und Symbolik im
Märchen" (S. 84) hingewiesen hat: ,Das Kahlschecien bedeutet hier wohl, wie in
der biblischen Erzähltmg vom Simson und Dalila, eine Art Entm.annung, eine Ent-
ziehung männlicher Kraft (bei Simson wird sie geradezu zur unüberwindlich ma-
chenden Zauberkraft). Wo das Märchen Haare erwähnt (speziell bei Männern)
dürfen wir diese wohl fast immer in ihrer Bedeutung als Merkmal sexueller Kraft
verwerten." — Gänzlich unabhängig von mythologischen Parallelen ist Dr. Stekel
bei seinen Traumdeutungen zu der als Bestätigung dieser Auffassung wertvollen Ein-
sicht gelangt, daß der Friseur in den meisten Träumen die infantile Kastrations-
drohung symbolisiert, und daß die so häufigen Anfälle beim Friseur die gleiche
Wurzel haben. Es scheint mir sehr wahrscheinlich, daß auch die Sitte des „Skal-
pierens" besiegter Feinde, die viele nordamerikanische Stämme üben, ein Ersatz der
bei anderen Völkern unter den gleichen Umständen und mit denselben Zeremonien
vorgenommenen Kastration des Gegners darstellt. Die ursprüngliche Identität beider
Sitten ließe sich V)ei näheren Eingehen in Details wahrscheinlich machen, wie sich beim
Durchleeen der entsprechenden Berichte bei Stell (I. c. S. 170/71; 50b) ergibt.
Die alttestamentliclic Überlieferung. 297
hatten gewisse Zeremonien bei den alten Mysterien, wo sich das Schneiden
in den Arm oder in die Stirn noch direkt als Ersatz der ursprünglich
vollzogenen Kastration nachweisen lässt. Die gleiche symbolische Be-
deutung scheint auch der berühmten Auerbach-Szene inGroethes „Faust"
zu Grunde zu liegen, wo die benebelten Studenten, von Mephistopheles
verblendet, sich in schönen Weinbergen zu befinden glauben, die Messer
ziehen, sich wechselseitig an die Nasen ergreifen, die sie für Weinreben
halten (vgl. den ähnlichen Irrtum des Lykurgos), um sie abzuschneiden.
Dem abschwächenden Ersatz des Phallos durch die Nase reiht sich bei
Groethe, der darin einer jüngeren Überlieferung folgte, die weitere Ab-
schwächung an, daß auch nicht die Nasen abgeschnitten werden, sondern
ganz im infantilen Sinne die bloße Drohung erfolgt.^)
3. Die alttestameiitliche Überlieferung.
Auch im alten Testament, das in seinen älteren Teilen von
offenen und verhüllten Inzestverhältnissen erfüllt ist, findet sich das
Kastrationsmotiv in verschiedener Einkleidung. Als Strafe für den
Inzest erscheint es nach der Auffassung von Stucken (Mitt. d.
vorderas. Ges. 1902, 4, S. 52) bei Euben, der seines Vaters Jakob
Kebsweib Bilha, die Mutter seiner Brüder, beschläft. Aber auch bei
Jakob selbst, der die Tochter des Bruders seiner Mutter heiratet
^) In Grimms Deutscher Mythologie (S. 752) ist die Rede vom „Dr. Faust, der
sieben Trunkenbolde so betörte, daß sie sich g-eg'enseitig die Nase abschnitten."
In seinem Faust-Kommentar bemerkt Düntzer. daß dieser Verblendung der Stu-
denten die Erzählung von Philipp Camerarius, dem Sohne von Melanchthons ge-
lehrtem Freunde Joachim Canier;uius (Kämmerer), zu Grande liegt, der in seiner zu-
erst im Jahre 1G02 erschienenen operae horarum subcisivarum centuria prima unter
manchen dem Zauberer Faust zugeschriebenen Stückchen auch das von den Trauben
erzählt. Lerchheimer (Bedenken von der Zaviberey, Bl. 19, vgl. Brüder
Grimm: Deutsche Sagen I, 1816, S. 340) berichtet das bleiche Stückciien;
„Nach dem sie gessen Latten, begerien sie daruirib sie fürnemlich kommen waren, daß
er jnen zum lust ein Gauckelspiel niachete. Da ließ er aus dem Tisch ein Keben
wachsen mit zeitigen Trauben, dern fürm jeden eine hieng. Hieß einen jeglichen die
seine mit der einen Hand angreifen vnn d mit der andern das Messer
auf den Stengel setzen, als wann er sie abschneiden weite. Aber er
solte bei leibe nit schneiden. Darnach gehet er auß der stuben, kompt wider:
da sitzen sie alle vnn halten sich ein jeglicher selbs bey der Nasen vnn
das Messer dar auf f. Hetten sie geschnitten, so hettjm ein jeder selbs
die Nase verwundet." In dieser Erzählung ist die Abwehr viel deutlicher (sie
selten bei leibe nit schneiten); aber auch der Symbolik der Selbstentniannung (als
Strafe) steht diese Version näher, da jeder von den Gästen sich selbst an der
Nase faßt, umsie abzuschneiden. Die Gescliichte — hei ßt es dann bei Düntzer
— hat der Verfasser des ältesten Faustbuchs ohne weiteres auf Faust übertragen
und wörtlich aus Lerchheimer aufgenommen, nur daß er statt der letzten Worte
den Faust sagen läßt: „Wenn jhr auch gerne wolt, so möget jhr die
Trauben abschneiden", und hinzufügt: „Das wäre jhnen vngelegen : weiten sie
lieber noch lassen zeitiger werden." Goethe hatte die Erzählung von Camerarius
wohl aus der seit dem Jahre 1613 in mehrfachen Ausgaben und deutschen Über-
setzungen erschienenen Abhandlung des Theologen J. G. Neumann de Fausto
praestigiatore kennen gelernt und diese Szene im Alter von 26 Jahren (1775) ge-
schrieben.
298 IX. Der Tnzestkomplex in antiker Mythenbildung and Überlieferung.
(1 Mos. 28), scheint das Kastrationsmotiv noch anj^odeutet. Nach der
Flucht vor seinem Sclnviogcrvater Laban, hatte Jakob in der Nacht
vor der o^efürchteten Zusammenkunft mit seinem Bruder Esau, dem
er schon vom Mutterleib an Feind war, fulo^enden Traum :
,Es rang ein Mann mit ihm, bis die Morgenröte anbrach. Und da
er sah, daß er ihn nicht übermoclite, rührte er das Gelenk seiner Hüfte
an ; und das Gelenk seiner Hüfte ward über dem Hingen mit ihm ver-
renket. Und er sprach: Laß mich gehen, denn die Morgenröte bricht an.
Aber er antwortete: Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn. Er
sprach: Wie heißest du? Er antwortete: Jakob. Er sprach: Du sollst
nicht mehr Jakob heißen, sondern Israel. Denn du hast mit Gott und
Menschen gekämpft und bist obgelegen. Und Jakob fragte ihn und sprach:
Sage doch, wie heißest du? Er aber sprach: Warum fragest du, wie ich
heiße? Und er segnete ihn daselbst. Und Jakob hieß die Stätte Pniel;
denn ich habe Gott von Angesicht gesehen, und meine Seele ist genesen.
Und als er vor Pniel kam, ging ihm die Sonne auf; und er hinkte an
seiner Hüfte" (1. Mos. 32; 24 bis 81). Dieser Traum hat neben seiner
rationalisierenden Bedeutung, die Jakol) als dem j, Bringer eines neuen
Zeitalters" (Joremias, S. 377) den göttlichen Segen verheißt, noch einen
ganz persönlichen und menschlichen Sinn, zu dessen Verständnis wir, ganz
wie es Freud für unsere eigenen Träume gelehrt hat, auf die Kindheits-
und Jugendgeschichte Jakobs zurückgreifen müssen. Als Kebekka nach
20jähriger kinderloser Ehe (1. Mos. 25; 20 u, 26) endlich schwanger
wird „stießen sich die Kinder miteinander in ihrem Leibe", so daß sie
ihre Schwangerschaft verwünschte (1. Mos. c. 25; 22). „Da nun die
Zeit kam, daß sie gebären sollte, siehe, da waren Zwillinge in ihrem
Leibe. Der erste, der herauskam, war rötlich, ganz rauh wie ein Fell;
und sie nannten ihn Esau. Zuband danach kam heraus sein Bruder,
der hielt mit seiner Hand die Ferse des Esau; und hießen ihn
Jakob . . . Da nun die Knaben groß wurden, ward Esau ein Jäger und
Ackermann, Jakob aber ein frommer Mann und blieb in den Hütten. Und
Isaak hatte Esau lieb und aß gerne von seinem Waidwerk, Rebekka
aber hatte Jakob lieb" (1. c. v, 24 bis 28). Es folgt dann die be-
kannte Episode, wo Esau dem Jakob für ein Linsengericht seine, ohnehin
nicht so sichenstehende, Erstgeburt verkauft, womit der zu Großem berufene
Jakob den ersten Schritt tut, um den kleinen Vorsprung des Bruders bei
der Geburt rückgängig zu machen. Jakob läßt sich diesen Handel be-
schwören. „So schwöre mir heute. Und er schwur ihm und verkaufte
also Jakob seine Erstgeburt" (1. c. v. 34). Den zweiten Schritt in dieser
Richtung tut er, indem er den seinem Bruder Esau geltenden Segen des
blinden Vaters auf Anstiften der Mutter und mittels ihrer List auf sein
Haupt zu lenken weiß (cap. 27). „Und er ging hinein zu seinem Vater,
und sprach: Mein Vater! Er antwortete: Hier bin ich. Wer bist du,
mein Sohn ? Jakob sprach zu seinem Vater : Ich bin Esau, dein erst-
geborener Sohn; ich habe getan, wie du mir gesagt hast; stehe auf,
setze dich, und iß von meinem Wildbret, auf daß mich deine Seele
Zur Deutung der Jakobs-Träume. 299
segne . . . Da sprach Isaak zu Jakob: Tritt herzu mein Sohu, daß ich
dich beureife. ob du seist mein Sohn Esau oder nicht. — Also trat Jakob
zu seinem Vater Isaak, und da er ihn begriffen hatte, sprach er: Die
Stimme ist Jakobs Stimme, aber die Hände sind Esaus Hände. . . .
Und er sprach zu ihm: Bist du mein Sohn Esau? Er antwortete: Ja, ich
bins . . . Und Isaak, sein Vater, sprach zu ihm: Komm her, und küsse
mich, mein Sohn. Er trat hinzu und küßte ihn. Da roch er den Geruch
seiner Kleider und segnete ihn und sprach: Siehe, der Geruch meines
Sohnes ist wie ein Geruch des Feldes, das der Herr gesegnet hat. —
Gott gebe dir vom Tau des Himmels und von der Fettigkeit der Erde,
und Korn und Wein die Fülle. Völker müssen dir dienen und Leute
müssen dir zu Füßen fallen. Sei ein Herr über deine Brüder,
und deiner Muttor Kinder müssen dir zu Füßen fallen. Ver-
flucht sei wer dir fluchet; gesegnet sei, wer dich segnet. Als nun Isaak
vollendet hatte den Segen über Jakob, und Jakob kaum hinausgegangen
war von seinem Vater Isaak, da kam Esau, sein Bruder, von seiner
Jagd . . ." (1. Mos. 27; 18 bis 30). Der Betrug kommt auf und da der
Segen weder rückgängig zu machen noch zu verdoppeln ist wird der be-
nachteiligte Esau tief betrübt und erzürnt. Da sprach er : „Er heißt wohl
Jakob, denn er hat mich nun zw-eimal untertreten. Meine Erstgeburt hat
er dahin und siehe, nun nimmt er auch meinen Segen" (v. 36). „Und
Esau war Jakob gram um des Segens willen, damit ihn sein Vater ge-
segnet hatte und sprach in seinem Herzen : Es wird die Zeit bald kommen,
da mein Vater Leid tragen muß ; denn ich will meinen Bruder Jakob er-
würgen" (v. 41). Die Mutter warnt ihren Lieblingssohn vor dem erzürnten
Bruder und rät ihm, zu ihrem Bruder Laban zu flüchten. Dort erwirbt er
in vierzehnjährigem Dienste die beiden ihm blutsverwandten Töchter Labans,
die schöne Rahel und die häßliche Lea (c. 29, v. 17), aber nicht ohne
daß an ihm ein ähnlicher Betrug versucht worden wäre, wie er selbst ihn
an seinem Vater ausgeübt hatte. Denn als er die ersten sieben Jahre um
die jüngere Rahel gedient hatte und sie zur Frau begehrt, wird wohl ein
großes Hochzeitsfest gerüstet, aber am Morgen nach der Brautnacht bemerkt
er, daß ihm Laban die häßliche Lea beigelegt hatte, was er damit motiviert,
daß es nicht Sitte sei, die jüngere vor der älteren Tochter zu verheiraten.
Dafür revanchiert sich Jakob durch den Betrug mit dem gesprenkelten
Vieh, dessen Erzeugung er durch die geschälten Stäbe beeinflußt und da-
durch seinen eigenen Besitz so vermehrt, daß er sich mit Laban und seiner
Familie verfeindet (cap. 30 : 26 bis 43) und mit Weib, Kind und Habe
vor seinem Schwiegervater flieht, wie seinerzeit vor dem Zorn des be-
trogenen Bruders, den er jetzt, bei seiner Rückkehr in die Heimat neuerlich
zu fürchten hat. Er schickt darum Boten an Esau, die ihres Herrn Unter-
werfung melden und ihm reichliche Geschenke zur Versöhnung überbringen
sollen (cap. 32). Denn „Jakob fürchtete sich sehr und ihm ward bange;
und teilete das Volk, das bei ihm war, und die Schafe, und die Rinder,
und die Kamele in zwei Heere. Und sprach: So Esau kommt auf das
eine Heer, und schlägt es, so wird das übrige entrinnen" (cap. 32; 7).
300 IX. Der Itjzostkomplox in antiker Mythenbildung und Überlioterung.
Dann Helltet er ein inl)rünstiges Gebet an Gott, das mit der Bitte schließt :
„Errette mich von der Jland meines Tiruders, von der Hand Esaus ; denn ich
fürchte mich vor ihm, daß er nicht komme, und schlage mich, die Mütter samt
den Kindern" (v. 11).
Und in dieser Besorgnis träumt Jakob in der Nacht vor dem
Zusummontreften mit seinem Bruder Esau den Traum, der uns nun
auf Grund der geschilderten Erlebnisse als Ausdruck nach der ersehnten
Vergebung des Bruders und als Erfüllung der gewünschten Aussöhnung
mit ihm völlig klar und verständlich Avird.
Der lvingkam])f mit dem starken Unbekannten, der seinen Namen
nicht nennt, greift dem gefürchteten Kampf mit seinem Bruder vor,
sucht diese Befürchtung aber zugleich dadurch illusorisch zu machen,
daß er ihn den früheren Krimpfen zwischen den Brüdern nachbildet,
die ja schon im Älutterleil) miteinander um das Vorrecht der Erst-
geburt gerungen hatten, Avobei Jakob den Esau bei der Ferse ge])ackt
und ihn also gleichsam nur mit dem einen Fuß nachhinkend hin-
ausgelassen hatte. Ähnlich ])ackt er hier den Gegner an der Hüfte,
um ihn unterzukriegen. Dieses Greifen an die Hüfte ist gleichfalls
in der Vorgeschichte determiniert und deutet seinem eigentlichen Sinne
nach, wenn auch in schwacher Weise, auf den Kastrationskomplex
hin: c. 25, 33 schwört Esau dem Jakob die Erstgeburt ab. Daß der
Schwur bei den Juden durch Auflegen der Hand auf die Hüfte des
Partners geleistet wurde, zeigen andere Stellen, ^) und es darf als sicher
gelten, d;iß dieses Schwören auf die Hüfte nur ein euphemistischer
Ausdruck des iirsprünglich auf den Phallos abgelegten Schwures ist,
was auch in sprachlichen Beziehungen eine Stütze findet (vgl. zeugen;
der Zeuge). ^) Packt als(j Jakob den Traumgegner eigentlich am
Genitale, wie er ihn früher am F u ß gcitackt hatte (vgl. Odipus), so
scheint darin um so eher ein Nachklang der dem Bruder zugedachten,
aber selbst befürchteten Entmannung zu liegen, als am ]\Iorgen nach
dem Traume Jakob es ist, der hinkt, der also die Verletzung davon-
getragen hat.^) Außer dieser symbolischen Ersatzbedeutung vertritt
^) V;;l. hiezu die der Werbung Jakobs um Lea voll entsprechende Werbung
Isaaks um Rcbckka (cap. 24; z. B. das Tränken der Herde und viele überein-
stimmende Details mit c. 29), wo Abraham zu seinem Knechte sagt: „Lege deine
Ha:id unter meine Hüfte und schwöre mir bei dem Herrn, daß du meinem Sohne
kein Weib nehmest von den Töchtern der Cananiter."
^) In der ägyptischen Hieroglyphenschritt wird der Zeuge metr mit dem Bilde
des männlichen Zeugungsorgans bezeichnet.
'■') Das Hinken erscheint auch sonst als symbolischer Ersatz der männlichen
Schwächung und der Kastration, wie bei Üdipus, dem sein Vater die Fußgelenke
durchbohrt, oder bei Hephaistos, der gleichfalls seinem Vater diese Entstellung zuzu-
schreiben hat, da er ihn aus Zorn über die Parteinahme für die Mutter beim Fuß
packt und aus dem Himmel schleudert. Als vorweggenommene Entmannnngsstrafe für
die Vergewaltigung' der Tochter Nidungs erscheint das Durchschneiden der Fußsehnen
(vgl. Zeusj bei Wieland dem Schmied, der sich dann ein Vogelkleid als Ersatz für
die unbrauchbaren Füße macht und damit entflieht. Dieses Fliegen betont seinen
Wunsch nach der ungeschwächten Potenz (vgl. Freuds Deutung des Flugtraumes.
Trauradtg. », ö. 201 ff.).
Zur Deutung der Jakobs-Träume, 301
aber das Greifen an die Hüfte, wenn wir es auf den Schwur Esaus
beziehen, noch eine historisch zu deutende Reminiszenz, die als Wunsch
ebenfalls dem Traum zu Grunde liegt. Jakob fürchtet ja seinen
Bruder wegen des Erstgeburthandels und hauptsächlich wegen des
Betruges um den Segen. Was ist begreiflicher, als daß er diese beiden
Handlungen, da er sie nicht mehr rückgängig machen kann, wenigstens
nachträglich vom Bruder sanktionieren lassen möchte. Während er aber
den auf die Hüfte geleisteten Erstgeburtsschwur im Traume in feind-
seligem Sinne dem Bruder zurückerstatten will, bewirken seine reuigen
Empfindungen die Rückwendung auf die eigene Person als Strafe
(Hinken). Vollkommen gelingt es dagegen dem Traum, das Gewissen
des furchtsamen und reuigen Segenablisters zu beruhigen. Denn er
läßt den Bruder nicht früher los, bis er ihn gesegnet hat und durch
diese nachträgliche „freiwillige" Sanktion die frühere Freveltat gut-
macht. Daß der Traum tatsächlich diese befreiende Wirkung hat,
zeigt Jakobs Dank an Gott, worin er sagt, daß jetzt seine „Seele ge-
nesen" sei (c. o2, SO). In dieser nachträglichen Kehabilitierung des
unrechtmäßigen Segenraubs fließen aber bereits Bruder und Vater in
eine Mischperson des Traumes zusammen. Das zeigt sieh deutlich
darin, daß der Traumgegner, bevor er ihn segnet, mit denselben
Worten wie seinerzeit der blinde Vater fragt : „Wie heißest du" ? Jetzt
antwortet aber Jakob in reuiger Zerknirschung wahrheitsgemäß: Jakob
und läßt den seinerzeit in betrügerischerweise vorgeschobenen Namens-
wechsel nun vom Vater fordern. „Du sollst nicht mehr Jakob heißen, son-
dern Israel." Hier zeigt sich aber bereits, daß in der unbekannten Person
des Traumes auch der psychologisch naheliegende Übergang vom Vater
zu Gott vollzogen ist. (Jakob: „Ich habe Gott von Angesicht gesehen",
c. 32, 30). Und weil eben die Traumgestalt Bruder, Vater und Gott
vereinigt, die ihm alle vergeben und sein Tun sanktionieren sollen, so
kann sie auch auf die Frage nach ihrem Namen nicht antworten, son-
dern segnet ihn nur im Namen dieser drei gefürchteten Gegner. Wenn
Röscher ausführt, daß dieser Traum sämtliche Kennzeichen der
sphingischen Fragepein, also des Alptraums (im Sinne Laistners),
an sich trage (nächtlicher Ringkampf bis zum Anbruch des Morgens,
Namensverweigerung, Lähmung, Segen) so trifft das zweifellos zu. Da
wir aber auf Grund der vertieften Traumforschungen Freuds den
ängstlichen Alptraum als in letzter Linie libidinösen ansehen müssen,
so scheint auch dieser Charakter wieder auf die Entmannungsfurcht
hinzuweisen. Erscheint in diesem Traum das sexuelle Moment in der
Verdrängungsform der Angst, so bietet ein früherer Traum Jakobs,
den er auf der Flucht von seiner Heimat zu seinem späteren Schwieger-
vater Laban hat, das positive Gegenstück zu dem analysierten Kastra-
tionstraum, indem er den Träumer gleichsam seiner großen Potenz
versichert. Vor der Abreise segnet ihn der, merkwürdigerweise über
den früheren Betrug gar nicht ungehaltene Vater: „Der allmächtige
Vater segne dich, und mache dich fruchtbar, und mehre dich, daß du
302 IX. Hör Inzostkomplox in antiker Mythonbildung und Überlieferung.
werdest ein liuul'eii Völker" (1. Mus. 2S, 3). Wie im vorigen Traum,
so wird auch in diesem Traum, den Jakob bei der Käst auf der Reise
zu seinem ^ehwiegervater träumt, dieser väterliche Segen Gott zu-
geschri«^ben.
., Ihm träumte, und siehe, eine Leiter stand auf Erden, die rUhrete
mit der Spitze au den Himmel, und siehe, die Engel Gottes stiegen
daran auf und nieder. Und der Herr stand oben darauf, und sprach :
Ich bin der Herr, Abrahams, deines Vaters, Gott, und Isaaks iioit; das
Land, da du aufliegest, will ich dir und deinem Samen geben. Und dein
Same soll werden, wie der Staub auf Erden, und du sollst ausgebreitet
werden gegen den Abend, Morgen, Mitternacht und Mittag; und durcli
dich und deinen Samen sollen alle Geschlechter auf Erden gesegnet wer-
den *• (1. Mos. cap. 28, 12 ufg.).
Wußten wir auch nicht aus einer Reihe einwandfreier Traum-
aualysen und symbolischer Beziehungen, daß das Stiegen- oder Leiter-
steigen im Traume den Koitus symbolisiert^), so deutet dieser Traum
offen darauf hin, daß es sich nur um mächtige Fruchtbarkeits- und
Potenzvorstellungen handeln kann.
Wie wir vom Inzest Rubens mit seines Vaters Kebsweib Bilha
(p Rüben .... du bist auf deines Vaters Lager gestiegen, daselbst
hast du mein Bette besudelt mit dem Aufsteigen" 1. Mos. 49, 4) auf
die inzestuösen Züge in der Geschichte seines Vaters Jakob kamen,
so finden wir bei weiterem Zurückgehen von Generation zu Genera-
tion eine ununterbrochene Kette von inzestuösen Verhältnissen. Über
Jakobs Vater Isaak, dessen Geschichte später besprochen werden soll,
greifen wir auf Isaaks Vater Abraham zurück. Da sein Weib
Sarah unfruchtbar ist, nimmt er seines Bruders Sohn Lot zu sich
(L Mos. 11; 30 — 31), mit dem er sich später — wie Jnkob mit La-
ban-) — wegen der Herden entzweit. Dieser Lot wird dann bei der
Vernichtung Sodoms (die im Buche Richter c. 19 und 20 eine vollkommene
') Vgl. Freud: Traumdtg. 3. Aufl. S. 210 Te.\t und Anrokg. u. S. 217 fg.
Kobitsek : Die Stiege, Leiter als sexuelles Symbol in der Antike (Zenlralbl. i.
1011, 8. 586},
J. J. Putnam (Boston); Aus der Analyse zweier Treppenträume (Zentralbl.
II. S. 264).
Dali hier die Krde, auf der Jakol) lieijt, seinem „Samen" zugesprochen wird,
erinaeit au die Inzcsttraumo von der Mutter-Erde (Cäsar). Auch sei erwähnt, daß
das llinaufkleltcrn au einem Seil, Faden, Leiter in den Himmel bei den Naturvölkern
und in der Schwankdichtung nicht selten mit obszüsen Vorstellungen (Samen- oder
Stuhlfaden) verblinden erscheint. (Derartige Überiiefcrungin bei Wundt; Völkerpsy-
chologie und Krauss: Anthropophyteia).
^) Die iu der Lutherbibel bei gleichem Wortlaut angeführten Parallelstellen
aind häufig nicht bloß äußerliche Ilinübcrnahme von Te.xttstellen iu einen anderen
Zusammenhang, sondern wei.seu bei Vertiefung in die p.sychologischen Bedingungen der
Mythenbildung darauf hin, daß wir es in diesen so widerspruchsvollen Überlieferungen
der drei Stammväter Abraham, Isaak und Jakob mit fpiiten Au.scinanderlegungen und
Doublierungen einer ursprünglich einheitlichen Überlieferung zu tun haben. (Über
die.'-e Mechani^men der Älythenbildung vgl. man meine mythologischen Arbeiten in
den Schriften zur gewandten Seeleukunde.)
Der Inzest in der Abraham-Legende. 303
Parallele findet), errettet und begeht dann in der Trunkenheit Blut-
schande mit seinen Töchtern (1. Mose 19; 3, 3 u. fi".). In auffälligem
Gegensatz zur Kinderlosigkeit Abrahams steht die beständige, oft
wörtlich an den Jakobsegen erinnernde, Verheißung Gottes : „Deinem
Samen will ich dies Land geben" (c. 12; 7); „und ich will deinen
Samen machen wie den Staub auf Erden" (c. 13; 16); „und ich will
dich zum großen Volke machen ich will segnen, die dich
segnen, und verfluchen, die dich verfluchen" (c. 12; 3). Abraham
zieht dann wegen einer Teueruog nach Ägypten und da er fürchtet,
daß ihm wegen seines schönen Weibes Sarah nachgestellt würde, be-
spricht er sich mit ihr, sie für seine Schwester auszugeben (cap.
12; 10 — 13). Sie erregt Aufsehen bei Hofe und „ward in das Haus
des Pharao gebracht'". Aber Gott schickt dem Pharao deswegen
Plagen, er stellt Abraham wegen des Betruges zur Kede und läßt ihn
in ein anderes Land geleiten (c. 12; 15 — 20). Daß es sich in dieser
Episode wirklich um den Nachklang eines echten Inzests handelt, geht
aus ihrer Doublette (1. IMos. c. 20) hervor. Auch in Gerar gibt
Abraham sein Weib Sarah für seine Schwester aus und auch hier
„sandte Abimelech, der König zu Gerar nach ihr, und ließ sie holen.
Dazu bemerkt Jeremias (1. c. S. 342 Anmkg. 5): „Man beachte,
daß Abimelech mit Sarah wirklich Vermählung feiern will." Aber
Gott — heißt es c. 40 weiter — kam zu Abimelech im Traume,
und sprach zu ihm: Siehe da, du bist des Todes, um des Weibes
willen, das du genommen hast; denn sie ist eines Mannes Eheweib.^)
Abimelech aber hatte sie nicht berührt, und sprach: Herr, willst du
denn auch ein gerechtes Volk erwürgen? Hat er nicht zu mir gesagt :
Sie ist meine Schwester ? Und sie hat auch gesagt : Er ist mein Bru-
der? Habe ich doch das getan mit einfältigem Herzen und unschul-
digen Händen." Am Morgen beruft Abimelech den Abraham und
macht ihm, wie früher der Pharao, Vorwürfe, worauf Abraham er-
widert: „Auch ist sie Avahrhaftig meine Seh wester, denn sie
ist meines Vaters Tochter, aber nicht meiner Mutter Tochter, und ist
mein Weib geworden." (1. Mos c. 20; 12). Merkwürdigerweise
folgt erst auf diese Episode (im 21. Kap.) die verheißene Schwanger-
schaft der Sarah und die Geburt Isaaks, dessen „mehr als zweifelhafte
Abstammung von Abraham" die alten Mythegraphen zu stützen suchen
(ßergel: Die Mythologie der Hebräer). Vor allem durch die göttliche
Verheißung der Geburt (c. 17 und c. 18), die jedoch schon bei
den Beteiligten selbst auf zweifelnden Unglauben stoßt : „Da fiel Abra-
ham auf sein Angesicht und bebte, und sprach in seinem Herzen:
Soll mir, hundert Jahre alt, ein Kind geboren werden, und Sarah,
neunzig Jahre alt, gebären?" (c. 17; 17). „Und Sarah lachte bei
^) Jeremias weist (1. c. S. 342) daraufhin, daß Abimelech eine ähnliche Er-
scheinung am Beischlaf hindere, wie die Männer der Sarah, der Tochter Kaguels
10. 3, 8). Vgl. dazu Winckler: Forschungen III, 414 und .Jung: Die Bedeutung
des Vaters für das Schicksal des einzelnen (Jahrb. I, S. 171 ff.).
H(i4 IX. Der Inzestkomplex iu antiker Mythcnbildung und Überlieferung.
sich selbst und spraeli : Nun icli alt bin, soll ich noch Wollust pflegen,
und mein Ihrz auch .dt ist?" (c 18; 12). Und nach der Geburt
sprach Sarah: „Gott hat mir ein Lachen zugerichtet; denn wer es
hören wird, der wird meiner lachen" (c. 21; 6). Ferner suchten die
späteren ^lythograjiben die Echtbürtigkeit Isaaks durch eine andere
Version der Traumerscheinung Abiniclechs wahrscheinlicher zu machen,
die ims auf ein weiteres Inzestmotiv in der Abraham-Legende führt.
«Als nämlich Abimelech die Gattin Abrahams in sein Schlaf "gemach
liolen lieL'i, wurde er von einem tiefen Schlaf befallen; im Traum er-
schien ihm der Engel Michael mit entblüßtem Schwerte und drohte
ihn zu ermorden, wenn er das entführte Eheweib unanständig berühren
werde. Durch diesen Traum geschreckt, wagt er sich nicht mehr
an iV'arah und ihre Unschuld ])lcibt ungefährdet" (B er gel 1. c). Dürfen
wir die; drohende Einkleidung dieser Abimelcch-Träurae als spätere
Verdt'ckung des Ehebruchs ansehen, so kennen wir das nackte Schwert,
das in vielen Sagen als symbolum castitatis zwischen den Mann und
ein ihm irgendwie verbotenes Weib gelegt wird (Tristan, Siegfried u. s. w.),
als ursprüngliches BefruchtungssymboP), was auch die plötzliche
Fruchtbarkeit Sarahs verständlich machen würde. Anderseits könnte
aber das Schwert im Sinne der Drohung einer Entmannung für
den Ehebruch aufgefaßt werden, wozu es stimmen würde, daß der
Herr als Strafe Unfruchtbarkeit über Abimelechs Haus verhängt hatte
(c. 20; 18). Noch mehr spräche für diese Auffassung der Umstand,
daß die Kastrationsdrohung auch noch in einer anderen Episode der
Abraham-Legende angedeutet ist, die als volles Gegenstück zum Abi-
melech-Traum erscheint. Es ist die versuchte Opferung Isaaks durch
seinen Vater Abraham, die absolut unmotiviert erfolgt und uns nur
auf Grund des Aussetzungsmythus verständlich wird-), demzufolge
Kinder aus ehebrecherischen und insbesondere blutschänderischen Ver-
hältnissen (beides träfe bei Isaak zu) dem Tode überantwortet werden,
weil man von ihnen ähnliche Vergehen befürchtet. Wie Isaak vom
Messer des Vaters bedrcjht wird, so läßt auch Laios dem ()dipus die
Fußgelenke durchbohren, und Avie wir dies auf Grund einer Version
des Kronos-jNIythus als abgeschwächte Kastration auffassen durften, so
dürfen wir auch Isaaks unterbliebene Opferung, die erst im letzten
Moment durch das Dazwischentreten des Engels verhindert wird
(c. 22)^), im Hinblick auf den gleichsinnigen Abimelech-Traum als
') Vgl. dazu meine „Vülkerpsycliologische Parallelen zu den inf.mtilen Scxual-
theorien" (Zentralbl. f. Psa. 11, 1912, H. 7/8), wo auch die plötzliche Fruchtbarkeit der
Lea durch ein von ihrem Sohne Kuben dargereichtes Befruchtungssynibol erklart
wird. Anderseits beschläft dort Jakob an Stelle seiner unfruchtbaren Weiber deren
Mägde, wie auch Abraham von seines unfruchtbaren Weibes Magd H.igar den Sohn
Ismael empfängt (1 Mos. c. IG; und c. 21; 9 — 21), der fast dem Schicksal der
Aussetzung, wie Isaak fast den» der Opferung, verfällt.
'^) Vgl. dazu den „Mythus von der Geburt des Helden."
") Daß dem ursiirüiigüchiu Sinn der Überlieferung nach die Opferung tat-
sächlich stattgefunden haben dürfte, zeigt nicht bloß der nur als Nachklang derseli)en
aufzufassende Bericht vom Engel Samad, der über den Verlust den Opfers
Kastration nnd Beschneidung. 305
direkte bildliche Darstellimg der dem Sohne geltenden Kastrationa-
droliung auffassen. Was endlich unseren IndizienLeweis schließt, ibt
die auffallige Überlieferung, daß gerade anläßlich der Geburt Isaaks
Gott mit Abraham den Bund der Beschneidung schließt (c. 17;
10 — 27), wonach alles was männlich ibt, wenn es acht Tage alt ist,
an der Vorhaut beschnitten werden soll. Wir sind natürlich weit
entfernt davon, mit dieser Beziehung irgend etwas Entwicklungs-
geschichtliches über den Ritus der Beschneidung, über seine Entste-
hung und Herkunft ausgesagt zu haben, konnten es aber doch nicht
vermeiden, auf diesen Zusammenhang hinzuweisen, da wir individual-
psychologisch im infantilen und unbewußten Denken die Beschneidung
regelmäßig als Kastrationsersatz aufgefaßt finden.^)
Doch scheint es nicht völlig ausgeschlossen, daß von der Kastra-
tionsdrohung ein neuer Weg zum Verständnis der Beschneidungssitte
zu finden wäre. Die hygienischen Begründungen dafür sind als ziem-
lich unstichhältig erwiesen (St oll 1. c S. 519 ff.), aber noch keine
anderen an ihre Stelle getreten und man darf im Hinblick auf die
psychologischen Zusammenhänge, sowie gestützt auf einzelne Über-
lieferungen und Beobachtungen, vielleicht die Vermutung wagen, daß
die Beschneidung als mildere Form der Kastration, wenn vielleicht
auch nicht ursprünglich aufgetreten, so doch sicherlich späterhin ver-
wendet wurde. Dafür spräche vor allem der Umstand, daß die Zere-
monie bei den Naturvölkern den Eintritt in die Pubertät bezeichnet
(wie beim biblischen Ismael) und bei vielen Völkern auch an der weib-
lichen Klitoris vorgenommen würd. Auf den Rest einer ursprünglichen
stärkeren Strafe würde auch die Angabe bei StoU (1. c 523) hindeu-
ten, daß nach Anschauung mancher wilder Stämme die Beschneidung
bei Knaben den Zweck habe, sie von der ]\Iasturbation abzuhalten,
bei Mädchen in ähnlicher Weise dem Geschlechtstrieb der Unverhei-
rateten entgegenwirken. Von besonderer Beweiskraft für unsere Aus-
führungen erscheint uns aber die auch von Stoll (S. 503) hervor-
gehobene Tatsache, daß 1. Sam. 18, 27 David die Vorhäute der er-
legten Philister dem König Saul als Kriegstrophäen bringt, eine Ver-
stümmelung der erschlagenen Feinde, die sich bei gewissen afrika-
nischen Völkern auf die gesamten männlichen Genitalien und zwar
noch beim lebenden überwundenen Feinde bezieht. Stoll trägt (S. 994)
nach, daß der Ausdruck in der Bibel nach Schwally in der Bedeu-
tung eines „voihäutigen Penis" zu fassen sei, woraus sich ergebe, daß
David die ganzen unbeschnittenen Penes der Philister abschneiden
erzürnt, der Sarah die KachiiLht bring, Isaak sei vom Vater geopfert
worden, und dadurch die erschreckte Mutter fUet, sondern auch die gesicherte
Tatsache, daß das Tieropfer überhaupt, wie hier besonders deutlich ist, das ursprüng-
liche Menschenopfer ersetzt (vgl. z. B. auch die Opferung der Iphigenia durch ihren
Vater, der auch das Gelöbnis Jephthas entspricht).
^) Vgl. Freuds Analyse der Phobie eines fünfjährigen Knaben; bes. S. 24.
Anmerkung.
Rank, Das Inzestmotiv. 20
306 IX. Der luzc'stkomplcx in antiker Mythenbildung und Überlieferung.
ließ.') «Damit würde diese altisraelitische Kriegssitte dann der nord-
ostiifrikanischen völlig gleich." Vorsichtig folgert 8toll (Ö. 5üG):
^Als nördlichsten, gewissermaßen abgeschwächten Ausläufer der Sitte,
die Genitalion der erlegten Feinde als Kriegstrophäen zu verwenden,
hätten wir in dem oben erwähnten israelitischen Brauch, sie der Vor-
haut zu berauben, zu erblicken, immerhin vorausgesetzt, daß es sich
dabei wirklich um einen fortgesetzten Brauch und nicht um ein iso-
liertes Vorkommnis gehandelt habe.'*
Wie der Geschwisteriuzest in der Abraham- Legende selbst doubliert
erscheint, was wir nach einer scharfsinnigen Bemerkung von
Jung (Zentralbl. I, S. 85) als Ausdruck der psychologischen „Be-
deutsamkeit, d. i. der Libidobesetzung" auffassen müssen, so wird er
mit \'erwendung derselben Worte in die Isaak-Legende eingeführt
(1. Mos. 26; 7j, was wir als weiteren Beweis dafür ansehen, daß wir
in der Isaak-Legende nichts als eine ausgeschmückte Doublette der
Abraham-Geschichte vor uns haben. Ursprünglich bestand offenbar ein
wirklicher Geschwister- (oder wie Stucken-) für alle diese Fälle rich-
tig vermutet, ein ]\Iutter-) Inzest; mit der allmählichen Abschwächung
zum Inzest mit der Stiefschwester und der bloß vorgeblichen Schwester
wird jede diese Verdrängungsvarianten zu einer selbständigen Version
gemacht und so das ursprünglich affektive Interesse (Libidobesetzung)
gleichsam auf mehrere abgeschwächte Doubletten verteilt. So ist es
tatsächlich in der Isaak-Legende nur mehr die vorgebliche und nicht
mehr wie bei Abraham die wirkliche Schwester : „also wohnete Isaak
zu Gerar. Und wenn die Leute an demselben Orte fragten von sei-
nem Weibe, so sprach er: Sie ist meine Schwester. Denn er
fürchtete sich zu sagen: Sie ist mein Weib; sie möchten mich er-
würgen um Rebekkas willen ; denn sie war schön von Angesicht"
(c. 26; 7). Bliebe nach dieser wörtlichen Übereinstimmung mit 12;
11, 12 noch ein Zweifel an der Doublettierung,^) so müßte ihn die
Tatsache beheben, daß auch die ganze Abimelech-Episode in weiter
abgeschwächter Form und die Geschichte mit den verstopften Brun-
nen gleichfalls auf Isaak übertragen wird. Dem — wie wir nun
') Von besonderem Interesse ist eine von St oll (502) zitierte Stelle aus einem
hieroglyphisclien IJericht über einen Einfall der Libyer in Ägypten im neuen K^icbe,
nicht 80 sehr, weil er uns das hohe Alter der Beschneidungssitte, sondern die Auf-
fassung derselben im Sinne einer Kastration verrät. Es heißt nämlich dort, daß die
äpj'ptischen Sieger den getuteten Libyern, wofern sie unbeschnitten waren, die Ge-
Hihlechtsteile, den beschnittenen dagegen nur die Hände abhieben. Es scheint sich
darin die Empfindung auszusprechen, daß die Beschnittenen als bereits einmal ka-
striert nicht des ohnehin schon gestraften Penis beraubt zu werden brauchten.
'■'j So glaubt Stucken (Mose S. 055) auch in der Abraham-Legende das
Kudiment eines zweifachen Inzests erkennen zu können. „Das Phathos — meint er
— mit dem der Sachveihalt in der Bibel erzählt ist, wird verständlich, wenn hier
das Rudiment einer Ödipus-Tragildie vorliegt".
^) Winckler: Gesch. Israels II. S. 45: „Alles, was von Isaak erzählt wird,
ist Wiederholung der Abraham-Legenden." „Isaak ist der spätere jahvistische Ab-
klatsch Abrahams" (S. 47.)
Das Motiv der Bruderraclie. 30?
ergänzen dürfen — inzestuösen Ehebund Isaaks mit Rebekka entspros-
sen die feindlichen Brüder Jakob und Esau, deren 8chicksale wir be-
reits in der gleichfalls blutsverwandten Verbindung Jakobs mit den
Töchtern seines Oheims Laban sowie dem Inzest von Jakobs Sohn
Rüben mit seiner Mutter verfolgt haben. Beachtenswert ist noch die
Parallele zwischen der Isaak- und ()di})US-Uberlieferung, auf die S t u k-
ken aufmerksam gemacht hat: Isaak soll wie Ödipus von seinem
Vater geopfert werden, wie Ödipus (Eteokles und Polyneikes) hat er
auch feindliche Söhne und wie Ödipus ist er später blind.
Im weiteren Verfolg der nach der Versöhnung Jakobs und
Esaus erzählten biblischen Geschichten müssen wir dem im zweiten
Abschnitt (Kap. XIII) ausführlich erörterten Motiv der feindlichen
Brüder vorgreifen. Im 34. Kap. wird berichtet wie Jakobs und Leas
Tochter Dina \on Sichem, dem Sohne des Heviterherrscheis Hemor, ge-
schändet und von ihren Brüdern Simeon und Levi durch ein Blutbad
gerächt wird.^) Daß auch hier die Vertilgung des Verführers und seiner
Sippe in letzter Linie als Entmannung wegen des verbotenen Ge-
schlechtsaktes erfolgt, scheint aus der vor dem Vollzug der Rache
vorgespiegelten Versöhnung hervorzugehen. Denn Jakobs Söhne geben
vor, die vorgeschlagene Heirat ihrer Schwester Dina mit Sichem nur
dann billigen zu können, wenn der Verführer sich und alle Seinigen
beschneiden wolle. Sichem geht darauf ein; aber „am dritten Tage,
als es sie schmerzte" (c. 34; 25) und sie kampfunfähig waren,
werden sie von den Söhnen Jakobs^) niedergemacht. Daß diese furcht-
bare Rache der Brüder, die das rehabilitierende Eheanerbieten erst
recht ausschlagen, einer Eifersucht auf die eigene Schwester entspringt,
zeigt die Geschichte der Thamar, die 2 Samuelis Kap. 13 erzählt
wird. A m n o n, der Sohn Davids, verliebt sich in Thamar, seines Bru-
ders Absalom Schwester und stellt sich krank, um Gelegenheit zur
Verführung zu finden. So gelingt es ihm, die Widerstrebende zu ver-
gewaltigen, die er jedoch nachher mit Schimpf und Schande davon-
jagt. „Aber Absalom ward Amnon gram, darum, daß er seine Schwe-
ster Thamar geschwächet hatte" (c. 13; 22), und zwei Jahre später
läßt er den Bruder deswegen von seinen Knechten ermorden. Daß
ihn dazu eifersüchtige und auf die eigene Blutschande mit der Schwe-
ster gerichtete Regungen trieben, zeigt sein weiteres Verhalten und
Schicksal. Er lehnt sich gegen seinen königlichen Vater David auf,
der vor dem Sohn die Flucht ergreift, und dokumentiert die Besitz-
ergreifung der väterlichen Macht^), indem er „die Kebsweiber seines
^) Auch die Dioskaren Kastor nud Polydeukes rächen ihre geschändete
Schwester (vgl. II, Abschnitt, Kap. XEtl).
^) Wie Jeremiaa S. 379 bemerkt, scheint es eine Überlieferung gegeben zu
haben, die Jakob nur diese drei Kinder zuschrieb.
^) Storfer weist (S. 12) auf Spuren des indoeuropäischen Brauches hin,
wonach der erbende Sohn in der Regel auch die Hauptfrau des verstorbenen oder
entthronten Vaters übernimmt. Hinweise über Beischlaf mit den königlichen Frauen
als Ausdruck und Zeremonie der Besitzergreifung des Thrones finden sich bei Bach-
ofen: Mutterrecht, 2. Aufl. S. 205. an*
3U8 IX. Dor In/.cstkonipK'X in antiker M\ tlionbiklun«; und tibeilieferuug.
Vaters vor den Augen des ganzen Israels beschlief " (c. 16; 22). Er
wird dann an einer Eiche hängend durchstochen und dor wieder in
die llen-schaft eingesetzte V^at er wehklagt lu^ftig um den Hohn (c. 18:
33), der ihn mit tödlichem Haß verfolgt hatte. — Direkter Totschlag
des Vaters findet sich übrigens 2 Könige 11); 36 f., wo San her ib
von seinen Söhnen erschlagen wird, die dann in das Land Ararat
flüchten. ')
Andere Inzestüberlieferungen im alten Testament, wie die Blut-
schande der anderen Thamar mit ihrem Schwiegervater Juda (1. ]\Ios.
c. 38) u. a. m. habe ich meiner Abhandlung über „völker})sycho-
logische Parallelen zu den infantilen Sexual theorien" (Zentralblatt
f. Psji. II, 1912, H. 7 u. 8) angführt, wo auch der Sündenfall als ent-
stellte und rationalisierte Weltelternmythe gedeutet ist, die vom mo-
notheistischen Standpunkt des Vaters umgearbeitet, mit der Entman-
nung des blutschänderischen Sohnes endet. Auch Stucken ist aus
rein mythologischen Folgerungen dazu gekommen, im Ausreißen der
Kippe Adams durch Jahwe (Gen. 2, 21) einen symbolischen Ausdruck
der Entmannung zu sehen und bringt diesen Gedanken in Zusammen^
haQg mit einem ähnlichen Zug der griechischen Mythologie: aus Adams
l^ippe entsteht das erste Weib, Avie aus dem abgeschnittenen PhalUjs
des Uranos die Liebesgöttin Aphrodite. Schließlich sei noch an einem
bekannten Beispiel gezeigt, hinter welch harmlosen Entstellungen im
vorliegenden Bibeltexte sich nach der Auffassung der Kommentatoren
selbst das anstößige Motiv der Entmannung verbergen kann.
So heißt es von Noah, der nach der Sintflut ein Ackermann wurde
und Weinberge pflanzte (1. Mos. 9, 21 u. ff): „Und da er des Weines
trank, ward er trunken, und lag in der Hütte aufgedeckt. ]3a nun
Ham (Canaans Vater) sähe seines Vaters Schani, sagte er es seinen
beiden Brüdern draußen. Da nahmen Sem und Japhet ein Kleid, legten
es auf ihre Schultern, gingen rücklings hinzu, und deckten ihres Vaters
Scham damit zu ; und ihr Angesicht war abgewandt, daß sie ihres Vaters
Scham nicht sahen. Als nun Noah erwachte von seinem Wein, und er-
fuhr, was ihm sein kleiner Sohn getan hatte, sprach er : V o r f I u c h t
sei Canaan und sei ein Knecht aller Knechte unter seinen Brüdern."
Wir würden die auffallend heftige Keaktion des Vaters auf das gewiß nicht
schwere Vergehen des Sohnes und überhaupt den ganzim hinter dieser Er-
zählung steckenden Affekt nicht verstehen, wenn nicht die agadische
Tradition ein Moment des Noacb-Mytbus aufbewahrt hätte, das uns diese
auffälligen Züge erklärt : nämlich daß der böse Sohn Cbam, der Schwarze,
seinen Vater entmannt (Sanhedrin, 70).
*j Jeremias (S. 2ö3 Aninkg. 3) bemerkt dazu: „Die Armenier sind stolz auf
die in der Bibel vorkommende Erwähnung ihres Landep. So haben sie der Geschichte
von den Söhnen Sanheribs, die ihren Vater ermordeten und in das Land Ararat ent-
ronnen, eine christliche Färbung gegeben and feiern sie als eine Art Nationalhelden.
Siehe Chalatianz ; Die rirmenische Heldensage (Zeitschr. d. V. f. Volksk. in Berlin,
190-2, Heft t «.).
Die Osiris-Sage. 309
4. Das Motiv der Zerstückelung.
Die Verfolgung des Motivs der Entmannung, die buld dem Vater
von Seiten des eifersüchtigen Sohnes, bald dem Sohn oder Bruder als
Strafe für den vollzogenen Inzest zu teil wird, hat uns mit stets neuen
Ausblicken auf die Älächtigkeit und Verbreitung des Inzestmotivs weit
auf mythologische Abwege gebracht und führt uns nun noch auf den
Seitenpfad einer weiteren Motivausgestaltung. Der ägyptische Mythus
von Isis und Osiris, an den die griechischen Göttergeschichten von
Kronos und seinem Urfahr und Nachfolger vielfach anklingen, enthält
die Entmannung durch den Bruder als Strafe für den
Geschwisterinzest in Verbindung mit einem Motiv, dem wir un-
sere Aufmerksamkeit gleichfalls schenken müssen.
Schon im Mutterschoße entbrannten, wie der Mythus erzählt^), die
beiden Geschwister Isis und Osiris in Liebe zueinander und begatteten sich,
so daß von der Ungeborenen Arneris geboren wurde. So kamen die beiden
schon als Geschwistergatten zur Welt. Ihnen steht ein scheinbar nicht
ursprüngliches Geschwistergattenpaar, Set und Nephthys, gegenüber, das
offenbar später auf dem Wege der Doublettierung eingeführt wurde, um,
wie Schneider^) ausführt, den Kampf zwischen Osiris und seinem Bruder
Set zu motivieren. Während nämlich der ursprünglichen Überlieferung nach
Set seinen Bruder Osiris aus Herrschsucht tötet, machte die spätere
Überlieferungen dafür den unbewußten Inzest des Osiris mit seiner zweiten
Schwester Nephthys, der Gattin Sets, verantwortlich, welcher Verbindung der
hundsköpfige Anubis entsproßte. Set, oder wie er in anderen gräzisierten