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KÖLNER STUDIEN
ZUM STAATS- UNI)
WIRTSCHAFTSLEBEN
HKK AUSGEGEBEN VON
P. ABERER, CHR. ECKERT, J. FLECHTHEIM,
K. J. FRIEDRICH, ED. GAMMERSBACH, H. GEFFCKEN,
K. HASSERT, J. HIRSCH, B. KUSKE, PAUL MOLDENHAUKk.
F. STIER -SOMLO, ADOLF WEBER, K. WIEDENFELD,
A. WIERUSZOWSKI, W. WYGODZINSKI
Schriftleitung: BRUNO KUSKE
Heft 2:
Die Wanderbewegungen der Juden
von
Wlad. W. Kaplun-Kogan
BONN 1913
A. MARCUS UND E. WEBERS VERLAG
(Dr. jur. Albert Ahn)
Di
ie
Wanderbewegungen der Juden
von
Wlad. W. KAPLUN-KOGAN
BONN 1913
A. MARCUS UND E. WEBERS VERLAG
(Dr. jur. Albert Ahn)
Aus dem volkswirtschaftlichen Seminar
von
Professor Dr. jur. et phil. ADOLF WEBER
Alle Rechte vorbehalten
Vorwort,
Bevor ich das Buch dem Leser übergebe, möchte ich
einige Punkte, die zum besseren Verständnis des Folgenden
dienen mögen, hervorheben:
1. Das Buch stellt den Versuch dar, die jüdischen
Wanderbewegungen zusammenzustellen, ohne jedoch
den Anspruch auf Vollständigkeit zu er-
heben; denn es war dem Verfasser vornehmlich darum
zu tun, die Hauptrichtungen der Wanderungen fest-
zuhalten und den Geist der Bewegungen herauszuarbeiten.
Der Verfasser weiß selbst sehr wohl, daß dies oder jenes
gar nicht zum Ausdruck gekommen ist, was ja bei dem
Zwecke der Untersuchung von vornherein nicht anders sein
konnte.
2. Es ist das ökonomische in der jüdischen Ge-
schichte, was die jüdischen Wanderbewegungen in der nach-
folgenden Darstellung erklären soll. Ich habe absichtlich
von anderen Momenten abgesehen, um mich nicht in den ver-
schiedenartigsten Erklärungsmöglichkeiten zu verlieren. Es
will mir scheinen, daß bei einer solchen Begrenzung — man
mag sie auch ,, Einseitigkeit" nennen — das Richtige oder
das Falsche des Erklärungsversuches am stärksten und klar-
sten zum Ausdruck kommt; vom methodologischen Stand-
punkte aus wird man gegen das Verfahren kaum etwas ein-
wenden können.
3. Der Verfasser hat sich bemüht, sich wissenschaft-
lich nicht berechtigter Werturteile zu enthalten; die
Werturteile, die man im Buche findet, überschreiten
nicht das Gebiet der Untersix hung. Wenn 1 Is-
weise auf Grund der Statistik festgestellt wird, daß die
finanzielle Laße der jüdischen Einwanderer, die in die
Vereinigten Staaten von Amerika übersiedeln, viel zu
wünschen übrig laßt, so wird damit freilich ein Werturteil
abgegeben, das jedoch im Rahmen der Untersuchung — um
mit Bernsteins Worten zu sprechen — nicht transzen-
dent ist. Im übrigen ist der Verfasser vollständig mit
Bernstein einig, wenn dieser sagt: „Nur ein Werturteil,
das von Zwecken ausgeht, die jenseits des Untersuchungs-
gebietes einer Wissenschaft liegen, ist für diese transzendent
und kann daher aus ihren Diskussionen verwiesen werden,
wenn es sich darum handelt, die Grenzen zu bestimmen, die
sie von anderen Wissenschaften oder von Betätigungen
trennen, die die Ergebnisse der Wissenschaft praktisch zu
verwerten suchen." (, Sozialistische Monatshefte", 23. Heft,
p. 1410, 1912.) —
Die Arbeit ist entstanden im volkswirtschaftlichen
Seminar von Professor Dr. A. Weber (Köln). Der
Verfasser benutzt gerne die Gelegenheit, dem verehrten
Herrn Professor seinen aufrichtigsten Dank für die Unter-
stützung, die er der Arbeit angedeihen ließ, auszusprechen.
Wlad. W, Kaplun-Kogan.
Köln, im Februar 1913.
Inhaltsverzeichnis.
Seite
Vorwort V
Einleitung: Die jüdische Frage als Wanderungsproblem . . 1
Erster Abschnitt.
Erste Periode: Wa n d e r b e w e g u nge n der Juden seit
den ersten Wanderungen bis zur Vertrei-
bung aus Spanien und Portugal.
Erstes Kapitel: Die biblischen Wanderungen und das egyp-
tische und babylonische Altertum .... 9
1. Die ersten Wanderungen der Juden .... 9
2. Die Wanderung nach Egypten und die Rück-
kehr nach Palästina (Okkupation Kanaans um
1150 v. Chr.) 10
3. Die Fortführung nach Babylonien (597 u. 586
v. Chr.) 11
4. Die Lage der Juden in Babylonien und die
Rückkehr nach Palästina (537 v. Chr.) ... 13
5. Die Bedeutung der ersten Wanderungen . 15
Zweites Kapitel: Das griechische und römische Altertum . . 19
1. Die jüdischen Wanderungen seit dem Beginn
der hellenistischen Zeit bis zum Untergang
des jüdischen Staates 19
2. Das ausgehende Altertum 23
Drittes Kapitel: Das Mittelalter 25
1. Babylonien 25
2. Die jüdischen Wanderungen im frühen und
hohen Mittelalter bis zur Vertreibung aus
Spanien und Portugal (1492 u. 1497) ... 29
Viertes Kapitel; Allgemeiner Charakter der Periode .... 36
Zweiter Abschnitt.
Zweite Periode: Wanderbewegungen der Juden seit
der Vertreibung ausSpanien und Portugal bis
zum Beginn der überseeischen Auswande rung
Vorbemerkung 39
Fünftes Kapitel: Die Vertreibung aus Spanien und Portugal . 40
VIII -
Sechstes Kapitel: Die Wanderungen nach der Türkei, Afrika
und Italien 44
1. Die Türkei
2. Afrika 4',
3. Italien 47
Siebentes Kapitel: Die Wanderungen nach Nordeuropa und
Amerika 49
1. Nordeuropa 49
2. Amerika 52
Achtes Kapitel: Die Konzentration der Juden in Polen und
Russland 53
Neuntes Kapitel: Allgemeiner Charakter der Periode ... 57
Dritter Abschnitt.
Dritte Periode: Wanderbewegungen der Juden seit
Beginn der überseeischen Auswanderung bis
in die Gegenwart.
Zehntes Kapitel: Soziale Differenzierung — jüdischer Natio-
nalismus — Wanderungen 60
Elftes Kapitel: Die Lage der Juden in dem Hauptauswande-
rungslande : in Russland 75
Zwölftes Kapitel: Die jüdische Auswanderung der Neuzeit . 113
Dreizehntes Kapitel: Allgemeiner Charakter der Periode . . 145
Anmerkungen und Literaturnachweis 149
Einleitung.
Die jüdische Frage als Wanderungsproblem.
Die Auswanderung im volkswirtschaftlichen Sinne be-
steht darin, daß eine kleine oder größere Zahl von Menschen
das Land, das sie bis jetzt als ihre Heimat betrachtete,
verläßt, um sich auf fremdem Boden eine neue Heimat zu
gründen. Das Verlassen der Heimat braucht nicht mit dem
Aufgeben der Staatsangehörigkeit verknüpft zu sein, wohl
ist es aber notwendig, daß der Auswanderer seine wirt-
schaftliche Betätigung in der Heimat aufgibt, um
auf fremdem Boden die für sein Leben notwendigen Mittel
zu erwerben. Somit ist der wirtschaftliche Zweck,
die Absicht, sich in der neuen Heimat erwerbsmäßig zu
betätigen, das Merkmal der Auswanderung. Es mögen
noch so viele Deutsche oder Engländer in Sommermonaten
nach der Schweiz oder — im Frühling und Herbst — nach
Italien übersiedeln, — ihre vorübergehende Übersiedelung
stellt noch keine Auswanderung dar; dabei kommt es nicht
darauf an, daß der Aufenthalt in diesen Ländern nur ein
vorübergehender ist, sondern nur darauf, daß die Über-
siedelung nicht mit dein Aufgeben der wirtschaftlichen
Tätigkeit in der ersten und der Ausübung einer neuen in
der zweiten Heimat verknüpft ist. Die Auswanderung aber
kann wohl auch vorübergehend sein, wie die der italieni-
schen Landarbeiter, die nur auf bestimmte Zeit auswandern.
Die Gründung von neuen Staaten, die Verbreitung der
Kultur, die Ausdehnung der Herrschaft einzelner Völker,
wie es nach der überseeischen Auswanderung am Anfang
der Neuzeit der Fall war, sind nur Folgeerscheinungen der
ursprünglichen Auswanderung*).
*) Ähnliche Bestrebungen in der Gegenwart gehören der Koloni-
sation an, die uns hier nicht anseht.
Wlad. W. Kaplun-Kogan, Wandcrbcwcjjung. 1
— 2 —
Den Begriff der Auswanderung resp. der Einwanderung
bekommen wir, indem wir auf dem Standpunkte eines resp.
zweier Länder stehen (auch des Einwanderungsland'
Ein viel weiterer Begriff ist der der Wanderung.
Unter Wanderung versteht man den Komplex der-
jenigen räumlichen Verschiebungen, welche alle Völker in
ihrer Geschichte durchgemacht haben. Diese Bewegungen
beschränkten sich nicht von vornherein auf bestimmte Ge-
biete, hatten vor sich nicht ein bestimmtes Ziel, sondern
spielten sich unter der Einwirkung der verschiedenartigsten
Momente innerhalb der ganzen bewohnbaren Erde ab.
Diese Wanderungen gehören der Weltgeschichte an. ,,Wir
verlassen dabei den Standpunkt des einzelnen Volkes, von
dem allein es eine Aus Wanderung gibt, und nehmen den
der Menschheit ein, welche nur Wanderungen kennt" *.
Es ist nun klar, daß für fast alle modernen Kultur-
völker diese Wanderungen, die die Konstruierung der
heutigen Nationen begleiteten, nicht mehr in Betracht
kommen 2 . Die heutigen Kulturvölker haben sich schon
seit langer Zeit festgesetzt, eine Völker Wanderung im
ursprünglichen Sinne ist wohl nicht mehr denkbar. Nur ein
Volk befindet sich noch bis heute auf der Wanderung, ohne
daß ein festes Ziel und eine bestimmte Richtung seiner
Wanderbewegungen sich feststellen ließe. Auf der ganzen
Erde zerstreut, in seinen Geschicken nicht nur von seiner
eigenen Entwickelung, sondern in erster Linie vom wirt-
schaftlichen Leben der Herrenvölker abhängig, wandert
dieses Volk durch alle Städte und Gaue der Welt.
Dieses Volk — das jüdische — hat sich noch nicht
festgesetzt. Und die jüdische Frage, deren Wesen vor
allem in den jüdischen Wanderungen besteht, ist darum ein
Wanderungsproblem 3 ; die jüdische Geschichte fängt mit
Wanderungen an, ihren ganzen Inhalt bildet eine ununter-
brochene Kette von Wanderungen, und heute sind wir
Zeugen einer Wanderung, die nach ihren Dimensionen alle
früheren weit überflügelt. Es wäre eine ganz vergebliche
Mühe, in der Geschichte ein entsprechendes Analogon zu
den heutigen Wanderungen der Juden zu suchen. Die Ver-
treibung aus Spanien und Portugal hat 300 000 Juden zu
— 3 —
Wanderern gemacht, während in der kurzen Spanne Zeit
von 30 Jahren (1881 — 1911) mehr als 2 Millionen osteuro-
päischer Juden ausgewandert sind.
Der erste Grund dieser Kontinuität der jüdischen
Wanderungen besteht darin, daß die Juden seit ihren
Wanderungen von der Zerstörung des jüdischen Staates bis
in die Gegenwart hinein noch nie Gelegenheit gehabt haben,
einem Lande zu begegnen, wo sie sich allein als Herrn
niederlassen könnten. Die Juden haben noch kein Land
okkupiert; sie gingen immer — ob absichtlich oder durch
äußere, von ihrem Willen unabhängige Umstände ge-
zwungen, ist eine Frage für sich, die in diesem Zusammen-
hange nicht zu erörtern ist — in solche Länder, die schon
Besitz anderer Völker waren. Diese Völker, die in ihrem
sozial-wirtschaftlichen und geistigen Leben meistens einen
geschlossenen Volksorganismus bildeten, konnten die ein-
gewanderten Juden nur in dem Falle auf die Dauer in ihrer
Mitte beherbergen und dulden, daß die letzteren diejenigen
Plätze besetzten, die vom Wirtsvolk einstweilen frei ge-
lassen wurden.
Dies geschah natürlich nicht durchaus in der Art, daß
die Juden einen Kontrakt mit dem Herrenvolk abschlössen,
kraft dessen ihnen gewisse Räume im Hause des Wirts-
volkes zur Verfügung gestellt wurden; dafür sorgte schon
die unerbittliche Entwickelung der Dinge selbst. Die Juden
konnten eben nur ,,in den Poren" der fremden Völker leben,
— oder sie mieden das Land, wo es solche Poren nicht gab,
oder endlich sie wurden aus dem Lande einfach weg-
getrieben.
Somit bildeten die Juden immer einen Fremdkörper im
Organismus der Wirtsvölker.
Die jüdischen Wanderungen werden uns nur dann ver-
ständlich, wenn wir bei jedem einzelnen Falle feststellen,
was für Funktionen die Juden bei den Wirtsvölkern aus-
übten. Erst die Ermittelung dessen, was die Juden für das
Wirtsvolk in ihrer wirtschaftlichen Betätigung bedeuteten
und wie sich das Wirtsvolk zu diesen Betätigungen stellte,
kann uns den Schlüssel zum Verständnis der jüdischen
Wanderungen geben.
4 —
Das eine ist aber von vornherein festzuhalten: mochten
die wirtschaftlichen Funktionen der Juden ursprünglich dem
Wirtsvolk noch so fern liegen, — lange dauerte es nicht,
und das Wirtsvolk fing an, sich auf ökonomischen Gebieten
ZU betätigen, die bis dahin ausschließliches Eigentum der
Juden gewesen waren. Was es dazu bewog, kann hier nicht
gleich untersucht werden. Gleichviel — das Zusammen-
leben der Juden mit anderen Völkern artete schließlich in
einen Konkurrenzkampf aus. Dieser Konkurrenzkampf war
und ist überall der Vorbote der jüdischen Auswanderung
— und besonders dort, wo die Juden sich nicht in kleinen
Gruppen, sondern in breiten Massen aufhielten.
Hier tritt uns eine Erscheinung entgegen, die merk-
würdig genug ist, um beachtet zu werden. Ihr Wesen kann
dahin präzisiert werden, daß je größer die numerische
Stärke der Juden ist, desto geringer ihre ökonomische
Widerstandskraft.
Bekanntlich ist es sonst anders: bei den Arbeitern, die
ihre Arbeitskraft dem Kapitalisten anbieten und deren
größere Zahl auf Angebot und Ausfall des Arbeitsvertrages
anscheinend ungünstig wirken sollte, verhält es sich nicht
so wie bei den Juden: denn erst große Arbeitermassen, an
einem Orte konzentriert, haben es ermöglicht, große und
einflußreiche Arbeiterorganisationen zu schaffen, die nun-
mehr auf die Gestaltung der Arbeitsbedingungen ihrerseits
günstig zu wirken im Stande sind 4 .
Die Juden hat ihre numerische Stärke in keiner Hin-
sicht gefördert, sondern sie nur geschädigt. ,,Fast überall,
wo die Juden dichter gedrängt beisammen leben, begegnen
wir den Spuren tiefer Armut und manchmal entsetzlichen
Elends" 5 . Umgekehrt haben die Juden dort, wo sie in
kleinerer Zahl sich aufhielten, mit ihrer hervorragenden
ökonomischen Begabung sich zu erheblichem Wohlstand
und auch zu führenden Stellungen im Wirtschaftsleben der
Wirtsvölker emporgehoben.
Die Ursache dieser Erscheinung mag wohl darin liegen,
daß die wirtschaftliche Tätigkeit der Juden zum größten
Teil von der sozialen Struktur der Wirtsvölker abhing und
nur in zweiter Linie von der Veranlagung und den Wünschen
der Juden selbst.
— 5 —
Indem sie in ein neues Land einwanderten und sich in
den Volksorganismus des Wirtsvolkes einzugliedern be-
mühten, fanden sie für ihre Tätigkeit einen gewissen,
begrenzten Spielraum vor. Dieser Spielraum war
und ist bei verschiedenen Völkern und in verschiedenen
Epochen ein verschiedener; jedenfalls war aber die Zahl
derer, die sich innerhalb dieses Spielraumes wirtschaftlich
betätigen, eventuell emporheben konnten, von vornherein
durch objektive, äußere Umstände bestimmt. Nunmehr
kam es auf die Zahl der Juden an; je weniger
zahlreich sie waren, desto mehr Chancen hatten sie, sich
durchzusetzen; je zahlreicher sie waren, desto stärker ent-
wickelte sich die Konkurrenz zwischen ihnen selbst. Diese
Konkurrenz, zu der in der Folge noch die Konkurrenz mit
dem Wirtsvolk sich gesellte, verschlechterte gründlich die
ökonomische — und rechtliche — Lage der Juden. Diese
Verschlechterung aber wirkte ihrerseits höchst nachteilig
auf die Widerstandskraft der Juden ein.
Die hier ganz eigentümlich wirkende Macht der großen
Zahl muß darum besonders berücksichtigt werden. ,,Die
Zahl ist das Wesen aller Dinge".
Für jüdische Wanderungen kommt das besprochene
Moment insofern in Betracht, als die geringere Widerstands-
fähigkeit desto schneller und sicherer die Auswanderung
der Juden herbeiführte. Sind doch die Länder mit größerer
jüdischen Bevölkerung — und einer ganz geringen Wider-
standskraft — die Hauptausgangspunkte der jüdischen Aus-
wanderung (Rußland, Galizien, Rumänien). Und in den
Hauptstädten der Vereinigten Staaten, wo sich in der kurzen
Zeit von 30 Jahren etwa 2 Millionen Juden konzentriert
haben, ist die jüdische (Immigrations-) Frage doch erst
nach der Einwanderung der osteuropäischen Juden auf-
getaucht!
Zwei Momente sind es mithin, die am deutlichsten das
Wesen der jüdischen Geschichte charakterisieren: das der
Konkurrenz und das der Wanderung. —
Im Folgenden wird der Versuch gemacht, die Wande-
rungen des jüdischen Volkes seit seinen ersten Wanderungen
in Kanaan bis in die Gegenwart hinein zusammenzustellen
— 6 —
und ihre Triebkräfte und I ei Hinzen zu bestimmen. Darum
ist die' Einteilung der Wanderungen, die hier vorgenommen
wird, auch nur ein Versuch, an dem vielleicht viel auszu-
setzen ist, und der darum keineswegs den Anspruch auf
Vollständigkeit erhebt.
Die vorgenommene Einteilung berücksichtigt nicht alle
Seiten der jüdischen Wanderungen, sondern nur ihre Rich-
tungen; man kann auch sagen: ihre geographisch-wirtschaft-
lichen Ziele; darum ist die (wirtschaftliche) Kultur des
Aus- und Einwanderungslandes zum Einteilungsprinzip
genommen; der Verfasser hat sich immer die Frage gestellt:
wie verhalten sich Aus- und Einwanderungsland zu ein-
ander? Ist ihre Kultur die gleiche oder nicht?
Uns scheint dieses Prinzip das brauchbarste zu sein:
denn nichts hat so auf die Lage der jüdischen Einwanderer
gewirkt als eben die wirtschaftliche Kultur des Einwande-
rungslandes, und immer ist die Auswanderung aus dem
betreffenden Lande nur auf seine ökonomische Entwicke-
lung zurückzuführen.
Außerdem zwingt uns die Geschichte der jüdischen
Wanderungen selbst zur Annahme eines solchen Prinzips:
denn wenn wir die jüdischen Wanderungen in ihrer Gesamt-
heit überblicken, so drängt sich uns sogleich eine gewisse
Gesetzmäßigkeit ihrer Richtungen auf: lange Zeit waren es
Wanderungen aus den Ländern mit hoher in die Länder mit
niedrigerer wirtschaftlichen Kultur, während die neueste
überseeische Auswanderung offenbar eine Wanderung aus
den ökonomisch rückständigsten in die ökonomisch fort-
geschrittensten Länder ist.
Aber es kommt noch ein zweites Moment hinzu: von
der Kultur des Einwanderungslandes hing in erster Linie
die Möglichkeit der jüdischen Assimilation ab 6 , damit
aber auch die Frage der Erhaltung der jüdischen Nation.
Wenn wir darum bei unserer Betrachtung gerade die Kultur-
stufen des Aus- und Einwanderungslandes berücksichtigen,
bereiten wir auch den Boden für die Entscheidung einer
der wichtigsten und reizvollsten Fragen der jüdischen Ge-
schichte vor: wie und warum hat sich das jüdische Volk bis
heute erhalten? —
— 7 —
Wir teilen die gesamten jüdischen Wanderungen in
drei Perioden ein. Die erste umfaßt einen gewaltigen Zeit-
raum: von den ersten Wanderungen in der Wüste Kanaan
bis zur Vertreibung aus Spanien und Portugal (1492 bzw.
1497). Die zweite umfaßt einen kürzeren Zeitraum von
etwa 400 Jahren: von der Vertreibung aus Spanien undPortu-
gal bis zum Beginn der überseeischen Auswanderung (1871).
Die dritte Periode endlich umfaßt die Wanderungen von
dem Beginn der überseeischen Auswanderung bis in die
Gegenwart hinein.
Auf den Charakter jeder einzelnen Periode kommen
wir noch .später ausführlich zu sprechen. —
Obwohl es bis jetzt keine Geschichte der jüdischen
Wanderbewegungen gibt, finden sich doch in verschiedenen
historischen Werken Versuche, sie zu erklären.
Auch diese Versuche haben ihre Geschichte. Zuerst
herrschte die Theologie nebst der Teleologie; man be-
trachtete die jüdischen Wanderungen als eine Strafe Gottes
für Sünden und Vergehen des Volkes und bürdete ihm
irgend eine Mission auf. Dieser Philosophie der jüdischen
Geschichte begegnen wir schon im Alten Testament; ihr
huldigten auch die meisten alten Historiker. ,,Der Nieder-
gang des jüdischen Reiches . . . wurde herbeigeführt durch
Vernachlässigung seines geistigen Bodens, sowie durch den
gänzlichen Mangel nationaler Berufscrfüllung, dessen sich
das jüdische Volk schuldig gemacht hatte" ' . Von einer
eigentümlichen Mission der Juden spricht übrigens auch
der heutige Führer der deutschen Sozialdemokratie: nach
der Meinung Kautskys hätten die nach England einge-
wanderten jüdischen Arbeiter die Mission, den „unkollek-
tivistischen Kopf" des englischen Arbeiters für die Ideen
des Sozialismus empfänglicher zu machen!
Im Laufe der Zeit fing man an, die jüdische Geschichte
anders aufzufassen; man stellte sie als eine Rechtsgeschichte
dar. In der rechtlichen Beschränkung sah man das größte,
ja das einzige Übel, so daß die volle Gleichberechtigung der
Juden mit der übrigen Bevölkerung auch die Lösung der
jüdischen Frage herbeiführen sollte. In diesem Geiste sind
die meisten Werke, die sich mit der neuesten jüdischen Gc-
— 8 —
schichte befassen, geschrieben. Und der Vorwurf, den
Sombarl gegen die jüdische Geschichtsschreibung erhebt,
nämlich „daß die meisten Autoren ja gar keine andere Ge-
schichte als Rechtsgeschichte kennen" \ kann darum auch
vielen heutigen Geschichtsschreibern nicht erspart werden.
Neben dieser Richtung bahnt sich erst in der neuesten
Zeit eine andere den Weg; man wendet sich mehr und mehr
der Wirtschaftsgeschichte der Juden zu, ja, man
versucht auch, die Schicksale des jüdischen Volkes aus
seiner ökonomischen Entwickelung und der seiner Wirts-
völker zu erklären. Die Entstehung der jüdischen Arbeiter-
parteien hat die Aufmerksamkeit auf die eigenartige jüdi-
sche Arbeiterfrage gelenkt, und die gewaltige Auswande-
rung der östlichen Juden war es auch, die die Untersuchung
der Lebensbedingungen der jüdischen Massen veranlaßte,
wobei man sofort auf die Besonderheiten in der ökonomi-
schen Entwickelung des jüdischen Volkes stieß.
In der vorliegenden Arbeit wird nun versucht, gerade
aus diesen Besonderheiten der sozial-wirtschaftlichen Ge-
schichte des jüdischen Volkes und dem wirtschaftlichen
Leben seiner Wirtsvölker die jüdischen Wanderbewegungen
zu erklären.
Zum Schluß sei noch erwähnt, daß die Darstellung der
Bewegungen der ersten und zweiten Periode nur den Cha-
rakter eines Überblickes trägt, die eine vollständige Er-
schöpfung des Gegenstandes keineswegs beansprucht: denn
sie ist eben nur als Einleitung gedacht. Es erschien aber
doch notwendig und billig, sie der Darstellung der dritten
Periode voranzuschicken. Auch könnte die überseeische
Auswanderung der neuen Zeit genauer untersucht werden;
doch kam es nicht darauf an, eine spezielle Unter-
suchung dieser Erscheinung zu geben, sondern nur ihre Ur-
sachen und ihren Zusammenhang mit der Lage der Juden
in den Hauptauswanderungsländern zu entdecken.
Aus der ganzen Arbeit wird es vielleicht doch möglich
sein, einen Überblick über die gesamten Wanderungen der
Juden zu gewinnen.
Erster Abschnitt.
Erste Periode: Wanderbewegungen der Juden seit
den ersten Wanderungen bis zur Vertreibung
aus Spanien und Portugal.
Erstes Kapitel.
Die biblischen Wanderungen und das egyptische und
babylonische Altertum.
1. Die ersten Wanderungen der Juden.
„Ein umherirrender Aramäer war mein Vater" (Dt. 26,5)
laßt Mose die Juden sagen und drückt damit den Inhalt der
jüdischen Geschichte aus. Zwar sind alle Völker ursprüng-
lich Wandervölker gewesen, doch sind nicht alle sich dessen
so bewußt geblieben wie die Söhne Israels. Hier kann
man nur feststellen, daß die späteren Volkssagen sich mit
den Wanderungen der Patriarchen ziemlich ausführlich be-
schäftigt haben; indessen es ist nicht sicher, daß diese Sagen
auch historisch denkbare Tatsachen enthalten °. Es läßt
sich daher über die ersten Wanderungen, von denen die
Genesis so viel erzählt (Ge. 12, 1-3, 10; 13, 1—4; 20; 26, l ff.;
31, 17 ff.) nichts Positives aussagen.
Man kann aber vermuten, daß der Charakter dieser
Wanderungen derselbe war, wie aller anderen Völker, die
Viehzüchter gewesen sind und mit ihren Herden umher-
schweiften. Daß die Hebräer schon damals auch noch den
Handel neben der Hauptbeschäftigung als Viehzüchter be-
trieben hätten, ist nicht zu ermitteln. Zwar deutet die Be-
nennung des Vaters der Israeliten ,, Aramäer" auf das Land
Charran, wo die Hauptstation des Handelsweges von Baby-
— 10 —
lonieo nach Syrien lag, doch ist dies wohl den Zuständen
späterer Zeiten entlehnt. Daß die Kulturvölker der da-
maligen Zeit — hauptsächlich die Babylonier — einen sehr
entwickelten Handelsverkehr hatten, kann hier nichts be-
weisen, da die Israeliten eben erst später aus primitiven
Verhältnissen heraus in den Kreis der Kulturvölker ein-
getreten sind.
Die ersten Wanderungen der Juden gehören mithin der
Zeit ihres Nomadentums an.
2. Die Wanderung nach Egypten und die
Rückkehr nach Palästina. (Okkupation
Kanaans um 1150 v. Chr.).
Als ein Kulturvolk erscheinen die Israeliten in der
Geschichte erst seit ihrer Niederlassung im Lande Kanaan.
Die hebräischen Berichte erzählen, daß sie vorher in Egyp-
ten, in der Provinz Gosen, ansässig gewesen, wohin sie
wegen der Mißernten und Hungersnöte ausgewandert
waren.
Diese Wanderung nach Egypten ist vielfach in Zweifel
gezogen. Welche historischen Elemente die biblische Sage
enthält, läßt sich nicht mehr feststellen. Es ist aber nicht
ausgeschlossen, daß die Hebräer sich lange Zeit hindurch
in Egypten aufhielten. Frühzeitig herrschte ein reger und
wohlgeordneter Verkehr zwischen Egypten und Syrien.
,,Von demselben legt auch das berühmte Wandgemälde im
Grabe des Chnumhotep Zeugnis ab, welches darstellt, wie
im 6. Jahre des Usertesen I. 37 Amu (d. h. Kanaanäer) mit
reichen Geschenken, vor allem mit kostbarer Augensalbe,
in den antaeopolitischen Gau einwandern und Chnumhoteps
Schutz aufsuchen. In noch viel höherem^ Maße sind die
asiatischen Fremden jedenfalls in Unteregypten ein-
gewandert" 10 . Es ist nun anzunehmen, daß unter diesen
,^Amu" auch Hebräer gewesen sind. Sie konnten sich in
Egypten wirtschaftlich entweder als Händler oder Hand-
werker betätigen. Egypten stellte damals einen Feudal-
staat mit Naturalwirtschaft dar; die Handwerksberufe blie-
ben jedoch vollständig frei; die gesamte Kultur war hoch
entwickelt. Die Israeliten aber stellten ein kulturell tiefer
— 11 —
stehendes Volk dar und wurden gewiß auch als ein solches
angesehen; sie nahmen in dem fest organisierten Staat
jedenfalls eine besondere Stellung ein.
Der Auszug aus Egypten unter Mose ist in tiefes Dunkel
gehüllt; es fehlt hier vollständig an irgend welchen An-
haltspunkten. Desto zahlreicher sind freilich alle möglichen
und unmöglichen Hypothesen. Die Hypothese Kautskys n ,
daß die Hebräer in Egypten eine Niederlassung fremder
Händler bildeten und je nach den Situationen im Lande
verschieden behandelt wurden, um schließlich als , »lästige
Ausländer" verjagt zu werden, ist eben nur eine Hypothese.
Jedenfalls war die Okkupation Kanaans kein einheit-
licher Akt; sie dauerte sicher ziemlich lange. So sind ein-
zelne Stämme, bevor sie sich nach und nach im Lande
niederließen, noch einige Zeit hindurch in der Wüste herum-
gewandert.
3. Die Fortführung nach Babylonien.
(597 und 586 v. Chr.).
Erst über die Fortführung nach Babyhonien haben sich
zuverlässige Überlieferungen erhalten, sodaß ihre Ursachen
und ihr Verlauf genauer und sicherer festgestellt werden
können. Mit dieser Fortführung, wie überhaupt mit dem
Exil, fängt die eigenartige Geschichte der Juden an, denn
bis dahin unterschieden sie sich schwerlich von anderen
Völkern des Orients. Die unmittelbare Ursache der Fort-
führung war der Zug des babylonischen Königs Nebukad-
nezar gegen das kleine Reich Juda und dessen vollständige
Eroberung nach der Einnahme Jerusalems. Um diesen Zug
Nebukadnezars verstehen zu können, müssen wir uns die
damalige Lage der Dinge vergegenwärtigen.
Nebukadnezar, der König der Babylonier, hat, nachdem
er das Joch der Assyrier abgeschüttelt, ein neues, mäch-
tiges Reich gegründet. Um den Wohlstand des Reiches zu
fördern, mußte er die alten, durch die vorherigen Kriege
unterbrochenen Handelsbeziehungen wieder anknüpfen.
Denn der Handel war damals die Hauptquelle des Reich-
tums. Nun hatte Nebukadnezar zum Rivalen das alte Egyp-
ten, das schon von jeher den Wunsch hegte, den ganze a
— 12 —
Handel des Orients an lieh eu reißen. Daher war dfa ganze
ändere Politik Nebnkadnezars durchaus beherrscht von dem
Gegensatz zu Krypten.
Auf dem Wege von Babylonien nach Egypten ab'-r lag
das kleine, seiner geographischen Lage nach so bedeutende
Palästina. Palästina war damals das Durchgangsland zwi-
schen zwei großen Reichen: Egypten und Babylonien. Diese
geographische Besonderheit bestimmte die ganze Politik der
Juden — aber auch das Verhalten der Nachbarn ihnen
gegenüber. Denn die ersteren konnten den fremden Handel
entweder vermitteln und fördern oder hemmen, indem sie
Karawanen überfielen und ihnen Zölle auferlegten.
Es lag daher im direkten Interesse Nebukadnezars,
Palästina in Abhängigkeit zu bringen, zumal die Juden
Miene machten, mit den Egyptern ein Bündnis zu schließen.
Ebenso wie sich später im Mittelalter erbitterte Kämpfe um
eine wirtschaftsgeographisch günstige Lage, etwa um das
Stapelrecht — z. B. zwischen Wien und Nürnberg oder um
das der rheinischen Städte — drehten, wollte Nebukadnezar
in Palästina freie Hand haben. Wie ,,der König von Damas-
kus nach einem Siege über Israel sich nicht nur Grenz-
distrikte abtreten läßt, sondern auch das Recht erwirbt, in
Samaria einen Bazar anzulegen" 12 t beanspruchte Nebukad-
nezar in Jerusalem wohl auch ähnliche Rechte.
Im Jahre 597 v. Chr. begann er den Krieg. In dem-
selben Jahre fiel schon Jerusalem. Um nun den Feind
wehrlos und den selbständigen Handel vollständig unmög-
lich zu machen, führte Nebukadnezar den König und die
Reichen, d. h. Großhändler und Großgrundbesitzer, aber
auch einige reiche Handwerker, die ebenfalls Handel trieben,
mit sich nach Babylonien. ,,Alle wehrfähigen Leute, sieben-
tausend an der Zahl, und die Schmiede und Schlosser,
tausend an der Zahl, lauter kriegstüchtige Männer — die
brachte der König von Babel als Gefangene nach Babel."
(Das 2. Buch der Könige. 24, 16.) Die angegebene Zahl ist
historisch richtig, doch muß man dazu noch den ganzen
Hofstaat, die Frauen und Staatssklaven zählen 13 . Diese
Maßregel half jedoch nicht, und die Zurückgebliebenen
wollten ihre Selbständigkeit im Verkehr mit Egypten wieder
— 13 —
geltend machen. Darum sah sich Nebukadnezar gezwungen,
Jerusalem aufs neue zu belagern. Nach dessen Einnahme
(586 v. Chr.) führte er nunmehr fast die gesamte Bevölke-
rung Jerusalems mit sich nach Babylonien. Aber auch die
übrige Landbevölkerung mußte ins Exil wandern, sodaß in
beiden Fällen zusammen 40 000 Männer — abgesehen von
Frauen und Kindern — deportiert wurden. Dabei flüchtete
ein Teil der Bevölkerung nach Egypten und nur , .etliche
Winzer und Ackerleute" blieben zurück, hochgerechnet
10—15 000 Mann.
Dies „Verlassen" des eigenen Landes, das jetzt voll-
kommen verödet dalag, bildete, wie wir gesehen haben,
nicht ein notwendiges Resultat der inneren Entwickelung
des Landes, sondern wurde einzig und alleine dadurch her-
beigeführt, daß zwei Nachbarstaaten um die Handelsherr-
schaft stritten.
Waren also schon bei dieser ersten großen Wanderung
der Juden die Interessen der fremden Völker so ausschlag-
gebend gewesen, so gestaltete sich die weitere Geschichte
des jüdischen Volkes vollends in ausschließlicher Abhängig-
keit vom gesamten — sozialen und geistigen — Leben
anderer Völker.
4. Die Lage der Juden in Babylonien und
die Rückkehr nach Palästina. (537 v. C h r.) .
Das Exil dauerte nicht lange. Das große babylonische
Reich konnte dem Ansturm eines frischen, starken Natur-
volkes, wie es die Perser waren, nicht Widerstand leisten;
auf den Trümmern des alten Reiches hat Kyros ein neues,
noch größeres, noch mächtigeres errichtet.
Er war gleichzeitig auch der Befreier der Juden, der
ihnen erlaubte, wieder nach Palästina zu ziehen. Von einer
eigentlichen Befreiung aus dem Exil kann man jedoch nicht
reden; denn die babylonischen Juden bedurften deren gar
nicht.
Nebukadnezar, samt seinem Volke, war in dem Lande,
in das er die Juden fortführte, selbst ein Fremder; die
heimische Bevölkerung wurde niedergemetzelt, verjagt oder
zu Sklaven gemacht. Das Land lag verödet, Grund und
— 14 —
Boden gab es genug, und tüchtige Kaufleute konnte Nehu-
kadnczar sehr gut brauchen. Außerdem verstanden die
Juden es ausgezeichnet, sich in der neuen Heimat einzu-
richten, zumal sie auch ihr bares Vermögen aus der alten
Heimat mitgebracht hatten; ebenso hatten sie besitzlose
Arbeitskräfte, die nach der zweiten Zerstörung Jerusalems
ins Land nachkamen.
,,Baut Häuser und wohnt darin, pflanzt Gärten und
genießt ihre Früchte! Nehmt Weiber und zeugt Söhne und
Töchter . . . Kümmert euch um die Wohlfahrt des Landes,
in das ich euch weggeführt habe" soll Jeremia im Namen
Gottes den Juden aus Jerusalem nach Babylon geschrieben
haben. (Jeremia 29, 5—7.) Gleichviel — die Juden haben
nach dieser Maxime gehandelt und förderten wirklich den
Wohlstand des Landes, indem sie sich — und das sei hier
schon vorweggenommen — an den meisten Handelskara-
wanen beteiligten. Dadurch verbreiteten sie sich nicht nur
durch das ganze Land, sondern auch auf dem gesamten Ge-
biete, das unter persischer Herrschaft stand (hauptsächlich
in Kleinasien). Schon damals begannen mithin die Wande-
rungen einzelner jüdischer Kaufleute, die wir später über-
all finden.
Jedoch wäre es sehr verkehrt, wenn wir uns die baby-
lonische Judenheit als eine homogene Gruppe dächten.
Abgesehen davon, daß es außer den Grundbesitzern und
Händlern noch eine ziemlich starke Gruppe von Hofleuten
gab, die ihre Unterkunft am persischen Hof fand, mangelte
es auch an Armen und Besitzlosen nicht. Und die letzteren
waren es, die aus der Erlaubnis des Kyros, wieder nach
Palästina zurückzuziehen, Gebrauch gemacht haben; der
König selbst begünstigte möglichst ihren Auszug. Denn es
lag jetzt im Interesse des Kyros, in Palästina eine anhäng-
liche und treue Bevölkerung zu gewinnen, die er gegen die
alten Feinde aller am Euphrat und Tigris entstehenden
Reiche: nämlich gegen die Egypter, gebrauchen konnte.
Herodot (III, 4) erzählt, daß „der Überläufer Phanes dem
König Kambyses riet, als dieser die Expedition gegen Egyp-
ten unternahm, sich mit dem König der Araber in gutes
Einvernehmen zu setzen, um seinen Truppen einen sicheren
— 15 —
Durchzug durch das Land bis Egypten zu gestatten" 14 . Es
mag wohl richtig sein, daß eine ähnliche Absicht auch bei
Kyros vorlag: er wollte, den künftigen Krieg voraussehend,
dadurch einen Vorposten gegen Egypten schaffen.
Zwar sind in dieser Epoche auch schon die Griechen
ein Volk, dessen Handel seit dem 8. Jahrhundert einen
mächtigen Aufschwung genommen hatte, doch waren da-
durch die alten Handelswege noch nicht verschoben und
der Handel zwischen dem Niltal und Babylonien groß
genug. Palästina hatte seine Bedeutung als Durchgangs-
land noch nicht eingebüßt, und dies bewog Kyros, die
Grundlage zu seinem späteren Aufblühen zu legen.
Die Rückkehr der Juden nach Palästina fand also
durch Kyros' Gnade statt, doch wollten nicht alle Exu-
lanten dieser Gnade teilhaftig werden. Die Zahl der
Zurückgekehrten betrug 42 360, darunter etwa 30 000
Männer nebst 7337 Knechten und Mägden; etwa 20 000
Männer blieben in Babylonien zurück, und zwar die reich-
sten, die sich am Auszuge nur durch reiche Geschenke
beteiligten. Die Rückkehrenden aber unter der Führung
einiger Adeligen und Hofleute, die die Wiederherstellung
des jüdischen Staates schon längst planten, gelangten nach
ca. sechsmonatlicher Reise in die alte Heimat, wo sie das
verödete Land wieder in Besitz nahmen.
Wie die Juden sich nunmehr in Palästina wieder ein-
gerichtet haben, und zwar mit fortdauernder Hilfe der baby-
lonischen Judenheit und unter ihrem starken Einfluß, wie
die innere Entwickelung des Judentums in Palästina weiter
sich gestaltete — dies alles geht uns hier nichts an; uns ist
es nur darum zu tun, den Verlauf der Wanderungen dar-
zustellen, und nun gehen wir, einige Jahrhunderte über-
springend, zu den nächsten Wanderungen der Juden über.
Doch bevor wir es tun, möchten wir versuchen, die
Bedeutung der ersten jüdischen Wanderbewegungen uns
klar zu machen.
5. Die Bedeutung der ersten Wanderungen.
Die ersten Wanderungen entziehen sich einer genaueren
sozialwissenschaftlichcn Analyse, da sie sich teils im bibli-
— 16 —
scheu Altertum abgespielt haben, von den wir nicht viel
wissen, teils aber in einem Zeitalter — im 6. Jahrhundert
v. Chr. — das nach seiner ökonomischen Struktur hin noch
nicht genügend untersucht ist.
Doch sind diese Wanderungen von größter Bedeutung,
da sie — abgesehen von allem anderen — den Inhalt der
ältesten jüdischen Religionsbücher bilden. Und das hat
etwas zu bedeuten. Denn diese Religionsbücher — ich
meine auch die 5 Bücher Moses lB (von den Propheten wie
Esra und Nehemia, die während und nach dem Exil wirkten,
nicht zu sprechen), — welche die Bestimmung hatten, die
Juden auf allen ihren späteren Wanderungen zu begleiten,
haben dadurch auf die Herausbildung der jüdischen Eigen-
art mächtig eingewirkt. Selbst der literarische Niederschlag
der ersten Wanderungen, waren diese Bücher ihrerseits der
Führer und der Trost der Juden in allen ihren späteren
Wanderschicksalen.
Nun ist wohl anzunehmen, daß die Idee der Aus-
erwähltheit des Volkes Israel und die damit verbundene
messianische Hoffnung — lange Zeit hindurch der größte
Trost der Juden und eigentlich die ausschlaggebende Idee
der jüdischen Religion 16 — aus den Wanderungen heraus
zu erklären ist. Erst seit dem Exil datiert die Überhebung
der Juden über andere Völker, über die ganze Menschheit.
Die Wanderungen wurden schon von Anfang an nicht
als Segen, sondern meistens als Strafe empfunden und auch
an vielen Stellen den Juden von Jahwe als Strafe ange-
droht. „Euch will ich zerstreuen unter den Völkern und
will hinter euch her das Schwert zücken, und euer Land
soll zur Wüste und euere Städte sollen zu Trümmerhaufen
werden". (Lv. 26, 33). Doch mußte dem Volke in seinen
ihm als Strafe auferlegten Wanderungen ein gewisser
Trost gegeben werden, damit es nicht ganz verzweifelte
und noch einen Halt, eine Würde im Leben hätte 1T .
Eine theologische Auseinandersetzung Moses mit Gott
über die Führung des Volkes während seiner Wanderung
in der Wüste ist in dieser Beziehung sehr charakteristisch.
Mose will von Jahwe Genaueres über seine Absichten
wissen, als Beweis dafür, daß er Gnade bei ihm gefunden
— 17 —
hat. „Da erwiderte er (Jahwe): Soll ich selbst mitgehen
und dich zum Ziele bringen? Er (Mose) antwortete ihm:
Wenn du nicht persönlich mitgehst, so führe uns lieber nicht
von hier hinweg. Woran soll denn sonst erkannt werden,
daß ich samt deinem Volke Gnade bei dir gefunden habe,
wenn nicht eben daran, daß du mit uns gehst, und wir,
ich und dein Volk, dadurch ausgezeichnet
werden vor allen Völkern auf Erde n?"
(Ex. 33, 14—16). Hier fordert also Mose einfach für die
Juden eine besondere, bevorzugte Stellung. Ist ihm dies
aber einmal gewährt worden, so bleibt das jüdische Volk
Jahwes Volk, sein auserwähltes, das vor allen Völkern auf
Erden ausgezeichnet ist. Die Idee der Auserwähltheit ist
da, und später sagt Jahwe: ,,Ich bin Jahwe, der euch heiligt,
der euch weggeführt hat aus Egypten, um euer Gott zu sein
— ich, Jahwe" (Lv. 22, 32—33).
Dieser Glaube an die Auserwähltheit wird durch die
nachfolgenden Wanderungen nur genährt, indem die Juden,
unter verschiedenen Völkern zerstreut, eine Sonderstellung
einnehmen; hierdurch werden sie in ihrem Bestreben be-
stärkt, ihre Eigenart dadurch zu erhalten, daß sie nach ihren
eigenen, besonderen religiösen Gesetzen lebten. Das Leben
aber nach eigenen Gesetzen, das den Zweck hatte, die
völkische Eigenart: nämlich die Auserwähltheit, rein zu er-
halten, machte die Juden zuweilen sehr hochmütig, indem
sie sich mehr als andere Völker dünkten. Doch war dies
ein Ersatz für die Misere der Wanderungen, für das Fehlen
eines selbständigen, politischen Lebens, — und so wurde
das Bewußtsein der Auserwähltheit durch die Wanderungen
nur gestärkt. Allerdings brachte diese von den Juden
immer so stark betonte Idee der Auserwähltheit — was
ohne Wanderungen und Zerstreuung beim normalen Leben
im eigenen Staate nicht gut möglich gewesen wäre — ihnen
Haß und Hohn entgegen. Das bezieht sich hauptsächlich
auf das ganze Altertum. ,, Nicht ihr (der Juden) Gott und
ihre Religion an sich ist es, was Spott und Hohn und Ver-
folgung der Heiden hervorruft, sondern die hochmütige
Überlegenheit, mit der sie als alleinige Bckcnner des wahren
Gottes allen anderen Völkern entgegentreten, jede Bcrüh-
Wlad. W. Kaplun-Kogan, Wanderbewegungen. 2
— 18 —
rung mit ihnen all befleckend zurückweisen, den Anspruch
erheben, mehr und besser /.u sein als sie, und berufen zu
sein, über sie zu herrschen"
Die zweite Idee, die vielleicht auch dem Verlauf der
ersten Wanderungen entsprungen ist, ist die der Rückkehr.
Zweimal kehrten die Juden zurück nach Palästina i9 t und
das hat den Glauben erweckt, daß diese Rückkehr den not-
wendigen Abschluß der Wanderungen bilden soll. Dies
wurde von den Verfassern der religiösen Schriften ganz
besonders mit Anwendung auf Allmacht und höhere Ab-
sichten Jahwes benutzt.
Aber es kommt noch ein anderes Moment hinzu. Nach
der Fortführung nach Babylonien war das jüdische Volk
politisch untergegangen. Doch bedeutete das nicht, daß die
Großen des Volkes, die nunmehr in Babylon hauptsächlich
am Hofe Unterkunft fanden, die Idee der Wiederherstellung
der politischen Selbständigkeit ohne weiteres aufgegeben
hätten. Zwar prosperierten sie in der Fremde und hatten
keinen besonderen Anlaß, sich über ihre Lage zu beklagen,
doch eben darum, weil sie am Hofe waren und dadurch die
Möglichkeit bekamen, auf die Herrscher Einfluß zu ge-
winnen, kam ihnen der Plan der Wiederherstellung nicht so
aussichtslos vor. Außerdem konnte sich nur durch diesen
Akt der Restauration die Macht des Nationalgottes kund-
geben, indem er sein Volk nie verläßt und es aus der Not
rettet. Gleichzeitig aber offenbarte sich dieser Nationalgott
auch als Weltgott, und zwar dadurch, daß er mit der Weg-
führung seines Volkes aus dem Exil anscheinend seine
Macht auch über andere Völker äußerte 20 .
So mußte wenigstens eine „geringe Zahl" erhalten
bleiben. Und in der großen Trostrede steht es: ,,So wird
Jahwe, dein Gott, dein Geschick wenden und sich deiner
erbarmen und wird dich wieder sammeln aus allen den
Völkern, unter die dich Jahwe, dein Gott, verstreut hat.
Wenn sich Versprengte, die zu dir gehören, am Ende des
Himmels befinden sollten, wird dich Jahwe, dein Gott, von
dort sammeln und dich von dort holen, und Jahwe, dein
Gott, wird dich in das Land bringen, das deine Väter be-
sessen hatten, damit du es besitzest, und wird dich be-
— 19 —
glücken und mehren, reichlicher als deine Väter" (Dt. 30,
3—5).
Die praktische Bedeutung dieser Idee bestand aber
darin, daß die Juden, die nachher so viel zu wandern hatten,
immer — und besonders wenn es ihnen schlecht ging —
sich als , »Ausländer" schon von vornherein fühlten, die in
der Fremde nur vorübergehend sich aufhalten, um schließ-
lich doch die Rückkehr anzutreten. Es begann damit die
bewußte Abschließung des Volkes. Diese Idee, die sogar
bis in die Gegenwart hinein bei der Masse der östlichen
und wohl auch der eingewanderten amerikanischen Juden
ungemein stark wirkt, ließ die Juden nirgends seß-
haft werden. Auch begünstigte sie ein leichteres Ab-
finden mit der rechtlichen und ökonomischen Lage,
die nicht immer und nicht überall glänzend war. Man ver-
söhnte sich mit den schlechten gegenwärtigen Zuständen in
der Hoffnung, daß sie nur vorübergehend seien. Gleich-
zeitig aber hatte man einen Trost, eine Würde: — daß man
ein auserwähltes Volk ist, das nur zu Gottes Ehren all die
Drangsale zu erleiden hat.
Die Bürde der Wanderungen wurde zu einer Würde, —
und diese fand das Volk in seinen heiligen Büchern, der
Thora, den 5 Büchern Moses. Daß aber die letzteren ihre
bekannte Fassung erhielten, verdanken wir zum guten Teil
dem Verlauf der ersten Wanderungen* 11 .
Zweites Kapitel.
Das griechische und römische Altertum.
1 . Die jüdischen Wanderungen seit dem
Beginn der hellenistischen Zeit bis zum
Untergang des jüdischen Staates.
Mit dem Beginn der hellenistischen Zeit fingen die frei-
willigen Wanderungen der Juden an. Palästina, das in-
zwischen wieder eine starke Bevölkerung bekam, wurde
nach und nach wieder von einem Teil seiner Bevölkerung
— und zwar nicht vom ärmsten — verlassen. Diesmal war
— 20 —
das Ziel der Auswanderer nicht Babylonien, sondern in
erster Linie Krypten und Syrien, dann Italien, Griechen-
land, Kleinasien und die Inseln.
Dies hing mit dem veränderten Gang des Welthandel
zusammen.
Jetzt bewegte sich der Welthandel nicht mehr zwischen
dem Nil- und Euphrattal, sondern hauptsächlich auf dem
Mittelmeer. Denn die hellenistische Zeit bedeutete eben
neben der Erschließung des Orients für Griechenland und
für die griechische Kultur auch — und zwar in erster Linie
— eine starke Verschiebung der Handelsverhältnisse. ,, Neben
der neuen Weltstadt an der Küste Egyptens tritt vor allem
Kleinasien in den Vordergrund" 22 . Der Handel war nicht
mehr Land- sondern Seehandel, und Alexandria wurde eine
der größten Handelsstädte der Welt. So verlor Palästina
seine ursprüngliche vermittelnde Stellung. Dazu kamen
noch ununterbrochene Kriege zwischen Egypten und Syrien,
die die Sicherheit des Lebens in Palästina aufs schwerste
bedrohten. Das Land hatte ,,von seiner Zwischenstellung
nur noch alle Nachteile bewahrt, alle Vorteile dagegen ver-
loren" 23 .
Und nun fingen die Reichen Palästinas an, auszu-
wandern; man kann nicht sagen, daß sie dabei patriotisch
verfuhren. Zwar schickten sie regulär ihre Opfergelder
nach Jerusalem, doch flössen diese nur in die Taschen der
Priester; der jüdische Bauer und kleine Grundbesitzer, die
schon durch vorherige Konzentration des Grund und Bodens
ruiniert waren, strömten jetzt der Hauptstadt zu, wo sie
— ebenso wie damals in Griechenland — etwas zu ver-
dienen hofften. Es fing damals in Palästina der Zerfall an,
der schließlich zu ununterbrochenen Revolutionen, zeit-
weiliger Herrschaft des Pöbels und Vernichtung des Staates
durch die Römer führte.
Die Auswanderung stellte damals keinen einheitlichen
Akt dar, sondern vollzog sich langsam, aber desto sicherer.
Sie war in ihren Resultaten so groß, daß allein in
Egypten im 1. Jahrhundert nach Chr. schon 1 Million
Juden wohnte (ein Achtel der Gesamtbevölkerung Egyp-
tens). Die größte Zahl der Juden hielt sich in Alexandria
21
auf (200 000 auf 500 000 der Gesamtbevölkerung). Sie be-
wohnten dort beinahe zwei von den fünf Quartieren der
Stadt, und zwar diejenigen, die an der Meeresküste lagen.
Das allein gibt schon gute Aufschlüsse über ihre Tätigkeit.
„Von dieser Lage (am Meeresufer) zogen sie (die Juden)
den größtmöglichen Nutzen; ... sie verlegten sich auf
Schiffahrt und Ausfuhrhandel. Die Getreidefülle. welche
Rom für seine Bevölkerung und Legionen von Egyptens
reichen Fluren bezog, wurde ohne Zweifel auch auf judäi-
sche Schiffe verladen, durch judäische Kau Heute auf den
Markt gebracht" 24 . Außerdem gab es auch viele jüdische
Zoll- und Steuerpächter, die ganz große Vermögen besaßen.
Nach Rom kamen die Juden schon sehr früh. Zuerst
waren es vielleicht nur Gesandte des jüdischen Staates,
denen es in der Weltstadt sehr gut gefiel und die sich dort
niederließen. Ihre Zahl vergrößerte sich sehr durch Zuzug
der Juden aus Palästina und anderen Gegenden des römi-
schen Reiches. Im Jahre 3 v. Chr. befanden sich allein in
einer Gesandtschaft an Augustus 8000 Männer. Die Haupt-
beschäftigung der Juden bildete neben dem Handel sicher
noch das Geldgeschäft; sie gelangten an den Hof der römi-
schen Kaiser, denen sie dann und wann in besonderer Not
sehr gute Dienste leisteten. Die Armen aber unter ihnen
waren die von den Eroberern mitgebrachten Sklaven.
Es würde uns zu weit führen, die damalige Auswande-
rung aus Palästina in allen ihren Richtungen zu schildern.
Genug: die Juden zerstreuten sich damals in der ganzen
Kulturwelt, oder: die Wege des Welthandels waren auch
die Wege der jüdischen Wanderungen. Es gab damals keine
(Handels-) Stadt, die nicht eine noch so kleine Gemeinde
gehabt hätte. Die Sibylle konnte daher sagen, ,,daß jeg-
liches Land und jegliches Meer von ihm (dem jüdischen
Volke) erfüllt ist" 2B .
Doch sind die geschilderten Wege der jüdischen Aus-
wanderung in der Zeit vom 2. Jahrhundert vor Chr. bis zum
1. Jahrhundert nach Chr. nicht die einzigen. Der bis-
her geschilderte Zug war der erste freiwillige Strom
der jüdischen Auswanderer. Den zweiten bildeten die
jüdischen Kriegsgefangenen, die von den Eroberern
— 22 —
weggeführt wurden; unter ihnen befanden sich viele
Arme, die als Sklaven verkauft wurden, jedoch an
den Orten, wo eine jüdische Gemeinde schon existierte,
von dieser losgekauft wurden. Die Zahl solcher Kriegs-
gefangenen mag sehr groß gewesen sein. Schon Pompe jus
(63 vor Chr.) hat viele Juden nach Rom fortgeführt. Titus
soll 900 000 Juden zu Gefangenen gemacht haben 2r ; wenn
die Zahl auch etwas hochgerechnet ist, so wurde doch eine
beträchtliche Zahl der Juden damals als Sklaven den Meist-
bietenden verkauft und von Palästina weggeführt. Auch
haben sich viele Juden mit den römischen Legionen über
das ganze Gebiet der römischen Herrschaft zerstreut.
Der dritte Strom — und der fällt allerdings schon in
die Zeit nach der Zerstörung des zweiten Tempels — be-
stand aus einem Teil der palästinensischen Juden, die nach
Babylonien auswanderten. Dort sammelten sich nach und
nach die Reste des jüdischen Volkes und stellten lange Zeit
hindurch das Zentrum der Judenheit dar.
Und endlich zerstreute sich ein Teil — und dies waren
die besten, kampfeslustigen und todesmutigen Verteidiger
der jüdischen Unabhängigkeit — auf der arabischen Halb-
insel, wo sie später ein unabhängiges und starkes Gemein-
wesen bildeten.
Jedoch kommen diejenigen, die nach Babylonien und
der arabischen Halbinsel auswanderten, für die weitere Ge-
staltung der jüdischen Wanderbewegungen in Europa nicht
in Betracht; nach Europa kamen die Juden damals über
Egypten.
Aus der wirtschaftlichen Stellung der Juden in diesem
Lande können wir auf die soziale Gliederung der an der
Auswanderung aus Palästina nach Egypten und Europa be-
teiligten Volksschichten schließen: es war nicht mehr eine
allgemeine Volks auswanderung, wie es im großen und
ganzen diejenige nach Babylonien gewesen war, sondern nur
die einer bestimmten Klasse. Dies ist umsomehr
zu betonen, als nur aus diesem Umstände die zukünftige
Gestaltung der jüdischen Bewegungen zu erklären ist. Die
soziale Differenzierung der jüdischen Wanderungen hörte
zum guten Teil auf; daher kam damals nach Europa nicht
— 23 —
das jüdische Volk, sondern nur eine Klasse der jüdischen
Händler.
2. Das ausgehende Altertum.
Die eben geschilderten Wanderungen waren grund-
legend für die Zukunft der Juden. Abgesehen davon,
daß an ihnen sich ganz große Massen beteiligt
haben, sie haben sich — und das ist das Ausschlag-
gebende — nicht auf zwei, drei Länder beschränkt, sondern
erstreckten sich über das ganze, den Menschen damals
überhaupt bekannte Gebiet. Und einmal so auf der ganzen
Erde zerstreut, mußten die Juden sich entweder im Or-
ganismus des Volkes, in dessen Mitte sie verschlagen
wurden, einzugliedern versuchen, oder wenn dies nicht ging:
weiter wandern. Dabei wurde der Gang dieser Wande-
rungen wieder, wie immer, bestimmt durch die wirtschaft-
liche Entwickelung der Völker, in deren Mitte die Juden
lebten.
Eine ungeheuere Krise suchte das mächtige römische
Reich heim. Das politische Leben stockte vollständig, und
die Gemüter wendeten sich von ihm ab und der Religion zu.
Zwar hatte man keine erschütternden Kriege zu bestehen,
trotzdem aber sank der Wohlstand unaufhörlich; zu dem
allem gesellte sich der Rückgang der Bevölkerungszahl.
Als Resultat des Rückganges in der Produktion und des
Niederganges der Landwirtschaft trat eine ständig wach-
sende Geldnot ein, die immer drückender und unerträglicher
wurde. ,,In der Landwirtschaft wird der Ackersklave
immer mehr durch freie Kolonen, erblich auf dem Gute
sitzende, zwischen kleinen Bauern und Tagelöhnern un-
gefähr die Mitte haltende, abhän ige Landwirte ersetzt" . . .
,,Die Folge ist die Rückkehr zu den primitiven Lebensver-
hältnissen, indem überall der Zwang, die rechtliche Bindung
eintritt" 2T .
Wie haben sich die Juden — gemeint sind die Juden
in der Zerstreuung und nicht die in Palästina — mit dieser
Krise abgefunden? Gar nicht. Denn diese Krise, die
schließlich die mächtigsten Staaten der Welt zugrunde
richtete, hat die Juden nicht berührt; ihre Lage wurde
— 24 —
weder verbessert, noch entschieden verschlechtert. Denn
sie gehörten nicht mit ihrer ganze i, Existenz dem Staate, in
dem sie wohnten, an, sie waren kein notwendiges Glied der
Gesellschaft, welches mit den anderen untrennbar ver-
bunden gewesen wäre; die Wurzeln ihrer wirtschaftlichen
Existenz waren nicht so tief in den Boden des betreffenden
Volksorganismus eingedrungen, daß sie das Schicksal der
zugrunde gehenden Gesellschaft hätten teilen müssen. Die
letztere verschwand — die Juden aber waren die einzigen,
die sich aus der alten in die neue Welt hinüberretteten.
Darum erschienen sie den nachfolgenden Geschlechtern als
ein übernatürliches, mächtiges, ewiges Volk, das den Ge-
setzen des Lebens und Vergehens nicht unterworfen ist, das
ewig da ist und ewig da sein wird. (Die Legende vom
Ewigen Juden).
In einer Hinsicht hat die Krise die Juden doch berührt:
sie mußten den Gegenstand ihres Handels wechseln oder
richtiger: beschränken. Der Handel mit Massenprodukten,
die in Rom und anderen Städten einen großen Absatzmarkt
fanden, stockte. Mit dem Übergang zur Naturalwirtschaft
brauchte man nicht mehr diese Massenprodukte, ja die
Massen, das Volk, brauchten überhaupt keinen Handel mehr;
denn es wurde alles auf den neugegründeten Höfen erzeugt.
Der Gesamtbedarf wurde restlos durch eigene Arbeit be-
friedigt.
Der Handel wurde nunmehr ein Luxushandel. Könige,
Kirchenfürsten, Herzöge und reiche Äbte erscheinen jetzt
als Abnehmer. ,,Dem Kaufmann, soweit er nicht Klein-
krämer war, blieb nur Vertrieb von hochwertigen Luxus-
artikeln vorbehalten, deren Abnehmer er unter den wenigen
zahlungsfähigen Reichen zu suchen hatte" 28 .
Allerdings konnten sich die Juden bald mit einem
neuen Massenprodukt trösten: Sklaven. An dem Handel
mit den letzteren haben sie sich ganz hervorragend beteiligt,
ja man kann sagen: sie waren eine Zeit lang fast die ein-
zigen, die ihn betrieben.
Neben dem Luxus- und Sklavenhandel, den von nun
an die Juden fast ganz an sich rissen, fing das eigentliche
Geldgeschäft der Juden zu blühen an. Zwar verlor das
— 25 —
Geld mehr und mehr seine allgemeine Bedeutung als das
einzige Zahlungs- und Tauschmittel. Wir haben es eben
nicht mehr mit einer Geldwirtschaft zu tun, wie es die Wirt-
schaft des Altertums vor ihrem Zusammenbruch gewesen
war, sondern mit einer Naturalwirtschaft — und zwar in
weitem Umfange: sie erstreckte sich auf die Steuererhebung
sowie auf die Zahlung des Soldes und der Gehälter. Nichts-
destoweniger aber brauchten die Herren und die Großen auf
dem Lande doch ab und zu Geld. Und hier konnte der
geldbesitzende Jude die besten Dienste leisten 20 . Auch in
Rom selbst, mit dem der Norden Europas ferner in Verkehr
blieb, ist die Geldwirtschaft eigentlich nie untergegangen —
ebenso wenig wie in Byzanz. Außerdem mochte die Natural-
wirtschaft im Binnenverkehr der nordischen Völker noch so
unbeschränkt geherrscht haben — der auswärtige Luxus-
handel konnte auch fernerhin nur mittels des Geldes be-
werkstelligt werden.
Die Wanderungen dieser Zeit sind nicht groß und be-
deutend — wenigstens für die Juden selbst nicht. Die
Wanderungen bewegen sich in der Richtung vom Süden
nach dem Norden Europas, dorthin, wo die Naturalwirt-
schaft mehr und mehr Platz greift, und wo einzelne Juden
immer noch eine wirtschaftliche Betätigung als Händler
fanden.
Drittes Kapitel.
Das Mittelalter.
1. Babylonien.
Im Zeitalter, das man gewöhnlich als das des früheren
Mittelalters bezeichnet, hat sich das jüdische Volk in seiner
Mehrheit in Babylonien aufgehalten. Es ist jedoch nicht
unsere Aufgabe, die babylonische Geschichte der Juden hier
vorzutragen. Für unsere Zwecke ist es nur wichtig, zu er-
wähnen, daß die Juden Babyloniens sich vollständig dem
fremden Volksorganismus eingegliedert haben.
Die Ursachen dieser Erscheinung haben wir schon er-
örtert. Das Ausschlaggebende war, daß die Juden Baby-
— 26 —
loniens dort ein Land fanden, das sie ökonomisch okku-
pieren konnten :; ", ohne sich der Gefahr ausgesetzt zu sehen,
später vertrieben zu werden. Denn die späteren Herrscher
kamen ins Land selbst als Fremde und hatten keinen An-
laß, die inzwischen stark vermehrte und recht wohlhabende
jüdische Bevölkerung zu vertreiben. Besonders gilt das
für die Araber, die am Anfang des 7. Jahrhunderts Baby-
lonien eroberten. „Die arabischen Eroberungen brachten
nicht wie die Niederlassungen der Germanen auf dem Boden
römischer Provinzen eine Umwälzung in den Grundbesitz-
verhältnissen hervor. Landteilungen zwischen den Siegern
und Besiegten, wie im Occident, haben im Orient nicht statt-
gefunden" 31 .
Die Juden Babyloniens bildeten ein starkes Gemein-
wesen, das im inneren Leben frei und autonom organisiert
war; aber auch nach außen hin wollten die Juden einen
selbständigen Staat bilden, v/ovon viele Versuche der Exil-
fürsten, politische Unabhängigkeit wieder zu erlangen,
Zeugnis ablegen.
Es ist nun klar, daß bei solchen Zuständen die Aus-
wanderung aus Babylonien nicht etwa die Folge einer öko-
nomischen Notlage der dortigen Juden sein konnte, sondern
nur einen zufälligen, sporadischen Charakter trug. Dabei
sehen wir natürlich von den Reisen der jüdischen Kauf-
leute ab, die zwar das Ihrige zur Verbreitung der Juden
beitrugen, aber keine regelrechte Auswanderung bildeten.
Die erste große Auswanderung der Juden aus Babylonien
scheint den Reibungen zwischen der jüdischen und persi-
schen Geistlichkeit entsprungen zu sein. Unterstützt von den
persischen Königen, wollten die Magier die Juden zu ihrem
Glauben bekehren, — damit die Gelder, die der jüdischen
Geistlichkeit zuflössen, nunmehr der herrschenden Religion
zugute kämen. Der vorübergehende Erfolg der Perser
(Ende des 5. Jahrhunderts) hatte die Auswanderung eines
Teiles der Juden zur Folge.
Dabei nahm die Auswanderung zwei Richtungen an:
die eine südwärts nach Arabien und die andere ostwärts
nach Indien. In ersterem Lande fanden die Einwanderer
die schon früher dorthin aus Palästina ausgewanderten
— 27 —
Stammesgenossen vor und schlössen sich ihnen an; sie haben
dort ein selbständiges politisches Gemeinwesen gebildet.
Ebenso ging es den Einwanderern in Indien nicht schlecht;
sie brachten gewiß viel bares Vermögen mit und konnten
sich daher gute Wohnsitze und Unabhängigkeit in innerer
Verwaltung erkaufen M . Ein Teil ging noch nach dem
eigentlichen Persien.
Erst im 9. Jahrhundert verließ wieder eine kleine Zahl
der Juden Babylonien. Diesmal waren es Anhänger einer
neuen Sekte: Karäer. Sie gingen teils nach Egypten, teils
nach Syrien und von dort aus nordwärts bis nach der Halb-
insel Krim. Hier haben sie noch bis heute ihre eigenen
Synagogen und sind als Staatsbürger mit der russischen
Bevölkerung, im Gegensatz zu den übrigen Juden, voll-
ständig gleichberechtigt.
Es ist wohl anzunehmen, daß die jüdische Auswande-
rung aus Babylonien sich im wesentlichen auf diese Fälle
beschränkte. Besonders muß betont werden, daß das
Aufblühen des jüdischen Lebens in Spanien und Portugal
mit den Schicksalen der Juden in Babylonien herzlich wenig
zu tun hat. Man darf sich in dieser Beziehung die jüdische
Geschichte nicht als eine kontinuierliche denken, wie es ge-
wöhnlich der Fall ist. Die jüdische Bevölkerung Spaniens
hat sich nicht aus Einwanderern aus Babylonien gebildet,
ebenso wie der Untergang der babylonischen Judenheit
nicht unmittelbar vor dem Auftreten der spanischen Juden
eintrat. Es sind zwei vollständig verschiedene Blätter der
jüdischen Geschichte, die daher auch einzeln behandelt
werden müssen.
Doch bezieht sich dies nur auf das politische und öko-
nomische Leben. Was jedoch die geistige Entwickelung des
Judentums anbelangt, so besteht hier sicher ein Zusammen-
hang: denn hier wurde die Kontinuität durch Bücher (Tal-
mud) und einzelne Persönlichkeiten aufrecht erhalten. Das
geschah auch z. B. durch einen babylonischen Juden
R'Mose b. Chanoch, der ganz zufällig nach Spanien kam.
Auf einer Reise ins Ausland wurden vier junge Gelehrte,
die die Teilnahme des Auslands für die babylonischen Lehr-
häuser erwecken sollten, gefangen genommen. Einer von
— 28 —
diesen Vieren, der schon erwähnte R'MotC b. Cham
wurde als Sklave nach Cordova geschleppt und von der
jüdischen Gemeinde ausgelöst. Kr fa fa später inf'
seiner talmudischen Kenntnisse zum Oberhaupt des Lehr-
hauses emporgeschwungen 33 .
DerUntergang Babyloniens führte nicht mit Notwendig-
keit die Auswanderung der Juden herbei. Denn hier füllten
sie keine Lücken im ökonomischen Leben des mit ihnen
zusammen wohnenden Volkes aus, sondern: sie bildeten
einen organischen Teil der einheimischen Bevölkerung und
beteiligten sich ebenso wie diese an der Urproduktion,
am Handwerk, Handel und Verkehr. Ihr Schicksal war
aufs unzertrennlichste mit dem Schicksal ihrer Heimat ver-
bunden. Sie waren dort nicht Fremde, die jeden Augen-
blick auswandern konnten, sondern fest an die heimatliche
Scholle gebunden.
Der Untergang des Landes bedeutete mithin auch ihren
Untergang.
Es gehört jedoch nicht hierher, die Ursachen des wirt-
schaftlichen Rückganges des babylonischen Gebietes zu er-
örtern. Es kann nur kurz auf das Aufblühen der Stadt Bag-
dad hingewiesen werden, an deren Handel die Juden sich
übrigens relativ wenig beteiligt haben 34 . Durch die Kon-
zentrierung des ganzen wirtschaftlichen und geistigen
Lebens in Bagdad büßte der Norden Mesopotamiens an Be-
deutung ein. Infolge der Verschiebung der Wege des Welt-
handels sank später auch die Bedeutung Bagdads. Die
mongolische Invasion endlich hat dem wirtschaftlichen
Leben vollends ein Ende gemacht. Aber dies alles geht uns
hier nichts an.
Zweierlei aber scheint uns mit Wahrscheinlichkeit aus
der Geschichte der babylonischen Juden hervorzugehen:
1. daß das jüdische Volk sich bis heute erhalten hat,
verdankt es wohl dem Umstände, daß es in keinem Lande
wieder so, wie in Babylonien, mit dem Boden und dem ge-
samten — geistigen und ökonomischen — Leben des Staates
verwachsen war; überall waren später die Juden die Frem-
den, die von der Urproduktion der Nation ausgeschlossen,
einen Fremdkörper im Lande bildeten; darum entrannen sie
stets dem Schicksal des Landes, in dem sie wohnten;
— 29 —
2. es gibt keine Kontinuität in der Geschichte der baby-
lonischen und der spanisch-portugiesischen resp. europäi-
schen Juden 35 .
2. Die jüdischen Wanderungen im frühen
und hohen Mittelalter bis zur Vertreibung
aus Spanien und Portugal. (1492).
Es ist im Rahmen dieser Arbeit ganz unmöglich, all die
Bewegungen der Juden im frühen und hohen Mittelalter
zur Darstellung zu bringen. Es kann sich daher nur darum
handeln, kurz die Tendenzen der Bewegungen zu erörtern.
Der Schauplatz, auf dem sich diese Bewegungen abspiel-
ten, war Europa, und zwar Europa nördlich der Alpen. Im
Süden, d. h. in den nord- und mittelitalienischen Städten,
die damals den Mittelpunkt des Welthandels bildeten und
der jüdischen Händler nicht bedurften, finden wir eine sehr
geringe jüdische Bevölkerung. Schon im Jahre 855 wurden
die Juden aus dem Königreich vertrieben. Der italienische
Kaufmannsstand ist am frühesten zu großer Macht und
Blüte gelangt und beherrschte seinen Markt so vollständig,
daß die Juden hier nichts mehr zu suchen hatten. Nur
Venedig zählte (12. Jahrhundert) 1300 Seelen.
Die Hauptmasse der Juden hielt sich in Spanien und
Portugal auf und hatte keinen Anlaß zu Wanderungen. Die
Juden sind nach Spanien sicher noch zur Zeit der römischen
Republik gekommen. Es waren zuerst Freie, die von der
großen Fruchtbarkeit und dem Reichtum des Landes an-
gezogen, sich dort niederließen. Später, infolge der Auf-
slände unter Vespasian. Titus und lladrian, sind höchst-
wahrscheinlich auch jüdische Kriegsgefangene dorthin ver-
pflanzt worden, die jedoch, wie fast überall, von den an-
ie>en Juden losgekauft wurden. Die Hauptbeschäftigung
der Juden bildete Handel, Handwerk und Ackerbau. Zu-
erst war ihre Lage nicht schlecht und sie vertrugen sich mit
der einheimischen Bevölkerung sehr gut. Später jedoch ver-
schlechterte sich ihre Lage, infolge der Versuche der West-
goten« im Lande den Feudalismus einzuführen. Aber die^
dauerte nicht lange, da im Jahre 711 die Araber ■ — mit
jüdischer Hilfe — Spanien eroberten. Diese Eroberung
bedeutete den Anfang der Glanzperiode der jüdischen Ge-
— 30 —
schichte. Doch können wir auf diese hier nicht näher ein-
gehen. Wir werden zu den spanisch-portugiesischen Juden
erst in dem Augenblicke zurückkehren, wo sie den Wander-
stab ergriffen.
Syrien, Egyptcn und Kleinasien wiesen keine besondere
Bewegungen der Juden auf. Diese Länder standen damals
wirtschaftlich auf einer sehr hohen Stufe; die Juden, die
fast gleichmäßig in diesen Ländern zerstreut waren, be-
teiligten sich an Handel und Industrie, ohne von der ein-
heimischen Bevölkerung als besondere Konkurrenten
empfunden zu werden. Nur einmal fand in dieser Epoche
eine verhältnismäßig bedeutende Auswanderung aus Byzanz
statt. Sie war eine Folge des Bekehrungseifers Leos des
Isaüriers. Eine beträchtliche Zahl der Juden wanderte aus
Byzanz aus (723), und zwar nach der Krim; hier ließen sie
sich in den Küstenstädten des Schwarzen Meeres nieder,
wo sie den unzivilisierten Völkern des Landes den Handel
vermittelten. Von hier aus haben sie sich auch nach dem
Kaukasus verbreitet.
Von viel größerer Bedeutung sind die jüdischen Wande-
rungen in dieser Zeit im Norden und Osten Europas. Die
Richtungen und Wege dieser Wanderungen bestimmten sich
ausschließlich durch die Tätigkeit der Juden als Handels-
vermittler zwischen Nordeuropa und dem Orient (auch
Indien). Sonst aber repräsentierten die Juden fast den
ganzen damaligen Handel und wurden durch diese Tätig-
keit zu Wanderungen gezwungen. Denn der Handel der
damaligen Zeit — auch der größte — war fast ausschließ-
lich ein Hausierhandel. Man hatte noch keine richtigen
dauernden Handelsplätze, von denen man die gewünschten
Waren jeder Zeit beziehen konnte; vielmehr mußte der
jüdische Kaufmann die Abnehmer seiner Waren selbst auf-
suchen: so zog er, gut ausgerüstet, mit seinen Waren umher.
Die hauptsächlichsten Handelsartikel waren damals die-
jenigen, die in Europa selten waren und das Leben auf ver-
schiedene Weise angenehm machten: Zimmt, Pfeffer, Eben-
holz, Elfenbein, Edelsteine, Indigo, chinesische Seife,
Seidenwaren, Edelmetallwaren — alles Dinge, die nur im
Orient und in Indien zu haben waren.
Am deutlichsten treten uns diese Handelstätigkeit und
— 31 —
Handelswanderungen der Juden in der Zeit Karls des
Großen entgegen. Karl d. Gr. war immer und eifrig be-
müht, den Handel in seinem Reiche zu heben; jedoch ver-
fügte die einheimische Bevölkerung nicht über genügendes
Kapital und die entsprechenden Fähigkeiten. Darum be-
vorzugte Karl d. Gr. so sehr die Juden, die, in der damali-
gen Gesellschaft die Lücke des Kaufmannsstandes aus-
füllend, einfach unentbehrlich waren. Die Handelstätigkeit
der Juden veranlaßte fast überall im Reiche jüdische
Niederlassungen; denn überall mußte der Kaufmann
Freunde haben, die ihn aufnehmen konnten, ihm Auskunft
erteilten u. dergl. mehr. ,,Der Welthandel, den Karl der
Große angebahnt hatte, und den die Räte Ludwigs zur
Blüte bringen wollten, war größtenteils in den Händen der
Juden, weil sie leichter mit ihren Glaubensgenossen anderer
Länder in Verbindung treten konnten, und sie weder durch
die Fessel des Ritterdienstes und Wehrstandes, noch durch
die Gebundenheit der Leibeigenschaft daran verhindert
waren und gewissermaßen den Bürgerstand bildeten" . . .
Es war ,,für die Juden ein goldenes Zeitalter, wie sie es in
Europa weder vorher noch später bis in die neuere Zeit er-
lebt haben" ;:,; .
Neben dem Handel mit den Schätzen des Orients führte
der Sklavenhandel — der zweitgrößte Artikel der jüdischen
Händler im Mittelalter — sie nach dem Osten Europas.
,,Im Frankenlande, wo nach dem Siege des Christentums
die eigentliche Sklaverei verschwand und aus dem servus
der serf wurde, der Leibeigene, der in der Regel nur mit
seinem Landbesitz verkauft werden konnte, war wenig Ge-
legenheit zum Sklavenkauf. So waren denn die jüdischen
Handelsleute genötigt, weit gegen Osten nach den Slaven-
ländern zu reisen, wo sie auf Halbbarbaren stießen" 1T .
Doch führten diese Reisen zu keinen großen und dauernden
Niederlassungen der Juden im Osten. Denn abgesehen
davon, daß der Charakter des Handelsartikels es nicht
direkt erforderte, verfuhren schon damals die slavischcn
Herrscher nicht gerade menschenfreundlich und mild mit
den Juden; außerdem waren sie selbst gute KaufleuU
Nur in Polen, wo die Juden noch mit Salz und Pelz handel-
ten, bildeten sie größere Gemeinden. Zwar gerieten sie
— 32 —
.später in eine erbitterte Konkurrenz mit dvn i bei]
Kolonisten, die sie zum Teil zur Auswanderung nötigte,
doch können diese ersten Niederlassungen als Keime der
späteren großen jüdischen Gemeinden Polens gelten.
Das goldene Zeitalter des jüdischen Großhandels
dauerte jedoch nicht lange. Mit den Kreuzzügen fängt
seine Konkurrenz mit dem inzwischen herangereiften Kauf-
mannsstande an, und am Ende des 12. Jahrhunderts ist der
jüdische Warenhandel fast vernichtet.
An Stelle des Warenhandels ist das Geld- und
Wechselgeschäft getreten.
Das Aufblühen der Städte, wo sich die christlichen
Handelsleute nunmehr meist in monopolistischen Kauf-
mannsgilden organisierten, hat den jüdischen Händler über-
flüssig gemacht. Er ist nicht mehr der einzige Besitzer der
begehrten orientalischen Waren, sondern ein lästiger
Konkurrent, den man je schneller desto besser sich
vom Halse schaffen muß. Dazu kam noch die Konkurrenz
der italienischen Kaufleute. Die Kreuzzüge haben Nord-
und Südeuropa näher zu einander gebracht. Waren doch
die Italiener damals die bedeutendsten Seefahrer, auf deren
Schiffen die Kreuzfahrer übers Meer transportiert wurden;
durch dieselben Kreuzfahrer hat sich ein regelrechter Ver-
kehr zwischen Italien und seinem Hinterlande gebildet.
Italiener fingen an, in Deutschland Handelsniederlassungen
zu gründen, und verdrängten nach und nach den jüdischen
Kaufmann.
Treffend sagt über diese Konkurrenz und die ihr ent-
sprungenen Verfolgungen Wilhelm Röscher: „Jahr-
hunderte lang sind die Juden gleichsam die kaufmännischen
Vormünder der neueren Völker gewesen, zum Nutzen der
letzteren selbst und nicht ohne Anerkennung dieses Nutzens.
Aber jede Vormundschaft wird lästig, wenn sie länger
dauern will, als die Unreife des Mündels; und ganze Völker
emanzipieren sich, wie die Menschen nun einmal zu sein
pflegen, nur unter Kämpfen von der Bevormundung durch
andere Völker. Die Judenverfolgungen unseres späteren
Mittelalters sind zum großen Teil ein Produkt der Handels-
eifersucht. Sie hängen zusammen mit dem ersten Auf-
33
blühen des nationalen Handelsstandes." „Man könnte
sagen, die Judenpolitik verhält sich im Mittelalter fast um-
gekehrt, wie die sonstige wirtschaftliche Kultur" 39 .
Die Judenverfolgungen dieser Zeit haben einen guten
Teil der damaligen Juden vernichtet, der übrig gebliebene
Teil hat sich auf Geldgeschäfte und später Wucher verlegt.
Dies war nicht nur ein Ausfluß der jüdischen Eigenart, die
für Geldgeschäfte und alles, was damit zusammenhängt,
besonders prädestiniert ist, sondern geschah vor allem des-
halb, weil das Geldgeschäft der einzige Weg war, der dem
jüdischen Kaufmann noch offen stand. ,,Die Tatsache ist
begreiflich", sagt Röscher 40 : „einerseits wird ein solcher
Geldhandel regelmäßig noch später reif, als der Waren-
handel, zumal auch, weil er der internationalen Verbindung
noch mehr bedarf; sodann aber auch, weil alle hochent-
wickelten Handelsvölker, wenn sie im Warenhandel von
jüngeren Rivalen überflügelt zu werden anfangen, sich mit
ihren großen Kapitalien in den Geldhandel zurückzuziehen
pflegen."
Die veränderten wirtschaftlichen Zustände haben ihrer-
seits auf die Richtungen der jüdischen Wanderungen mäch-
tig eingewirkt. Die Juden gehörten um diese Zeit zu den
größten Steuerzahlern, und man bemühte sich, sie innerhalb
der Grenzen des eigenen Staates zu behalten — eine Poli-
tik, die freilich nur die Landesherren treiben konnten. Die
Freiheit der jüdischen Wanderungen hörte mithin zum
größten Teil auf, man fing an, die Juden an gewisse Orte
zu fesseln, wo sie infolge des kanonischen Verbotes die ein-
zigen waren, die Zinsdarlehen gewähren durften, und wo
man sie nach einer gewissen Spanne Zeit auf verschiedene
Weise ausbeutete.
Besonders interessant sind die Bewegungen der Juden
in England. Hier betrieben sie hauptsächlich Geldgeschäfte.
Da das Bedürfnis aber in allen Teilen des Landes ein ziem-
lich starkes war, so mußten die Juden überall vertreten
sein: „denn um geringe Summen auf kurze Zeit zu entleihen,
hätte den Geldnehmern eine weite Reise nicht gelohnt" •*,
Hier führte mithin das Geldgeschäft die Verbreitung der
Juden über das ganze Land herbei, während in Deutsch-
Wlad. Wi Kaplun-Kojjan. Wandcrbcwcjjunjjcn. 3
— 34 —
land, wo es eine Menge kleiner Herren gab, die alle das
jüdische Geld nötig hatten, die Juden an bestimmte Orte —
Sitze der Landesherren — gebunden blieben.
Es ist nun begreiflich, daß die Juden, im Bewußtsein,
jeden Augenblick ihrer Schuldscheine oder auch des baren
Geldes beraubt werden zu können, sich ganz ungeheuere
Zinsen zahlen ließen. Jedoch waren nicht alle Juden im
Stande, solch große und riskante Geschäfte zu führen, und
sie wurden mithin — besonders dort, wo sie etwas zahl-
reicher waren — ärmer und ärmer, obwohl Einige zu ganz
großem Reichtum gelangten. Wie reich die Juden z. B. in
England waren, zeigt ein kleines Verzeichnis der jüdischen
„Strafen", das Schipper 42 zusammengestellt hat: ,,1140
trieb König Stephan von den Juden Londons eine Geld-
strafe von 2000 Pfund ein. — Derselbe König erpreßte bei
einer anderen Gelegenheit von seinen Juden 300 , »Exchange
of money". — 1168 vertrieb Heinrich I. die reicheren Juden
aus England. Sie blieben solange in der Verbannung, bis
ihre Stammesgenossen 5000 Mark bezahlten. — 1187 nahm
Heinrich IL den vierten Teil jüdischer Güter auf dem Wege
der willkürlichen Geldauf läge (tallagium) weg. — 1187 zog
Heinrich IL die immensen Güter Aarons von Lincoln ein.
Die Schätze Aarons führte einst der König auf einer Fahrt
nach der Normandie mit sich. Dabei gingen einige Schiffe
unter, auf welchen ein Teil der Schätze Aarons geladen
war. — 1188 zahlen die Juden dem Könige Heinrich IL eine
Kreuzzugsteuer von 60 000 Pfund. — 1194 bezog Richard
Löwenherz von den Juden ein Tallagium von 2000 Mark.
— 1200 ließ sich Johann ohne Land von den Juden 4000
Mark zahlen.
Geldstrafen und „Geschenke" einzelner Juden an den
König: 1185 zahlte Iurnet Judaeus de Ncrvico dem König
2000 Mark. — Bald darauf verfiel er in eine neue ,,miseria"
und wurde von derselben für 6000 Mark erlöst. — 1185
zahlte Brunus Judaeus eine Strafe von 3000 Mark. — 1189
verfiel Brunus in eine neue Strafe von 2000 Mark. — 1185
zahlte Benediktus Judaeus eine Geldbuße von 500 Pfund.
— Der Jude Jurnet aus Norwich zahlte für die Erlaubnis,
in England wohnen zu dürfen, 1800 Mark." Die schweren
— 35 —
Abgaben der Juden bildeten — den jährlichen Durchschnitt
genommen — etwa den dreizehnten Teil des Einkommens
der englischen Könige (60 — 70 Millionen Mark heutiger
Währung). Dabei betrug die Zahl der englischen Juden
nicht mehr als 15 — 16 000 Seelen, ja eben darum konnten
sie so reich werden, während sie in Deutschland viel ärmer
waren.
Schließlich wurden die Juden aus England vertrieben
(1290). So ging es ihnen überall: zuerst geduldet und in
ihrem Geschäfte sogar begünstigt, verbannte man sie, sobald
sie ihre „Mission", die Fürsten zu bereichern, erfüllt hatten.
Nun gab es aber damals nicht viele Länder, wohin die
Juden einwandern konnten. Denn der Osten Europas lag
noch in allzu primitiven Zuständen, als daß er eine größere
Masse von Juden hätte aufnehmen können, zumal die deut-
schen Kolonisten, die gerade in dieser Zeit sich in Polen
festsetzten, eine heftige Agitation gegen die jüdische Ein-
wanderung in Szene setzten, die auch zu gewalttätigen
Judenverfolgungen führte ' ■"■. Byzanz war von den Türken
noch nicht erobert, und die Türkei kam somit als Ein-
wanderungsland für die Juden noch nicht in Betracht. In
Spanien fingen ebenso die Judenverfolgungen an. Somit
aber bewegten sich die jüdischen Wanderungen des 13. und
14. Jahrhunderts — also am Ende des Mittelalters — in
einem geschlossenen Kreis: als Händler unterlagen die
Juden im Konkurrenzkampfe mit dem nationalen Kauf-
mannsstande und mußten das Feld räumen; ein Teil von
ihnen verlegte sich auf Geldgeschäfte, der andere Teil
wanderte dorthin, wo der Warenhandel noch frei war.
Solche Länder waren: anfangs England, wohin vornehmlich
die französischen Juden auswanderten; in ganz geringem
Maße der Osten Europas, in den die deutschen Juden ein-
drangen.
Im großen und ganzen aber gehört diese Epoche zu den
traurigsten Zeiten der jüdischen Geschichte.
Viertes Kapitel.
Allgemeiner Charakter der Periode.
Eine allgemeine Charakteristik der Wanderbewegungen
dieser Periode läßt sich nicht geben. Die Wanderungen
hatten keine bestimmte Richtung, denn ihre Ursachen waren
sehr verschieden. Auch hatten wir mit verschiedenen
Wirtschaftsbildungen zu tun, und da die jüdischen Wande-
rungen in erster Linie von der ökonomischen Entwickelung
der Wirtsvölker anhingen, trugen sie in jedem einzelnen
Falle einen besonderen Charakter, ja gerade in dieser
Mannigfaltigkeit der Richtungen besteht
das Gemeinsame und Bezeichnende der
Periode.
Wir haben in der Einleitung schon erwähnt, was für
eine große Bedeutung für die Lage der Einwanderer wie
für den Verlauf der Wanderungen die wirtschaftliche Kul-
tur des Einwanderungslandes hatte. In dieser Beziehung
kann man die erste Periode in zwei Hälften einteilen.
Die erste Hälfte — zeitlich umfaßt sie den Zeit-
raum von der Fortführung nach Babylonien bis zum Beginn
des Mittelalters für den Westen und bis zum Ende der
Periode für den Osten — kann dahin charakterisiert werden,
daß alle Wanderungen die Richtung aus den Ländern mit
niedrigerer in die Länder mit höherer Kultur hatten — oder
wenigstens war die Kultur des Einwanderungslandes nicht
niedriger als die des Auswanderungslandes. Das letztere
war besonders der Fall bei der Wanderung aus Palästina
nach Babylonien. Zwar kann man das damalige Palästina
nicht als ein rückständiges Land bezeichnen, doch hatte es
seine Glanzzeit schon hinter sich, und was die Macht und
den Umfang des Handels wie den allgemeinen Wohlstand
anbetrifft, konnte es mit Babylonien nicht verglichen
werden. ,,Von Nebukadnezar bis auf die Mongoleninvasion
ist die Hauptstadt Babyloniens ganz oder nahezu die größte
Handelsstadt der Welt" 44 .
Die Wanderungen der hellenistischen Zeit trugen
schon einen mehr ausgeprägten Charakter: es war eine
— 37 —
Flucht aus dem Lande, das seine ökonomische Bedeutung
nach und nach verlor und dem ökonomischen Untergange
zusteuerte, in die Länder, richtiger: Städte der höchsten
wirtschaftlichen und geistigen Kultur. Denn höchst modern
waren diese Städte: Alexandria, Antiochia, Rodos und wie
sie alle hießen. ,,Die neugegründeten Städte werden syste-
matisch angelegt und mit allem Komfort der Neuzeit aus-
gestattet und bilden mit ihrer dichten Bevölkerung von
Kaufleuten und Handeltreibenden das Zentrum für ein
großes Gebiet 4Ö .
Die Konkurrenz zwischen den Juden und der ein-
heimischen Bevölkerung — hauptsächlich Griechen, später
Römern — war hier schon bedeutend größer: denn auch
die letzteren waren ausschließlich auf den Handel an-
gewiesen. Ja, die Konkurrenz wurde an einigen Orten für
die Juden verhängnisvoll: sie wurden hier ausgewiesen, dort
ausgeplündert und einfach niedergemetzelt (Alexandria).
Dies führte seinerseits zur weiteren Zerstreuung.
Mit dem Beginn des Mittelalters und der Einführung
der Naturalwirtschaft fängt für den Westen die zweite
Hälfte der jüdischen Wanderungen mit einer der ersten
Hälfte entgegengesetzten Richtung an: aus den Orten der
höchsten wirtschaftlichen Kultur, wo die Juden dank ihrem
Handel große Vermögen erworben haben, wandern sie
weiter nach Norden, wo sich langsam, aber sicher die Na-
turalwirtschaft entwickelt und wo Geld selten wird. Hier
betrieben die Juden anfangs Luxus- und Warenhandel,
nachher Geldgeschäfte. Es ist die Zeit, als der Osten eine
selbständige wirtschaftliche Entwickelung nahm, während
der Westen unter römisch-byzantinischer Herrschaft ver-
blieb.
So haben sich die Juden im ausgehenden Altertum und
später mit dem Anbruch des Mittelalters nicht nur inner-
halb einer wirtschaftlichen Kultur zerstreut, sondern schon
damals überall dort sich angesiedelt, wo nur das Wirt-
schaftsleben der Völker irgend welche Lücken aufwies.
Die Wanderungen des hohen Mittelalters bewegten sich
alle aus den Orten der höheren Kultur in die der niedri-
geren. Doch war hier diese Tendenz noch nicht so stark
— 38 —
ausgeprägt. Meistens hat sich der Vorgang in der W<
abgespielt, daß die Juden nur ihre wirtschaftliche Betätigung
wechselten (Warenhandel — Geldgeschäfte).
Diesem Charakter der Wanderungen entsprach die Be-
deutung der Juden für die Einwanderungsländer. Während
sie im Süden Europas fast gar keine Rolle spielten und in
Kleinasien und Byzanz wohl entbehrlich waren, bedeuteten
sie für den Norden Europas sehr viel: zuerst und haupt-
sächlich als Warenhändler, nachher als Geldleiher.
Mit der ersten Periode hört die Mannigfaltigkeit der
Richtungen der jüdischen Bewegungen auf. Die nächsten
zwei Perioden haben schon einen einheitlicheren, stark aus-
geprägten Charakter. Es konzentrieren sich auch größere
Massen jüdischer Wanderer an einigen Orten (Polen, Ruß-
land, Amerika), während das Resultat der ersten Periode
die Zerstreuung der Juden auf der ganzen Erde gewesen
war.
Zweiter Abschnitt.
Zweite Periode: Wanderbewegungen der Juden
seit der Vertreibung aus Spanien und Portugal bis
zum Beginn der überseeischen Auswanderung.
Vorbemerkung.
Die zweite Periode, die einen Zeitraum von etwa 400
Jahren umfaßt, kann hier wiederum nicht mit der Ausführ-
lichkeit behandelt werden, die sie eigentlich verdient. Es
wäre eine Aufgabe für sich, all die Verzweigungen und
Richtungen der jüdischen Wanderungen dieser Periode er-
schöpfend darzustellen. Hier aber, wo es sich nur um die
großen Züge der jüdischen Wanderbewegungen handelt,
muß darauf verzichtet werden.
In die zweite Periode fällt auch die Begründung der
modernen Staaten, und die Binnenwanderungen innerhalb
eines Staatsgebietes nehmen an Umfang und Bedeutung
einen großen Raum ein (z. B. die Binnenwanderung der
deutschen Juden von Osten nach Westen, die der russischen
aus dem eigentlichen Rußland nach Polen usw.). Doch
können diese Binnenwanderungen hier nicht einmal ge-
streift werden: denn ihre Beschreibung gehört schon der
inneren Geschichte der Juden des betreffenden Staates an
und nicht der Geschichte der gesamten jüdischen Wande-
rungen 4r> . Darum sind auch die letzten zwei Jahrhunderte
fast gar nicht in Erwägung gezogen worden. Somit aber
hat die Schilderung dieser Periode hauptsächlich das
Schicksal der spanisch-portugiesischen Auswanderer und
die Konzentration größerer Massen der Juden in den öst-
lichen Staaten zum Gegenstände.
Fünftes Kapitel.
Die Vertreibung der Juden aus Spanien und Portugal.
Wir haben schon gesehen, daß die Richtungen der
jüdischen Wanderungen nicht etwa durch die innere Ent-
wickelung des jüdischen Volkes, sondern in erster Linie
durch die ökonomische Entwickelung der Wirtsvölker be-
stimmt wurden. Und nicht nur, daß das sozial-ökonomische
Leben des Wirtsvolkes allein die Juden zur Auswanderung
drängte, — das Wirtsvolk selbst griff manchmal mit Gewalt
in die jüdischen Wanderungen ein, indem es die Juden aus
seinem Lande vertrieb.
Ein solches gewalttätiges Eingreifen des Wirtsvolkes
in das Schicksal des jüdischen Volkes ist die Vertreibung
der Juden aus Spanien und Portugal gewesen. Um die Ur-
sachen dieser Vertreibung uns klar zu machen, müssen wir
uns die wirtschaftliche Lage Spaniens kurz vergegen-
wärtigen.
Die Vertreibung der Juden aus Spanien fällt in
die Glanzzeit dieses Landes, in die Zeit, als es das
mächtigste und am meisten gefürchtete Reich Europas war.
Doch lagen im wirtschaftlichen Leben Spaniens schon da-
mals die Keime des Verfalls, und die Vertreibung bildete
eben das erste markante Zeichen der inneren Schwäche.
Nicht die Vertreibung der Juden hat den Verfall Spaniens
herbeigeführt, sondern umgekehrt war diese Vertreibung
allerdings die erste Erscheinung des unvermeidlich
kommenden Verfalls.
Spanien war ein Land, das sich in Kriegen aufrieb.
Diese ewigen Kriege entsprangen dem Umstände, daß
Spanien das einzige Land war, wo die Ungläubigen —
die Mauren — noch frei lebten. Deshalb fühlte sich das spa-
nische Volk verpflichtet, dem christlichen Glauben die end-
gültige Herrschaft in Europa zu verschaffen. Da aber nach
den Kreuzzügen das Geld zum nervus belli geworden war,
brauchten die spanischen Herrscher immer Geld.
— 41 —
Außerdem war Spanien — trotz seiner Cortes — ein
streng monarchistisches Land, wo der Absolutismus seine
höchste Blüte erreichte. Dieser Absolutismus, der sich zu-
erst mit Hilfe des Bürgertums den Adel Untertan gemacht
hatte, um nachher im Bunde mit dem Adel sich das Bürger-
tum zu unterwerfen, war auf Ausbeutung des Landes an-
gewiesen. Die Verachtung der Arbeit — hauptsächlich der
gewerblichen — hat sich in Spanien am längsten erhalten,
nachdem alle anderen Völker diese Eigenschaft der mittel-
alterlichen Gesellschaft abgestreift hatten. Diese dem
Mittelalter eigentümliche Verachtung der Arbeit hat Spanien
zugrunde gerichtet. Man produzierte in Spanien sehr wenig;
nur die Tuchmanufaktur blühte einige Zeit; aber gerade die
letztere hat die spanische Landwirtschaft ruiniert: die
Herden durchzogen das Land und verdrängten den Land-
bau. Zwar wurde Spanien wegen seiner Merinoschafe be-
neidet, — die Landwirtschaft aber geriet <*anz in Verfall.
Fast alle notwendigen Waren bezog Spanien aus dem Aus-
lande, wobei diese Einfuhr durch die Ausfuhr keineswegs
kompensiert wurde. Allerdings bekam Spanien bedeutende
Werte aus den neuentdeckten Kolonien, aber gerade des-
wegen entwickelten sich die Produktivkräfte im Lande selbst
sehr ungenügend. Keine Volkswirtschaft kann auf die Dauer
auf der Ausbeutung fremder Länder beruhen, wenn nicht im
Lande selbst genügend produziert wird. Spanien aber be-
gann schon mit der Vertreibung der Juden, an deren Stelle
nachher die Fugger und Genuesen getreten waren, auf
fremde Kosten zu leben.
Diese Entwickelung hat sich allerdings erst später
klar offenbart, die Anfänge aber waren schon früher
da. Schon D. Fernando von Portugal (1367—1383)
— die Schicksale und die Entwickelung beider Länder
waren im großen und ganzen die gleichen — nahm
infolge der Geldnot durch Einführung neuer Münzen
und vermittels Reduzierung der alten Münzsorten eine
Geldoperation vor, die allerdings mißlang und das Volk er-
bitterte 41 .
Die Juden Spaniens und Portugals betrieben haupt-
sächlich Geldgeschäfte. Mochten sie früher auch Groß-
— 42 —
Grundbesitzer gewesen sein zur Zeit der Vertreibung
beschäftigte sich die Mehrzahl von ihnen mit Geldleihen
und Geldwechseln. „Although the Spanish Jews engaged
in many branches of human endeavor agriculture, viti-
culture, industry, commerce and the various handicrafts
il was the money business that procured them their wealth
and influence. Kings and prelates, noblemen and farmers,
all needed money, and could obtain it only from the Jews,
to whom they paid from 20 to 25 per cent interest"
Die Juden waren vielleicht die ersten, welche die Lage
des Landes richtig erkannten. D. David Ibn Jachia-Ne
riet vor seinem Tode seinen Söhnen dringend, ihr Vermögen
nicht in Liegenschaften anzulegen J9 — nicht darum, weil
er die künftige Vertreibung ahnen konnte, sondern vor allem
wohl deshalb, weil er den unvermeidlichen Ruin der Land-
wirtschaft voraussah. Durch ihre Geldgeschäfte gelangten
die Juden in Spanien und Portugal zu großem Reichtum,
„ihr größtes, vielleicht ihr einziges Verbrechen war ihr
Reichtum" 50 . Die Konfiskation der Gelder dieser Juden
war das Nächstliegende, was die spanischen Herrscher
unternehmen konnten. Wenn später Philipp IL einfach
private Geldsendungen konfiszierte, so hat Ferdinando
durch die Vertreibung der Juden ihr ganzes Vermögen be-
schlagnahmt, allerdings soweit er dessen habhaft werden
konnte. Treffend sagt Kayserling: „Die Verfolgung
— (und die Vertreibung) — der Juden und Marranen und
aller derer, welche mit ihnen in freundlichem Verkehr
standen: das war die große staatsmännisch-kirchliche
Finanzidee, welche realisiert werden sollte" 51 .
Am 31. März 1492 erließen Ferdinando und Isabella
den Befehl, daß sämtliche Juden Spaniens innerhalb vier
Monaten aus allen Gebietsteilen Castiliens, Aragoniens,
Siziliens und Sardiniens bei Todesstrafe auswandern sollten.
Dabei durften sie nur ihr Hab und Gut mitnehmen, nicht
aber Gold, Silber, Münzen und Waren, die dem Ausfuhr-
verbot unterlagen.
Die Zahl der Ausgewiesenen geben verschiedene Auto-
ren verschieden an. Die Angaben schwanken zwischen
800 000 und 190 000 52 . Eine genauere Bestimmung läßt
43
sich darnach nicht geben. Wohl läßt sich aber vermuten,
daß die Zahl der Ausgewanderten etwa 300 000 gewesen ist.
Die Ausgewiesenen verließen nicht sogleich die Halb-
insel; ein großer Teil von ihnen ging zuerst nach Portugal
und gab dadurch dein portugiesischen König Gelegenheit,
ein gutes Geschäft zu machen. „Wie immer, wurden die
Reichen besonders berücksichtigt. Sechshundert derselben
ersten Ranges erhielten die Erlaubnis zu dauernder An-
siedlung; dafür mußte jeder von ihnen hundert Gold-Crusa-
dos Einzugsgeld zahlen, was die erkleckliche Summe von
60 000 Crusados (etwa 200 000 Mark) ergab, viel für
die damalige Zeit, als das Geld — vor Ausbeutung
der amerikanischen Goldquellen — noch einen hohen Wert
hatte. Auch Handwerker, besonders Metallarbeiter und
Waffenschmiede, sollten vier Crusados Einzugsgeld leisten.
Die große Menge aber sollte nur acht Monate im Lande
bleiben und dafür acht Crusados erlegen" r>3 . Dabei ist es
interessant, daß die einheimischen Juden Portugals sich
sehr gegen den Einzug ihrer Stammesgenossen aus Spanien
wehrten 54 ; sie sahen sehr wohl ein, daß die Vermehrung
der jüdischen Bevölkerung nur die Konkurrenz zwischen
ihnen verstärken und damit neben ihrer Bedeutung auch
ihre Widerstandskraft vermindern würde.
Die spanisch-portugiesischen Verbannten haben nicht
alle die Richtung in ein bestimmtes Land eingeschlagen,
sondern nahmen verschiedene Wege, entsprechend ihrer
sozialen Gruppierung und der wirtschaftlichen Kultur der
damaligen Welt. Von den Ausgewanderten nahmen auf M j
Algerien . . . .10 000
Amerika .... 5000
Egypten .... 2 000
Frankreich u. Italien 12 000
Holland . . . .25 000
Marokko . . . .20 000
Europäische Türkei 90 000
andere Länder . . 1 000
Sechstes Kapitel.
Die Wanderungen nach der Türkei, Afrika
und Italien.
1. Die Türkei.
Der größte Teil der Juden hat sich bekanntlich nach
der Türkei gewendet. Die Ursachen dieser Erscheinung
muß man vor allem in der sozialen Struktur des neuen türki-
schen Reiches suchen.
Wir haben schon früher erwähnt, daß es der Osten
war, wo die Geldwirtschaft und die höchst entwickelte
Industrie nebst regem Handelsverkehr während des ganzen
Mittelalters fortdauerten. Byzanz war damals eine der
größten Handelsstädte der Welt. Diese Stellung und Be-
deutung der Stadt wollten die Begründer des neuen türki-
schen Reiches ihrer Residenz auch fernerhin erhalten: denn
die ersten Sultane waren kluge und einsichtige Herrscher,
die wohl verstanden, worin die wirkliche Macht und Be-
deutung einer Stadt liegt. Mit der Eroberung Konstanti-
nopels verschwand aber auch die Klasse der Kapitalisten
und der Händler: die Grundlage des Verkehrs; denn mili-
tärische Rücksichten machten es notwendig, die den
Eroberern feindlich gesinnte einheimische Bevölkerung von
allen wichtigen Geschäften fernzuhalten. Den Türken
selbst aber fehlten die notwendigen Kenntnisse, Praxis und
vor allem Kapitalien, die für die Weiterführung des Handels
und der Industrie unentbehrlich waren 56 .
Mithin bestand — wir würden heute sagen: die
Wirtschaftspolitik der neuen türkischen Herrscher darin,
eine zuverlässige, reiche, tüchtige und mit besten Kennt-
nissen ausgestattete Klasse von Industriellen und Kauf-
leuten zu schaffen. Dafür waren nun die Juden, die in
dieser Zeit in Deutschland und Frankreich den schlimmsten
Verfolgungen ausgesetzt waren, am besten geeignet. Das
hatte schon der Sultan Mohammed der Eroberer gut ver-
standen. Darum hatte er die Juden von fast allen Abgaben
befreit. Sie brauchten in der Türkei weder den güldenen
Pfennig noch Krongelder zu bezahlen. Die Sicherheit und
— 45 —
die Freizügigkeit im ganzen Lande nebst der Freiheit in der
Auswahl der Berufe wurden auch garantiert. So konnte
noch vor der Vertreibung aus Spanien und Portugal ein in
die Türkei eingewanderter Jude, Isaak Zarfati, an seine
Stammesgenossen von Sehwaben, der Rheingegend, Steier-
mark, Mähren und Ungarn u. a. folgendes schreiben: „Ich,
Isaak Zarfati, der ich aus Frankreich stamme, in Deutsch-
land geboren bin und dort zu den Füßen von Lehrern ge-
sessen, rufe euch zu: daß die Türkei ein Land ist, in dem
nichts fehlt" 67 .
Es ist nun klar, daß den aus Spanien und Portugal ver-
triebenen Juden die Türkei als das beste Einwanderungs-
land erschien. Hier konnten sie ihre Kapitalien aufs Neue
gut anlegen, sich wieder mit ihren Kenntnissen zu an-
gesehenen Stellungen im Staate emporheben und in der
neuen Heimat wieder die Bedeutung erlangen, die sie in der
alten besessen hatten. Die Kenntnis der spanischen Sprache
ermöglichte es ferner, daß die Juden sehr oft für diplo-
matische Dienste verwendet wurden.
Der ganze Großhandel der Türkei befand sich bald in
den Händen der Juden, zumal sie sich dort vollständig ohne
fremde Konkurrenz betätigen konnten, während die christ-
liche Bevölkerung zu ihren Gunsten unterdrückt wurde.
Ebenso wie am Ausgang des Altertums, trug auch jetzt die
Zerstreuung der Juden und ihre Beherrschung einer für
den Handel so wichtigen, der spanischen Sprache, das
ihrige zur Blüte des jüdisch-türkischen Handels bei. ,,In
den Städten Salonichi, Konstantinopel, Alexandria, Kairo,
in Venedig und anderen Handelsplätzen machen die Juden
nur in spanischer Sprache Geschäfte. Ich kannte Juden
aus Salonichi, welche, obwohl sie noch jung waren, das
Castilianische ebenso gut und noch besser als ich aus-
sprachen" r,H , urteilte ein christlicher Schriftsteller ein halbes
Jahrhundert nach der Vertreibung der Juden aus Spanien
und Portugal.
Jedoch wäre es verkehrt, die ganze Einwanderung nach
der Türkei als die der Kauflcutc, Industriellen und Diplo-
maten zu bezeichnen. Ebenso wie in Spanien ein allerdings
nicht allzu großer Teil der jüdischen Bevölkerung sich im
— 46 —
Handwerk beschäftigte, wanderten auch jüdische Hand-
werker nach der Türkei ein; denn auch der letzteren be-
durfte das Land. Besonders brauchte man Leute, die gute
Kriegswaffen herstellen konnten. So waren ei hauptsäch-
lich Marranen, die den Türken „neue Rüstungen und Feuer-
waffen verfertigten, Kanonen gössen und Pulver fabri-
zierten" r,;) . Allerdings waren diese Handwerker keine
armen und besitzlosen. Schon der Gegenstand ihrer Arbeit
setzte eine gewisse Bildung und Vermögen voraus; es war
die Elite der jüdischen Handwerker, die damals nach der
Türkei einwanderte.
Immer besser gestaltete sich die Lage der Juden in der
Türkei, ja sie konnten sogar einen Joseph, Herzog vonNaxos,
bezeichnen, der als selbständiger Herrscher über die cy-
kladischen Inseln Anidros, Paros, Antiparos, Melo, im
ganzen zwölf, waltete und eine der einflußreichsten Persön-
lichkeiten des türkischen Reiches gewesen ist. Die Juden
prosperierten in ihrer neuen Heimat und hatten auch ferner-
hin keinen Anlaß, sich über ihre Lage zu beklagen. Dabei
hörte die Einwanderung aus anderen europäischen Staaten
nicht auf; besonders stark war sie nach der Vertreibung
der Juden aus verschiedenen deutschen Städten in der
zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts, ebenso wie nach der
Vertreibung der Juden aus dem Kirchenstaat (Ende des
16. Jahrhunderts).
Die rechtliche, aber auch zum großen Teil die öko-
nomische Lage der Juden in der Türkei ist noch bis heute
die beste in der ganzen Welt 60 .
2. Afrika.
Nicht so günstig gestaltete sich die Lage der Juden in
Afrika. Daß hierhin jedoch ein relativ großer Teil der
spanischen Juden auswanderte, ist wohl dadurch zu er-
klären, daß von Spanien nach Afrika am leichtesten und
billigsten zu gelangen war; außerdem gab es dort schon von
jeher einige jüdische Gemeinden, welche die Eingewander-
ten anzogen. Die angesessenen Juden Afrikas vermittelten
den ganzen Handelsverkehr zwischen Mauren und Portu-
— 47 —
giesen bez. Spaniern; ihre Lage war nicht schlecht, sodaß
die Eingewanderten bei ihnen eine sichere Unterkunft
fanden (in Safi und Azamor) ' '.
Weniger günstig lagen die Verhältnisse in Marokko
und Fez, wohin die Juden in größerer Zahl einwanderten.
Große Vermögen hatten diese Einwanderer nicht; es
war eine Einwanderung der Ärmsten, die in der alten
Heimat vielleicht noch reich gewesen waren, die aber
meistens vollständig ausgeplündert das Land verließen.
Dadurch wurde auch ihre Beschäftigung in den Einwande-
rungsländern bestimmt; sie ernährten sich vornehmlich mit
dem Handwerk. Sie hatten daher mehr mit der niederen
Bevölkerung zu tun, wobei die Konkurrenz zwischen ihnen
und den Einheimischen manchmal in brutale Verfolgungen
ausartete "-.
Weit haben es diese jüdischen Einwanderer nicht ge-
bracht. Die noch bis heute recht traurige Lage der Juden
in Marokko und Tunesien legt davon das Zeugnis ab 03 .
Nur in Egypten, wohin allerdings nicht so viel Juden
einwanderten, erwartete sie ein besseres Schicksal. Dies
stand jedoch im Zusammenhang mit der jüdischen Ein-
wanderung nach der Türkei: für die dortigen jüdischen
Kaufleutc war es wichtig und notwendig, in Egypten sozu-
sagen eine eigene Handelsvertretung durch eine Anzahl
ihrer Stammesgenossen zu unterhalten. Darum beschäf-
tigten sich die egyptischen Einwanderer hauptsächlich mit
Handel. Die Eroben: -yptens durch den türkischen
Sultan Selim I. (Anfang des 16. Jahrhunderts) hat ihre
Lage noch verbessert und die weitere Einwanderung er-
leichtert.
3. Italien.
Italien bildete ein Durchgangsland für die spanisch-
portugiesischen Wanderer. Zu dauernden großen Nieder-
lassungen haben sie es jedoch nicht gebracht, obwohl Italien
von Juden unmittelbar nach der Vertreibung und auch
später ,, förmlich wimmelte". Die Ursache dieser Erschei-
nung lag im besonderen wirtschaftlichen Zustand Italiens.
— 48 —
Italien stand damals an der Schwelle seines wirtschaft-
lichen Unterganges, was die italienischen Kaufleute ebenso
wie die damaligen Päpste sehr wohl einsahen. Darum er-
wartete man viel von dem Einzug reicher spanischer Juden,
trotzdem man in ihnen auch gefährliche Konkurrenten sah.
Die Politik der italienischen Städte gegenüber den jüdischen
Einwanderern war mithin voller Widersprüche. ,,Im Käthe
. . . der venetianischen Republik herrschten in Betreff der
Juden zwei entgegengesetzte Ansichten. Einerseits mochte
der Handelsstaat die von den Juden zu erwartenden Vor-
teile nicht entbehren und überhaupt nicht mit ihnen an-
binden, um es nicht mit deren Glaubensgenossen in der
Türkei (den levantinischen Juden) zu verderben. Ander-
seits empfanden die venetianischen Handelshäuser Brod-
neid gegen die jüdische Kaufmannschaft . . . Darum wurden
die Juden . . . bald gehegt, bald gedrückt" 64 .
Von solchen Schwankungen in der Behandlung der
Juden war die ganze Politik aller italienischen Städte er-
füllt. Nur die Päpste scheinen konsequenter gewesen zu
sein: ihnen war es hauptsächlich darum zu tun, Menschen
zu erhalten, die man immer und leicht anpumpen konnte.
Der Papst Alexander VI. wollte unbedingt jüdische Aus-
wanderer haben; hier waren es aber römische Juden selbst,
die dieser Zulassung entgegenarbeiteten; sie schössen dem
Papst 1000 Ducaten vor mit der Bitte, den spanischen Juden
keine Aufnahme zu gewähren. Doch war Alexander VI. zu
klug, dieser Bitte zu willfahren; allerdings hat er später
befohlen, daß alle Juden Rom verließen, — aber nur um
Gelegenheit zu haben, weitere 2000 Ducaten zu fordern und
dann seinen Befehl rückgängig zu machen.
Die später aus Spanien nach Italien eingewanderten
Neuchristen (Marranen) haben an einigen Plätzen einen
sehr regen Handelsverkehr entwickelt; doch konnten sie das
niedergehende Italien nicht retten. Es ist doch interessant,
daß die Begabung der Juden, überall wohin sie kommen,
Kapitalismus zu begründen, auf dem italienischen Boden
vollständig versagte; hier waren sie nicht einmal im Stande,
den alten Kapitalismus zu erhalten.
Die nachfolgenden Verfolgungen der Juden in Italien
— 49 —
— die immer ein Zeichen der wirtschaftlichen Schwäche des
betreffenden Landes gewesen sind, 8B — führten einen Teil
der Juden zur Taufe, ein anderer wanderte teils nach der
Türkei, teils nach Nordeuropa aus. Damit hat Italien auf-
gehört, in der Geschichte der jüdischen Wanderungen eine
Rolle zu spielen. Weder Ein- noch Auswanderungen fanden
in den nächsten Jahrhunderten statt.
Siebentes Kapitel.
Die Wanderungen nach Nordeuropa und Amerika.
1. Nordeuropa.
Mit den besprochenen Wanderungen, abgesehen noch
von einigen Ländern, die wegen der kleinen Zahl der Ein-
gewanderten hier nicht behandelt werden können, endigte
der große Strom der aus Spanien und Portugal Ver-
bannten, die unmittelbar nach der Vertreibung den Wander-
stab ergriffen. Es verging ein ganzes Jahrhundert, bevor
die Juden, die in Portugal zurückgeblieben und als Schein-
christen trotz all der Verfolgungen nicht gerade ein arm-
seliges Dasein führten ,; ' ; , sich nach Nordeuropa, — zuerst
nach Belgien, dann nach Holland und England — wandten.
Es ist in vielen Beziehungen wichtig, festzustellen, daß
die Einwanderung der Juden in Nordeuropa in später Zeit
erfolgte: zunächst deshalb, weil damit der unmittelbare
Zusammenhang zwischen den Wanderungen des jüdischen
Volkes (wenn wir größere Massen und nicht ein-
zelne Juden in Betracht ziehen) und dem wirtschaft-
lichen Aufblühen der nordeuropäischen Länder ver-
schwindet, sodann aber — und das läßt sich schon aus
dem Vorhergehenden schließen, erscheinen die Juden
nunmehr nicht als Begründer des Kapitalismus in
Holland und England, sondern nur als später Einge-
wanderte, die sich an den Unternehmungen der neu ent-
standenen mächtigen Handelsstaaten beteiligen wollten.
Ebenso wie die klugen und reichen Venezianer nach dem
Sinken ihrer Heimatsstadt sich an dem Handel Hollands zu
beteiligen anfingen, wie schon heute die Engländer ihre
Kapitalien auch in Amerika anlegen, gingen die reichen
Wltd. W. Kaplun-Kogan, Wanderbtwctfunjjen 4
— 50 —
Scheinchristen Portugals nach Holland, Hamburg und Eng-
land. Freilich: mit ihren Kapitalien, Kenntnissen und ihrer
hervorragenden Begabung haben sie dort eine Tätigkeit ent-
wickelt, die das kapitalistische Fortkommen dieser Länder
ungemein gefördert hat. Jedoch geht uns hier diese innere
Geschichte der holländischen und englischen Juden nichts
an, zumal sie so glänzend in Sombarts Buch zur Dar-
stellung gebracht worden ist.
Die ersten Niederlassungen der portugiesischen Juden
in Amsterdam fallen ins Ende des 16. und in den Anfang des
17. Jahrhunderts; sie haben dort höchstwahrscheinlich nur
einige deutsche Juden vorgefunden, die sich durch nichts
auszeichneten. Die nachfolgenden Einwanderungen wurden
von den Holländern und später von den Engländern seibst sehr
gefördert. Ja die aufgeklärten Monarchen der damaligen
Zeit, die die Hauptgrundiage für die Macht und das An-
sehen ihrer Reiche in dem aufstrebenden Bürgertum sahen
und den mittelalterlichen Feudalismus nach und nach ver-
ließen, luden die Juden direkt ein. So der König Chri-
stian IV. von Dänemark, der die Juden aufforderte (1622),
sich in seinen Städten und besonders in Glückstadt nieder-
zulassen. Treffend sagt darüber Wilhelm Röscher:
„Übrigens hat das nationale Bürgertum der neueren Völker
sein mittelalterliches Unrecht gegen die Juden auf der
höchsten Kulturstufe reichlich wieder gut zu machen ge-
sucht. Wie schon die jetzt üblichen Ausdrücke: „Civili-
sation" für höhere Bildung überhaupt und „Bürgerrecht"
für voll berechtigte Staatsgenossenschaft andeuten, so geht
das Streben dieser Klasse nach Herrschaft im Staate regel-
mäßig Hand in Hand mit dem anderen Streben, wenigstens
alle wohlhabenden und gebildeten Bewohner des Staats-
gebietes in sich aufzunehmen" 67 . Dies galt besonders für
Holland. Das Bürgertum dieses Landes hat Reichtum, Be-
deutung und Ansehen nicht nur durch Handel und Gewerbe
erlangt, sondern auch — und nicht in letzter Linie — durch
eine freie und moderne Verwaltung, die dort am frühesten
zur Vollendung gebracht worden ist. Es ist nur natürlich,
daß die junge Republik auch der jüdischen Einwanderung
keine großen Schwierigkeiten bereitete.
— 51 —
Jedoch war die Zahl der Eingewanderten nicht groß.
In der Mitte des 17. Jahrhunderts wohnten in Amsterdam
400 Familien. Viel mehr gab es auch später dort nicht, zumal
die Neueingewanderten nicht unmittelbar den schon An-
sässigen zur Last fielen: England und Amerika haben
damals eine Anzahl portugiesischer Juden aufgenommen.
Aber auch in Hamburg bildete sich eine kleine Kolonie der
Amsterdamer Gemeinde. Sie bestand am Anfang des 17.
Jahrhunderts aus 125 erwachsenen Personen, 26 Ehepaaren
und 73 Unverheirateten und Alten (Kinder und Frauen nicht
mitgerechnet), darunter 10 Kapitalisten, 2 Ärzte und
3 Handwerker ,;s . Daraus erkennt man schon den Charakter
der Einwanderung. Später hat sich die Gemeinde ver-
größert; die Hauptbeschäftigung bildete der Großhandel,
richtiger: der internationale Handel großen Stils nebst dem
Wechselgeschäft; aber auch an der Gründung der Ham-
burger Bank haben sich mindestens zwölf jüdische Kapita-
listen beteiligt.
Wenn diese Einwanderung doch noch einen spontanen
Charakter trug, indem die Juden aus freien Stücken in diese
Länder einwanderten und dort nach und nach die Gleich-
berechtigung erlangten, trug die Niederlassung der Juden
in England schon mehr den Charakter einer staatlichen
Aktion: Cromwell hat die Aufnahme der Juden durch-
gesetzt aus wohl verstandenen Handelsinteressen des
Landes. Die Bedingungen der Einwanderung wurden ganz
genau bestimmt; die Juden vertrat dabei der reiche und
kluge Manasse ben Israel. Es war einfach ein Akt weit-
sichtiger Wirtschaftspolitik, wenn Cromwell, dem es haupt-
sächlich um Begründung der Ilandelsmacht Englands zu
tun war, die Juden ins Land rief. Ebenso wie in Holland
war auch hier die Zahl der eingewanderten Juden nicht
groß; und auch noch Jahrhunderte hindurch kam England
nur für jüdische Kapitalisten — im weitesten Sinne des
Wortes — als Einwanderungsland in Betracht.
Die Einwanderung der Juden in die Länder Nord-
europas hat erst stattgefunden, nachdem deren Entwickc-
lung schon ziemlich vorgeschritten war 09 und die Juden
dort einen Spielraum für sich fanden. Es mußten zuerst
— 52 —
wenigstens die Voraussetzungen für die kapitalistische Ent-
wicklung da sein, und erst nachher wanderten die geld-
besitzendcn Juden ein. Am besten können dieser Prozeß und
die damit zusammenhängenden Wanderungen mit folgenden
Worten Oppenheimers charakterisiert werden: „Nicht
dort blüht der Kapitalismus auf, wohin die Juden kommen,
sondern die Juden kommen dorthin, wo der Kapitalismus
aufblüht" 70 .
2. Amerika.
Über die erste Einwanderung der Juden nach Amerika
können wir uns ganz kurz fassen. Auch hier kommen haupt-
sächlich portugiesische und holländische Scheinchristen in
Betracht; es waren wiederum nur ganz Reiche, die hinüber-
wanderten und sich an der Begründung der Kolonialwirt-
schaft hervorragend beteiligten 71 . Das neuentdeckte Land
bot so viele Möglichkeiten, sich wirtschaftlich zu betätigen,
daß es dort, die Zahl der eingewanderten Juden mochte
noch so groß sein, einstweilen keine ,, jüdische Frage"
gab: die Eingewanderten haben sich fast vollständig mit der
übrigen Bevölkerung wirtschaftlich und kulturell assi-
miliert. Es lohnt sich wirklich, dies besonders zu betonen:
daß es letzten Endes von der ökonomischen Struktur des
Einwanderungslandes abhängt, ob die Juden eine mehr oder
weniger abgeschlossene Gemeinde im Staate bilden, oder
sich mit der übrigen Bevölkerung vermischen. Das Beispiel
Amerikas ist in dieser Beziehung besonders lehrreich. In
dem neuentdeckten Lande, in den aufblühenden Kolonien
gab es eigentlich noch keinen wirtschaftlichen Volksorganis-
mus, und die ganze Volkswirtschaft war noch im Werden,
ja noch nicht einmal begründet. So konnten die dort-
hin eingewanderten Juden nicht nur am Aufbau der
Wirtschaft mitarbeiten (sie haben nach S o m b a r t die
ganze koloniale Wirtschaft sogar begründet), sondern sie
konnten mit den neuentstehenden Wirtschaftsgebilden so
organisch verwachsen, daß sie nicht mehr als ,, Juden", als
„Fremde", sondern nur als echte „amerikanische Bürger"
betrachtet werden mußten. Daß die Juden dabei ihre spe-
zifisch jüdischen Eigenschaften noch eine Zeit hindurch be-
— 53 —
wahren konnten, soll natürlich hiermit nicht geleugnet
werden; sie haben nur keine „jüdische Frage" hervor-
gerufen. Ebenso haben die späteren Einwanderungen der
deutschen Juden im Lande der unbegrenzten Möglichkeiten
keinen Anlaß zur Entstehung einer jüdischen Frage ge-
geben; es ist ihnen ausgezeichnet gelungen, sich dem frem-
den Volksorganismus einzugliedern.
Erst im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts, nachdem
sich größere Massen des jüdischen Volkes Amerika zum Ziel
ihrer Wanderungen erkoren hatten, entstand dort die
folgenschwere jüdische Frage. Doch gehören diese Wande-
rungen schon der dritten Periode an.
Achtes Kapitel.
Die Konzentration der Juden in Polen und Russland.
Wir haben bereits gesehen, daß der Sklavenhandel die
Juden schon im frühen Mittelalter nach Polen geführt hat;
einige von ihnen ließen sich dort nieder und bemächtigten
sich der Salzproduktion, die damals eine große Bedeutung
hatte. Die Verfolgungen in Böhmen und Ungarn veranlaß-
ten weitere Einwanderungen der Juden nach Polen, wo sie
sich über das ganze große Königreich verbreiteten, den
Handel pflegten, sich mit dem Ackerbau beschäftigten und
auch Handwerke betrieben; jedoch bestanden diese Ein-
wanderungen einstweilen nur aus Nachbarwanderungen; die
Zahl der polnischen Juden war noch nicht groß, und ein
Asyl für die Juden Westeuropas wurde Polen erst später,
als auch hauptsächlich bei den deutschen Juden das
Bedürfnis nach Übersiedlung stärker wurde.
Nach der Vertreibung der Juden aus England (1290),
mehreren Vertreibungen und Verfolgungen in Frankreich
und Ausweisungen aus vielen deutschen Städten blieb in
Westeuropa für größere Massen der Juden nicht mehr viel
Gelegenheit und Möglichkeit, sich wirtschaftlich zu betäti-
gen. Der Warenhandel war stark reduziert, der Geldhandel
beschäftigte nicht viele. Die Vertreibung aus Spanien und
Portugal hat das ihrige dazu beigetragen, dieAuswandcrung
— 54 —
EU beschleunigen, indem die reichen spanisch-portugie i-
schen Juden ihren Stammesgenossen überall eine un-
angenehme Konkurrenz zu machen anfingen. Deshalb kon-
zentrierten sich nunmehr größere Massen der Juden in
Polen. Dies Land war noch das letzte in Europa, das
denJuden ein größeres wirtschaftliches Betätigungsfeld bot.
Die Gründe dafür waren sehr mannigfaltig. Zuerst
kommt natürlich in Betracht, daß den damaligen Gesetzen
zufolge den polnischen Edelleuten die Beschäftigung mit
Handel und Gewerbe bei Verlust aller ihrer Rechte und
Privilegien verboten war. Die Edelleute ,, bedienten sich
daher der Vermittlung der Juden. Diese hatten beinahe die
ganze Industrie unter ihren Händen, wodurch sie große
Reichtümer erwarben" 72 . Die Juden fanden in Polen das
beste Betätigungsfeld; sie haben dorthin die großen Kapi-
talien gebracht, deren das Land so sehr bedurfte. Die großen
natürlichen Reichtümer Polens konnten erst mit Hilfe des
jüdischen Kapitals ausgenutzt werden. Auch ist es nicht
unwahrscheinlich, daß Polen erst dank der jüdischen Immi-
gration ,,aus der Phase reiner Naturalwirtschaft in die der
Tausch- und Geldwirtschaft hinübergeführt wurde. Die
zwei Faktoren, die für diese Transformation im polnischen
Volke selbst fehlten, namentlich eine spezielle Handels-
klasse und Kapitalien, die für eine Massenproduktion un-
entbehrlich sind, waren in der Einwanderung der jüdischen
Händler und Geldborger gegeben, und das immobile, tote
polnische Eigentum fing an, auf solche Weise sich in mobiles,
lebendiges zu verwandeln. Die beiden Artikel, an denen
Polen so ungeheuer reich ist, nämlich Holz und Getreide,
beherrschten von da an die europäischen Märkte; das Holz
fand besonders Eingang in England, wo es zur Herstellung
von Waffen verwendet wurde, das Getreide in Schlesien" 73 .
Aber neben, wir würden heute sagen: Industriellen
und Großkaufleuten, brauchte Polen auch noch reiche
Gel dl einer, die sich ausschließlich mit dem Geldhandel be-
faßten. Dies Bedürfnis war in den politischen Zuständen
Polens begründet. Polen war ein Land, in dem das absolute
Königtum sich nie auf die Dauer behaupten konnte; jedes
Herrschers Macht und Autorität hing letzten Endes von der
— 55 —
Gnade der selbständigen und stolzen Großgrundbesitzer ab,
die den jeweiligen König auf den polnischen Thron brach-
ten. Diese Edelleute, die auf ihren Ländereien viel selb-
ständiger und in ihrer Macht unbeschränkter als der König
selbst waren, bestimmten in erster Linie die Schicksale
Polens. M i c k i e w i c z gibt eine interessante Schilderung
des Hofes eines polnischen Königs: „Der Hof des polnischen
Königs, einer der glänzendsten seiner Zeit, gewährte einen
merkwürdigen Anblick. Die selbständigen Fürsten Preußens
und Kurlands huldigten ihm kniefällig auf dem Markte zu
Cracau. Die Wojewoden der Moldau und Walachei fielen
vor der Majestät aufs Antlitz, und nebenbei geruhten die
polnischen Herren und Edelleute kaum die Mütze vor ihrem
Monarchen zu ziehen" 74 . Später, als die Geldwirtschaft
in Polen sich mehr und mehr verbreitete und die Wahl des
Königs nicht ohne große Summen sich bewerkstelligen ließ,
kamen die geldbesitzenden Juden den Edelleutcn sehr zu
statten, ja nunmehr hing die Frage, wer die Krone Polens
tragen sollte, auch von den Juden ab. Dieselbe Rolle, welche
die Fugger bei der Wahl Karls V. gespielt hatten, besaßen
auch, allerdings nicht in so starkem Maße, die jüdischen
Gcldmagnaten Polens.
Aber nicht nur die Wahl des Königs und die Entwick-
lung der Industrie wurden mit Hilfe des jüdischen Geldes
bewerkstelligt, sondern ,,auch der polnische Staat und sein
Regierungsmechanismus konnten lediglich mit Hilfe jüdi-
scher Kapitalien evolutionieren und fortkommen. Die polni-
schen Juden hoben die Regierungssteuer ein, versahen die
Schatzkammer mit Geld, und unter Mieszyslaw hielten sie
das Münzwesen in Pacht und prägten die Münzen mit
hebräischen Schriften" 7ß .
Die Juden wurden mithin die ersten polnischen Ban-
kiers, von denen sich die großen am Hofe konzentrierten,
die kleinen aber über das ganze Land zerstreut waren.
Sogar die neugegründete Krakauer Universität hatte einen
jüdischen Geldleihcr bekommen, der den Studierenden
in Geldnot helfen mußte. Die interessante Verordnung
lautete: ,,Wir bestimmen für besagte Studierende einen
Campsor oder einen Juden zu Krakau, welcher das nötige
— 56 —
Geld auf sichere Pfänder zu leihen besäße; er darf aber
nicht mehr als einen Groschen von jeder Mark monatlich
nehmen" 7G .
Neben den Industriellen, Kaufleuten und Geldleihern
brauchte Polen ferner noch Handwerker. Polen war an-
fangs ein Land, dessen ganze Bevölkerung nur aus Edel-
leuten, Kriegern und Bauern bestand. Mit dem Handwerk
gaben sich die Polen nicht ab, und die überschüssige Bauern-
bevölkerung wurde immer von dem Heere absorbiert, da
Polen sich fast ununterbrochen im Kriege befand. Mithin
waren es eine lange Zeit hindurch zum größten Teil Juden,
die das Handwerk in Polen betrieben. Nach einer Schrift
aus dem 16. Jahrhundert soll es in Polen 3200 jüdische
Kaufleute (auf 500 polnische) und dreimal so viel Hand-
werker gegeben haben.
Es ist nun verständlich, weshalb Polen Jahrhunderte
lang das bevorzugteste Einwanderungsland für die Juden
war, wo sich das jüdische Volk nach und nach konzentriert
hat, auf dessen weitere Geschichte und Entwickelung wir
jedoch hier nicht näher eingehen können.
Aber nicht nur im heutigen Polen, sondern auch in den
Provinzen des damaligen Königreichs Polen siedelten sich
die Juden schon recht früh an, besonders in Galizien. Die
Ursachen und der Verlauf der jüdischen Einwanderung in
Galizien waren dieselben wie die der Einwanderung in
Polen. Der rege Handel Lembergs führte viele Juden dort-
hin. „Leo Fürst von Halizien erhob 1269 Lemberg zur
Hauptstadt und unter seiner Regierung siedelten sich auch
die Juden in dieser Stadt an, und zwar im östlichen Stadt-
teile. Casimir der Große erteilte der Stadt große Frei-
heiten. Die Königin Hedwig bestimmte 1337 Lemberg als
Stapelplatz für alle aus östlichen Ländern kommenden
Waren" 77 . Nach der ersten Teilung Polens (1772) bekam
Österreich die Provinz Galizien 78 .
Was Rußland anbetrifft, so erhielt es, abgesehen von
einigen Juden, die schon früher dorthin einwanderten,
seine jüdische Bevölkerung dadurch, daß es dem ursprüng-
lich so umfangreichen Königreich ein Gebiet nach dem
anderen wegnahm, bis es als Erbe des Königreichs den
— 57 —
größten Teil der polnischen Gebiete an sich riß. (Nach den
Teilungen von 1772, 1793 und 1795). Dadurch erfuhr Ruß-
land eine gewaltige Zunahme an jüdischer Bevölkerung.
Damals begann auch die stärkere Emmigration der Juden
aus den polnischen Gouvernements nach dem Süden Ruß-
lands, der allerdings im Jahre 1882 durch gesetzliche Be-
schränkungen ein plötzliches Ende gemacht wurde.
Neuntes Kapitel.
Allgemeiner Charakter der Periode.
Wenn wir eine allgemeine Charakteristik der Wander-
bewegungen dieser zweiten Periode geben wollen, müssen
wir vor allem die Grenzen bestimmen, innerhalb deren sich
überhaupt eine Charakteristik geben läßt. Denn wenn wir
all die Wege jüdischer Wanderer in dieser Periode berück-
sichtigen müßten, so wäre eine Charakteristik, die für alle
Bewegungen paßte, natürlich unmöglich. Wir wollen daher
nur versuchen, ein allgemeines Bild der Periode heraus-
zuarbeiten, und zwar sind dabei auch die Binnenwanderun-
gen, wie schon oben erwähnt wurde, von vornherein von der
Betrachtung ausgeschlossen.
Bei dieser Begrenzung läßt sich die folgende Charak-
teristik geben: es waren Wanderungen aus den
Ländern mit hoher wirtschaftlicher Kul-
tur in die Länder, deren Wirtschaftsleben
erst im Begriffe war, sich von neuem zu
entwickeln 70 . (Holland, England und Amerika am
Ende des 16. und Anfang des 17. Jahrhunderts, die Türkei
nach der Eroberung durch Mohammed, Polen nach der Kon-
stituierung des polnischen Königreiches).
Das Wirtschaftsleben dieser Länder hat einen ver-
schiedenartigen Verlauf genommen: so gelangten die Länder
Nordeuropas zur höchsten wirtschaftlichen Blüte, das Wirt-
schaftsleben der Türkei nahm eine gleichmäßige, weder
Ebbe noch Flut aufweisende Entwickelung, weshalb auch
die ökonomische wie rechtliche Lage der türkischen Juden
bis heute fast dieselbe geblieben ist, und das der polni-
— 58 —
sehen Gebiete zeigte /nrrst einen Aufstieß, dann einen
Niedergang, um erst am Ende der Periode attfi neue auf-
blühen (Entwicklung der Industrie in Polen). —
Was die Einwanderungspolitik der Völker anbetrifft,
so fällt uns Folgendes auf: die Juden wurden in den Län-
dern, wohin sie kamen, im großen und ganzen gut auf-
genommen, möglichst begünstigt, ja in einigen Ländern von
fast allen Abgaben befreit.
Die Juden waren in dieser Periode noch notwendig: die
Völker, in deren Gebiete sie einwanderten, waren allein
entweder nicht im Stande (Holland, England) oder nicht
gewillt (die Türkei, Polen), alle Funktionen des sich aufs
neue entwickelnden Wirtschaftslebens zu erfüllen. Dazu
waren die Juden aber sehr geeignet, und sie erschienen des-
halb wohl als Fremde, aber als solche, die unentbehrlich
waren. Denn — und das ist eben das Bezeichnende — die
wirtschaftliche Tätigkeit, mit der die Juden sich in den Ein-
wanderungsländern befaßten, war für die Wirtsvölker höchst
wichtig, ja sie bildete in einigen Ländern das Rückgrat der
ganzen Wirtschaft. Das ökonomische Gebiet, das die Juden
beherrschten, vergrößerte sich in der Folge der Entwicke-
lung und wurde schließlich zu der Basis, auf der sich die
wirtschaftliche und politische Macht und Bedeutung des
Wirtsvolkes gründete.
Die Juden waren mithin am Anfang dieser Periode in
ihren Wanderungen die Träger des wirtschaftlichen Fort-
schrittes und nicht — um das schon gleich vorwegzunehmen
— wie in der dritten Periode, die des Rückschrittes. Man
vergleiche nur die Bedeutung der Juden in Holland am
Anfang des 17. Jahrhunderts oder der jüdischen Kolonisten
in Südamerika mit der Bedeutung der östlichen Einwanderer
in New- York oder London am Anfang des 20. Jahrhunderts!
Die Klassengegensätze der Wanderer dieser Periode zu
bestimmen, ist nicht schwer: denn es gab keine. Es war
eine großartige Wanderung der jüdischen Bourgeoisie. Die
großen Kaufleute und Geldleiher, die Kapitalisten gaben den
Ton an; aber auch die Handwerker, die nach der Türkei und
Polen einwanderten, waren anfangs sehr vermögend.
Das Resultat der Wanderungen war jedoch nicht in
59
allen Ländern gleich. In den Ländern Nordeuropas und in
Amerika, wohin sich verhältnismäßig kleinere Massen der
Auswanderer gewendet hatten und wo das Wirtschaftsleben
die höchste Blüte erreichte, verlor die jüdische Frage nach
und nach ihre Schärfe. Die einheimische Bevölkerung trat
zwar in eine Konkurrenz mit den Juden, doch waren die
letzteren zu mächtig, als daß sie sich aus ihren Positionen
hätten verdrängen lassen.
Ganz anders gestaltete sich die Lage der Dinge im
Osten Europas. Hier hatten sich schon bedeutend größere
Massen der Juden konzentriert, und, was noch wichtiger
ist, das Wirtschaftsleben der Wirtsvölker machte nicht
die Fortschritte, wie etwa in Westeuropa. Im Gegenteil, es
geriet in Verfall, und so wurden die Juden mehr und
mehr in ihrer ökonomischen Lage gedrückt. Zu all dem
wurde die weitere Auswanderung nicht mehr möglich: die
Länder, welche die Juden vor Jahrhunderten verließen,
konnten sie nicht wieder aufnehmen, und weiter nach Osten
gab es keinen Weg. Wälder und Steppen, die urwüchsige
Natur, die rückständige Wirtschaftsweise, diese Gebiete
boten keine Voraussetzungen für die jüdische Einwanderung.
Und erst nachdem die wirtschaftliche Entwickelung ferner
überseeischer Länder neue Möglichkeiten für jüdische
Massen eröffnet hat und die Transporttechnik so fort-
geschritten war, daß die Juden auch dorthin gelangen konn-
ten, trat das jüdische Volk seine neue große Wanderung an.
Dritter Abschnitt,
Dritte Periode: Wanderbewegungen der Juden
seit Beginn der überseeischen Auswanderung
bis in die Gegenwart.
Zehntes Kapitel.
Soziale Differenzierung — jüdischer Nationalismus —
Wanderungen.
Der homogene Charakter der jüdischen Wanderungen
seit dem ausgehenden Altertum bis zur Konzentration der
jüdischen Massen in Osteuropa hat die Historiker dazu ver-
leitet, das jüdische Volk auch in der Gegenwart als aus
einer Klasse bestehend zu betrachten.
Dabei verfielen die christlichen Geschichtsschreiber
einerseits und die jüdischen andererseits in zwei entgegen-
gesetzte Fehler, wobei es natürlich auch einige Juden gab,
die den Standpunkt der christlichen Historiker vertraten
und umgekehrt. Doch kam den jüdischen Verfassern, deren
Aufmerksamkeit hauptsächlich auf die Verfolgungen und
Ausplünderungen der Juden gerichtet war, und die darum
sich mehr mit den Folgen der Exzesse beschäftigten, natür-
lich die Armut und das Elend stärker zum Bewußtsein; sie
waren darum auch mehr geneigt, die Juden als Unter-
drückte, Gepeinigte und Arme darzustellen. Ihre Geschichte
würde daher zu einer Leidensgeschichte.
Den nichtj üdischen Verfassern fiel dagegen eine andere
Seite stärker auf, nämlich der Reichtum der Juden, ihre
ökonomische Macht, ihre pekuniäre Unabhängigkeit; die
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Schmerzen der Juden gingen sie nichts an, wohl aber die
Schuldscheine, die sich in den Händen der Juden befanden.
Dieser Gegensatz in der Auffassung der jüdischen Ge-
schichte tritt uns stark und klar mit einer Offenheit und
Naivität, die nur in früheren Zeiten zu finden ist, in den
Schriften des Mittelalters entgegen. In der neuen Zeit
äußert sich dieser Gegensatz der Auffassung freilich ganz
anders.
Karl Marx war der erste, der in seiner genialen
Weise in der kurzen Skizze ,,Zur Judenfrage" das jüdische
Volk als das der kapitalistischen Bourgeoisie darzustellen
versucht hat. „Welches ist der weltliche Grund des Juden-
tums? Das praktische Bedürfnis, der Eigennutz. Welches
ist der weltliche Kultus der Juden? Der Schacher. Wel-
ches ist sein weltlicher Gott? Das Geld. Nun wohl! Die
Emanzipation vom Schacher und vom Geld, also vom prak-
tischen, realen Judentum wäre die Selbstemanzipation
unserer Zeit . . . Die Judenemanzipation in ihrer letzten Be-
deutung ist die Emanzipation der Menschheit vom Juden-
tum . . . Die gesellschaftliche Emanzipation der Juden ist
die Emanzipation der Gesellschaft vom Judentum" 80 .
Am Anfang der 40er Jahre des vorigen Jahrhunderts
mochte so was richtig sein. Marx konnte von den ver-
schiedenen Klassen im jüdischen Volke, die damals gerade
im Entstehen waren, unmöglich etwas wissen. Merk-
würdigerweise aber schleppt sich diese Auffassung fast in
allen sozialdemokratischen Schriften bis heute weiter. Heute
noch denkt sich K a u t s k y die gesamten jüdischen Wande-
rungen als die der Händler. Deshalb ist für ihn die Ein-
wanderung nach Palästina ein Ding der Unmöglichkeit; ,,da
die Wege des Welthandels seitdem (seit der Zer-
störung Jerusalems) bis heute Palästina gemieden haben,
wurde es auch bis heute von der Masse der Juden gemieden,
selbst wenn ihnen die Freiheit der Niederlassung im Lande
ihrer Väter geboten wird" 81 . Als ob die Masse der Juden
in Galizien und Rußland aus lauter Händlern bestünde, die
sich am Welthandel beteiligen könnten!
S o m b a r t , der eine wohl gelungene Geschichte der
jüdischen Großbourgeoisie geschrieben hat, sieht zwar das
— 62 —
Wesen des Judentum! ebenso wie Marx darin, daß es
eine Religion ist, die vornehmlich den Geist des Kapitalis-
mus wiederspiegelt, er kann sich jedoch der Tatsache nicht
verschließen, daß die osteuropäischen Juden in ihrer Heimal
weder den Kapitalismus begründet haben, noch in ihrer öko-
nomischen Lage weit fortgeschritten seien. Darum teilt er
— allerdings nur in seinem Schriftchen „Die Zukunft der
Juden" — die Juden in die westlichen und östlichen ein "-.
Diese Einteilung ist insoweit berechtigt, als die Juden des
Westens eine verhältnismäßig homogene Gruppe darstellen
(Händler und Kapitalisten im weiten Sinne des Wortes und
Angehörige liberaler Berufe), während die Juden des
Ostens doch ein Volk sind, das aus verschiedenen Klassen
besteht. Dieses Volk als eine gleichartige Masse zu behan-
deln ist ein großer Fehler, den man leider oft begeht. Die
6 Millionen Juden Rußlands gehören nicht mehr einer
sozialen Klasse an, sondern sind differenziert.
Zuerst ist dies der Entstehung des Kapitalismus in
Rußland zu verdanken. Diese vor allem hat innerhalb des
jüdischen Volkes verschiedene Gruppen mit verschiedenen
Interessen ins Leben gerufen 83 . Zwar wird die Entwicke-
lung der jüdischen Industrie stark gehemmt, worüber
noch später die Rede sein wird, aber gerade dieser Um-
stand ruft einen noch erbitterteren sozialen Kampf her-
vor, — man denke nur an die Entstehung verschiedener
jüdischer Arbeiterorganisationen! Und auch der übrige,
größte Teil der östlichen Juden, deren Lage man gewöhnlich
mit einer allgemeinen Phrase charakterisiert (sie ,,leben
in kümmerlichen Verhältnissen, die sich vielerorts zu Zu-
ständen der Not, des Elends, der Verzweifelung ausge-
stalteten" 84 ) bildet sich aus Angehörigen verschiedener,
sozialer Gruppen, deren ökonomische und rechtliche Exi-
stenz allerdings im großen und ganzen miserabel ist,
die aber zur Besserung ihrer Lage ganz ver-
schiedene Wege einschlagen und sich ganz
verschiedener Mittel bedienen.
Das letztere ist für uns besonders wichtig, da die Aus-
wanderung in ihrer Grundbedeutung doch nichts anderes
ist als ein Mittel, zu dem die Masse — zuerst instinktiv —
— 63 —
greift, um ihre Lebensbedingungen zu verbessern. Und die
soziale Gliederung der Auswanderer, verglichen mit der
sozialen Differenzierung der Zurückgebliebenen, kann uns
am besten über die Erwartungen Aufschluß geben, die von
verschiedenen Gruppen der jüdischen Bevölkerung mit der
Auswanderung verknüpft werden.
Es bleibt uns folglich zu untersuchen, welche Stellung
denn verschiedene soziale Gruppen innerhalb des Juden-
tums zur Auswanderung einnehmen.
Diese Untersuchung schließt aber gleichzeitig die Er-
örterung der Frage des jüdischen Nationalismus ein oder
richtiger der Frage, wie sich die verschiedenen sozialen
Klassen im Judentum zu dem nationalen Problem stellen
(vgl. Anm. 84a).
Denn: das Nationalitätenproblem und die Auswande-
rungsfrage hängen aufs engste zusammen, insbesondere aber
in der Gegenwart, wo sich Tausende und Abertausende von
Juden auf Wanderungen befinden, tritt uns die jüdische
nationale Frage vornehmlich als Wanderungsproblem ent-
gegen. Meint doch S o m b a r t: ,,Das Problem der östlichen
Juden ist ein Unterbringungs-, ein Versorgungs-, genauer:
ein Ansiedlungs- oder Umsiedlungsproblem" sr> . —
Das Territorium stellt die Grundlage dar, auf der sich
das gesunde, nationale Leben eines Volkes entfalten kann.
Darum können nur diejenigen Nationen, die ein Territorium
besitzen, auch eine eigene nationale Volkswirtschaft haben.
Innerhalb dieser Volkswirtschaft ,,in der gesellschaftlichen
Produktion ihres Lebens gehen die Menschen bestimmte,
notwendige, von ihrem Willen unabhängige Verhältnisse ein,
Produktionsverhältnisse, die einer bestimmten Entwicke-
lungsstufe ihrer materiellen Produktionskräfte ent-
sprechen" 88 .
Jedoch findet diese gesellschaftliche Produktion nicht
bei jedem Volke unter gleichartigen Bedingungen statt;
diese Bedingungen sind in der Wirklichkeit sehr verschieden
und hängen nicht nur von der Produktionsweise ab; sie
können auch außergesellschaftliche Naturbedingungen usw.
sein. Zwar ,,ist es jedesmal das unmittelbare Verhältnis der
Eigentümer der Produktionsbedingungen zu den unmittel-
— 64 —
baren Konsumenten , . . worin wir das innerste Geheimnis,
die verborgene Grundlage der ganzen gesellschaftlichen
Konstruktion . . . finden". Aber ,,dies hindert nicht, daß
dieselbe ökonomische Basis — dieselbe den Hauptbedin-
gungen nach — durch zahllos verschiedene empirische l
stände, Naturbedingungen, Rassenverhältnisse, von außen
wirkende geschichtliche Einflüsse usw. unendliche Varia-
tionen und Abstufungen in der Erscheinung zeigen kann, die
nur durch Analyse dieser empirisch gegebenen Umstände zu
begreifen sind" 87 .
Somit aber wird die Verschiedenheit der ökonomischen
Entwickelung einzelner Völker selbst von Marx zugegeben.
Das nationale Moment in der Volkswirtschaft jedes Volkes
wird damit betont, und in dieser Hervorhebung der ver-
schiedenen Produktionsbedingungen, unter
denen sich die Volkswirtschaft einzelner Völker abspielt,
wird gleichzeitig der Ausgangspunkt für die Herausbildung
einer Theorie des Nationalismus gegeben.
Insofern die Produktionsbedingungen verschiedener
Völker verschieden sind, bilden sie nationale Organismen,
obwohl die Produktionsweise innerhalb dieser gesellschaft-
lichen Organismen die gleiche ist (für die modernen Kultur-
völker etwa der Kapitalismus).
Die Lage innerhalb gewisser materieller Produktions-
bedingungen kann für das betreffende Volk vorteilhafter
sein, als das Wirken und Schaffen unter anderen Produk-
tionsbedingungen; andererseits mögen gewisse Produktions-
bedingungen noch so bequem und gut sein, — das Volk kann
nichtsdestoweniger dem Triebe nach Erweiterung seiner
Produktion, nach größerer Betätigung folgend, nach der Er-
weiterung der Sphäre seiner Produktionsbedingungen und
dem Eingreifen in die fremden streben. Daraus aber ent-
steht der Kampf zwischen verschiedenen volkswirtschaft-
lichen Organismen.
Dabei bilden die verschiedenen Produktionsmittel das
Eigentum der Klassen; so gehört das gesamte Kapital, das
in der Volkswirtschaft tätig ist, der Klasse der Kapitalisten,
der Grund und Boden im großen und ganzen der Klasse der
Grundbesitzer, die Arbeitskraft der Klasse der Ar-
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beiter usw. Die gleichen Produktionsbedingungen aber
bilden das gesamte Eigentum der ganzen Gesellschaft, des
ganzen Volkes.
„Das Gefühl der Verwandtschaft auf Grund einer ge-
meinsamen historischen Vergangenheit, die in gleichen und
harmonischen Produktionsbedingungen wurzelt, heißt eben
der Nationalismus" 88 .
Dieser Nationalismus steht im engsten Zusammenhang
mit dem allgemeinen Eigentum des Volkes; dieses allge-
meine Eigentum sind aber die Produktionsbedingungen,
unter denen die betreffende Volkswirtschaft sich entwickelt.
Und die Basis, auf der das Wirken dieser Produktions-
bedingungen erst möglich wird, ist eben das Territorium.
Darum ist aber bei einem ungehindert seine Produk-
tionskräflc entfaltenden Volke, d. h. bei einem solchen,
dessen Basis allen Anforderungen seiner Entwickelung ent-
spricht, der Nationalismus noch nicht entwickelt; ein solches
Volk hat eine Menge von Vorrichtungen, die sein nationales
Eigentum schützen und bewahren: die politische Einheit,
Sprache, nationale Kultur, Erziehung und dergl. mehr, —
aber solange seine Produktionsbedingungen für es noch
keine Frage der Erweiterung oder der Verbesserung bilden,
hat es auch nicht nötig, nationalistisch zu denken und zu
fühlen. Sein Nationalismus ist mithin ein latenter Natio-
nalismus, der jedoch bei erster Gelegenheit sich mächtig
geltend machen kann. Der Grad, in dem dies bei den terri-
torialen Völkern geschieht, ist jedoch sehr verschieden; er
hängt meistens davon ab, in welchem Maße das betreffende
Volk seine Kräfte frei und unbehindert entfalten kann. So
gibt es ganz freie Völker (Franzosen), nur wenig unter-
drückte (Ungarn, Polen in Galizicn), bedeutend stärker
unterdrückte (Kroaten) und ganz unterdrückte (Ukrainer).
Da ferner jedes Volk aus verschiedenen sozialen Klas-
sen besteht, die zu dem allgemeinen Eigentum - den Pro-
duktionsbedingungen eine ganz verschiedene Stellung
einnehmen und das Zentrum ihrer Interessen bald in der
einen und bald in einer anderen Seite des allgemeinen na-
tionalen Eigentums erblicken, bekommen wir dement-
sprechend auch verschiedene Typen des Nationalismus. —
Wlad. W. kaplun-Kogan. Wanderbewegungen. 5
— 66 —
Bei den Völkern nun, die kein Territorium haben, wo
also die Grundlage für irgend welche gesunde Produktiv
Bedingungen fehlt, können sich die Produktivkräfte nicht
normal entfalten. Um jedoch existieren zu können, sieht
sich ein solches exterritoriales Volk gezwungen, in die
Sphäre der nationalen Volkswirtschaft eines anderen einzu-
dringen; es tritt in den sozialökonomischen Organismus
einer fremden Nation ein.
Dabei aber wird ein solches exterritoriales Volk einer
allgemeinen oder teilweisen Isolation unvermeidlich aus-
gesetzt. Die Isolation ist eine teilweise, solange die Ange-
hörigen des eingedrungenen Volkes nur zu den wirtschaft-
lichen Funktionen zugelassen werden, die von den Mit-
gliedern des einheimischen Volkes nicht besetzt sind, und
solange also die Fremden noch als nützliche Gäste er-
scheinen. Die Isolation wird aber unbedingt allgemein von
dem Augenblick an, wo die einheimische Bevölkerung an-
fängt, selbst die Funktionen der bis jetzt Tolerierten zu er-
füllen und die Fremden nunmehr aus ihren Positionen ver-
drängt.
Im ersten Falle geraten die Fremden in die Endstadien
der Produktion, da die Anfangsstadien von den Einheimi-
schen schon meistens besetzt sind. Im zweiten Falle — im
Falle der allgemeinen Isolation — werden die Fremden nun
vollständig überflüssig und müssen in den meisten Fällen
auswandern: denn ohne eine eigene Volkswirtschaft zu be-
sitzen, unterliegen sie als die ökonomisch Schwächeren im
Kampfe mit den Einheimischen. Als Fremde im Lande
können sie keinen großen Einfluß auf die Gesetzgebung aus-
üben, und so müssen sie sich alle Beschränkungen gefallen
lassen, welche die Einheimischen, im Besitz des gesetz-
gebenden Apparats, ihnen auferlegen.
Das Wesen der jüdischen nationalen Frage besteht mit-
hin in der Exterritorialität des jüdischen Volkes. Und die
Mittel, die das jüdische Volk ergreift, um dieser Exterri-
torialität zu entgehen, sind eben Wanderungen, auf denen
es sich ein Territorium sucht.
Jedoch ist heute nicht das ganze jüdische Volk an die-
sen Wanderungen gleichmäßig beteiligt; früher war es wohl
— 67 —
der Fall, als es noch aus einer Klasse bestand; heute aber
nehmen verschiedene soziale Klassen im Judentum eine
grundverschiedene Stellung zu der Auswanderung ein.
Darum ist auch der Nationalismus der Agrarier, der
Groß-, Mittel- und Kleinbourgeoisie, der noch nicht prole-
iarisierten Arbeitermassen und des Proletariats ein ganz
verschiedener.
Die Großgrundbesitzer, die Agrarier, leben
natürlich auch von ihrem Kapital; die Hauptquelle ihrer
Einkünfte bildet aber vor allem die Grundrente. Dies ver-
anlaßt sie, den unbeweglichen Grund und Boden am meisten
zu schätzen. Das Territorium, die allgemeine Basis des
nationalen Eigentums — der gesamten Produktionsbedin-
gungen — ist ihnen insoweit teuer und lieb, als es ein Stück
Land ist, aus dem sie die größten Einnahmen beziehen. Sie
werden darum nur dann national bzw. nationalistisch, wenn
die Sicherheit ihrer Ländereien in Gefahr kommt. Doch da
sie durch die geschichtliche Entwickelung der Dinge der
politischen Macht im Staate sehr nahe stehen, fühlen sie
sich berufen, die Stützen und Schützer der nationalen, alten
Zustände und Sitten im Staate zu sein. Darum treiben sie
eine durchaus nationalistische Politik und sind in natio-
nalen Angelegenheiten sehr empfindlich. ,,Sie sind sozu-
sagen ein beständiger Sprengstoff des Nationalismus" 89 .
Bei den Juden gab es solche Agrarier fast nie und gibt
sie auch heute nicht, wenn wir von den wenigen jüdischen
Großindustriellen des Westens absehen, die reich genug
sind, um große Ländereien anzukaufen; dies tun sie aller-
dings nicht um des Landbesitzes willen, sondern vielmehr
wegen der sozialen Stellung, die ein Großgrundbesitzer
noch heute in der besten Gesellschaft einnimmt. Und so-
lange sie noch Juden bleiben, deckt sich ihr jüdisches, natio-
nales Empfinden mit dem der jüdischen Großbourgeoisie.
Das mächtige Großkapital kennt keine Tra-
dition. Es fühlt sich auch nicht gebunden an enge Grenzen
der eigenen Heimat, sondern strebt nach der Herrschaft
über die ganze Welt. Die nationale Sprache spielt bei ihm
keine große Rolle, und im Absatz seiner Waren ist es nicht
auf denMarkt, wo irgend eine Sprache die herrschende
— 68 —
ist, angewiesen. Denn die Großindustriellen treten nicht in
unmittelbaren Verkehr mit den Konsumenten; der Konsu-
ment spricht nicht mit dem Fabrikanten, sondern mit
dem Händler. Die zahlreichen Angestellten führen die
ganze Korrespondenz des Großindustriellen; er selbst
braucht nicht alle Sprachen all der Völker zu kennen, denen
er seine Waren verkauft.
Noch weniger als der Großindusrielle ist der reiche
Bankier, der große Finanzier an den einheimischen Markt
gebunden. Die internationale Geldbourgeoisie legt ihre
Hand auf den Gang der ganzen Weltwirtschaft. Sie treibt
keine innere, nationale Politik, sie kümmert sich im Gegen-
teil viel mehr um die internationalen Angelegenheiten, sie
ist nicht nationalistisch, sondern imperialistisch (im eng-
lischen und amerikanischen Sinne des Wortes).
Für die jüdische Geldbourgeoisie ist die Konkurrenz
mit der Bourgeoisie anderer Nationen nicht gefährlich. Sie
ist alt und mächtig genug, um den Kampf zu bestehen;
außerdem ist sie so unentbehrlich, daß man ohne sie nicht
mehr gut auskommen kann. Sie ist daher weder der teil-
weisen noch der allgemeinen Isolation unterworfen. Sie ist
assimilatorisch gesinnt. Eine unmittelbare jüdische Frage
existiert für sie nicht. Es gibt für sie darum auch keine
Auswanderungsfrage, und wenn sie wandert — d. h. um
ihre Macht über die ganze Welt zu erstrecken, sich über-
all zerstreut, so ist diese Ausbreitung nicht ein Zeichen ihrer
Schwäche, sondern im Gegenteil ihrer Macht, ihrer herr-
schenden Stellung in der Weltwirtschaft. Jedoch wird sie
ab und zu an die jüdische Frage unangenehm erinnert. Die
armen, östlichen Juden und der Antisemitismus sind für
diese internationale, jüdische Bourgeoisie sehr peinliche
Sachen. Darum sieht sie sich gezwungen, der jüdischen
Frage eine wie immer geartete Aufmerksamkeit zu schen-
ken; sie muß die armen Stammesgenossen irgend wo und
irgend wie unterzubringen versuchen. Philantrophie ist ihr
erstes und letztes Wort.
Die Mittelbourgeoisie — größere und mitt-
lere Händler, Angehörige liberaler Berufe und überhaupt
besser Situierte — haben mehr Grund, national gesinnt zu
sein.
— 69 —
Für den größeren Teil dieser Bourgeoisie, die Händ-
ler, hat das Territorium nur die Bedeutung des inneren
Absatzmarktes. Ausländische Märkte interessieren sie in
sehr geringem Maße, wohl aber diejenigen Konsumenten,
die ihre hauptsächlichsten Abnehmer sind, d. h. diejenigen,
die mit ihnen die gleiche Sprache sprechen. Die letztere
spielt mithin eine ganz gewaltige Rolle, ja der Nationalis-
mus dieser Gruppe fällt oft örtlich mit den Grenzen der
nationalen Sprache zusammen. Darum beschränkt sich die
nationale Politik dieser Gruppe hauptsächlich auf Kultur-
politik, Förderung der Sprache, der nationalen Erziehung
usw. Die Konkurrenz zwischen dieser Bourgeoisie und der
einheimischen ist schon bedeutend stärker, wobei die Juden
nunmehr im Kampfe auch ab und zu den Kürzeren ziehen.
Die Isolation wird manchmal recht verhängnisvoll, und das
Fehlen einer selbständigen, nationalen Volkswirtschaft
macht sich sehr fühlbar.
Diese Bourgeoisie ist viel enger mit dem ganzen Volke
verknüpft, seine Interessen sind auch ihre Interessen. Zu-
sammen mit den Angehörigen liberaler Berufe bekommt sie
sehr viel von dem gesellschaftlichen Boykott und Anti-
semitismus zu spüren. Trotz all der Gleichberechtigung
dauert doch die gesellschaftliche Ausschließung dieser
Schichten des jüdischen Volkes fort — im Osten wie im
Westen. Die Angehörigen liberaler Berufe, die zu dieser
Gruppe gehören, sind meistens geistig sehr begabt; sie be-
sitzen auch eine sehr starke Energie und fühlen sich zu
Größerem berufen. Sie könnten ihre Kräfte in viel höhcrem
Maße entwickeln und betätigen, als es ihnen in modernen
Staaten tatsächlich gegönnt wird. Und so fühlen sie immer,
trotz der materiellen Behaglichkeit, doch einen inneren
Widerspruch zwischen ihrer Lage und ihrer Bestimmung.
Sie sind nicht ganz befriedigt, und dieses Unbefriedigtscin
ist es, was sie national macht. Sie haben keinen unmittel-
baren Anlaß, auszuwandern, und tun es auch nicht,
und trotzdem beteiligen sie sich ziemlich stark an der natio-
nalen Bewegung, und zwar gerade auf dem Gebiete der zio-
nistischen Arbeit. Der zionistische Staat ist für sie das,
was man als hochherrschaftliche Wohnung mit Zentral-
— 70 —
heizungj elektrischem Licht pp. bezeichnen kann. Schon
heute haben sie in der Bewegung die Leitung inne und
hoffen, auch im zukünftigen Staate die Ministerstellen zu
besetzen °°.
Die Kleinbourgeoisie stellt die Hauptma
des jüdischen Volkes dar. Eigentlich ist es nicht richtig.
sie noch als Bourgeoisie zu bezeichnen; denn ihre ökono-
mische Existenz ist eine ganz miserable. Die unzähligen
kleinen Händler, Makler, armen Handwerker, Leute ohne
beständigen Beruf bilden diese Bourgeoisie. Aus dieser
Gruppe des jüdischen Volkes rekrutiert sich die Masse der-
jenigen, die in der Suche nach der Beschäftigung das Haupt-
kontingent der jüdischen Wanderer bilden.
Doch solange die Angehörigen dieser sozialen Gruppe
noch einen Schimmer von Selbständigkeit haben und noch
die leiseste Möglichkeit, in der alten Heimat weiter zu exi-
stieren, hängen sie leidenschaftlich an den alten Wohn-
stätten. Denn solange sie noch mitten in den bekannten
Verhältnissen sind und mit den Volksgenossen verkehren.
die mit ihnen die gleiche Sprache sprechen, haben sie noch
Hoffnung, sich irgendwie emporzuheben. Ein glückliches,
zufälliges Geschäft verhilft manchmal einem auf eine höhere
soziale Stufe. Eine berechtigte Hoffnung hierauf verschwin-
det aber in den Ländern der Immigration. Die Überfahrt
verschlingt die letzten ersparten Gelder, und in der neuen
Heimat angekommen bleibt dem Einwanderer nichts übrig.
als seine Arbeitskraft zu verkaufen.
Der Nationalismus dieser Gruppe ist sehr stark ent-
wickelt; sie steht materiell sehr tief, sodaß sie gar nicht in
Verkehr mit den höheren intellektuellen Schichten des ein-
heimischen Volkes kommt und darum von der Assimilation
nicht viel weiß. Sie hat keinen Anlaß und keine Lust, sich
mit dem niederen Volke, mit dem sie meistens zu tun hat,
zu assimilieren. Sie ist auf die Volksgenossen angewiesen
und fühlt auch, daß sie nur durch die Arbeit und das Zu-
sammenleben mit anderen Gruppen des Volkes ihre Lage
verbessern kann. Sie träumt vom jüdischen Staat, ohne
jedoch im Stande zu sein, ihn zu verwirklichen. Denn ihre
ökonomische Lage ist eine zu unbeständige, als daß sie eine
— 71 —
planmäßige, einheitliche Politik treiben könnte. So bekennt
sie sich heute zu einer und morgen zu einer anderen Partei.
Doch, da sie an der Auswanderung fast am stärksten inter-
essiert ist, bleibt sie — aus diesem und anderen Gründen —
im großen und ganzen national gesinnt.
Wir kommen nunmehr zu den jüdischen Arbeiter-
massen. Diese Arbeitcrmassen teilen wir in zwei Gruppen
ein: Zu der ersten gehören die Arbeiter, die schon einen
Arbeitsplatz haben, d. h. in irgend einer Fabrik arbeiten,
darum auch einen planmäßigen Klassenkampf führen kön-
nen, proletarisch gesinnt sind, das jüdische Proletariat
bilden; diese Gruppe kann man als den vierten jüdischen
Stand bezeichnen. Der zweiten Gruppe gehören alle die-
jenigen jüdischen Arbeitslosen an, die zwar gerne regel-
recht angestellte Arbeiter sein möchten, die aber infolge der
Konkurrenz dem einheimischen Arbeiter den Platz räumen
müssen; wirkliche Arbeitslose im westeuropäischen Sinne
sind sie jedoch nicht; es sind Leute, deren Beschäftigung
fast jede Woche, ja jeden Tag wechselt, die gewissermaßen
den fünften jüdischen Stand bilden.
Wir beschränken damit den Begriff , .Proletarier" auf
diejenigen Arbeiter, die schon einen Arbeitsplatz haben
und zum kampfesfähigen Proletariat gehören; andererseits
schließen wir aus dem Begriffe , .Proletarier" — mit dem
man überhaupt diejenigen bezeichnet, die nichts haben und
ihre Arbeitskraft verkaufen müssen — die jüdischen Ar-
beitslosen aus, obwohl die letzteren nach der Vorstellung
des Laien erst recht zu den Proletariern gehören. Dazu
zwingt uns der Umstand, daß das Interesse an der Aus-
wanderung und der Nationalismus dieser beiden Gruppen
der jüdischen Arbeitermassen grundverschieden sind.
Wir fangen nun mit der zweiten Gruppe an.
Die jüdischen Arbeitermassen, die kei-
nen beständigen Arbeitsplatz haben und
darum im gewissen Sinne die jüdische Reservearmee bilden,
haben nur einen Wunsch: jemanden zu finden, dem sie ihre
Arbeitskraft verkaufen könnten. In ihrer alten Heimat
finden sie meistens keinen Absatz mehr für ihre Arbeits-
— 72 —
kraft und so sehen sie lieh genötigt, M nem Lande
ins andere EU wandern: immer auf der Suche nach einem
Arbeitsplatz. Treffend saßt darum E I t h e r Sehr,«* r-
son: „Überhaupt ließt zum Unterschied von Westeur
das Hauptproblem der jüdischen Arbeiterfrage - (rieht:
wäre gewesen: der Arbeiter, die noch nicht proletarisiert
sind) — nicht sowohl in der Arbeitszeit und dem Arbeits-
ertrage, als vielmehr in der Arbeitsgelegen-
heit" 91 . Das Bedürfnis nach der Proletari-
sierung isthier ungemein groß, findet aber
keine Befriedigung. Die Konkurrenz mit den ein-
heimischen Arbeitern, die selbst infolge der ökonomischen
Entwickelung des Landes sich in beträchtlichen Massen an
dem Arbeitsmarkt konzentrieren, um ihre Arbeitskraft dem
Arbeitgeber anzubieten, fällt von vornherein entschieden
zu Ungunsten der jüdischen Bewerber aus.
Dies an der Hand der Tatsachen und Statistik zu be-
weisen, wird die Aufgabe des Kapitels sein, das über die
ökonomische Lage der jüdischen Arbeitermassen in Ruß-
land zu berichten haben wird. Jetzt nehmen wir aber als
gegeben an: der jüdische Arbeiter, dessen größtes und ein-
ziges Lebensproblem das Ausfindigmachen eines Arbeits-
platzes ist — überhaupt conditio sine qua non seiner Exi-
stenz — muß dem einheimischen Arbeiter, der gleichzeitig
sich um den Arbeitsplatz bewirbt, das Feld räumen. Somit
bleibt ihm nichts anderes übrig, als auszuwandern.
Indem er jedoch in ein neues Land einwandert, gerät
er dort wieder in Konkurrenz mit den einheimischen Ar-
beitern, die ihn von den günstigeren Plätzen ausschließen;
darum wird er auch in den Immigrationsländern in die rück-
ständigsten Industriezweige gedrängt (Sweating-System).
Dabei führt ihn das Bewußtsein seiner Hilflosigkeit im
Verein mit der Hoffnung, bei schon früher Eingewanderten
wenigstens die erste Unterstützung zu finden, dazu, in die-
jenigen Länder einzuwandern, die schon vorher beträcht-
liche jüdische Massen aufgenommen haben. Die hierdurch
verursachte Ansammlung sehr großer jüdischer Massen
wirkt aber höchst ungünstig auf die ökonomische und recht-
liche Lage der Einwanderer ein.
— 73 —
Diese Massen der jüdischen Arbeiter leiden am stärk-
sten unter der Exterritorialität des jüdischen Volkes, sind
aber am wenigsten im Stande, eine bewußte, planmäßige
Auswanderungspolitik zu treiben. Somit sind ihre Wande-
rungen passiver Art, es fehlt ihnen an bewußter Aktivität.
Das, was not tut: eine planmäßige, bewußte Regulierung der
jüdischen Auswanderung, kann somit von diesen Massen
nicht bewerkstelligt werden.
Der Nationalismus dieser Gruppe der jüdischen Ar-
beiter ist sehr entwickelt, trägt aber einen gewissen lokalen
Charakter: ein Arbeitsplatz an und für sich ist die Haupt-
sache — darum streben diese Massen nach irgend einem
Territorium überhaupt. Sie haben keine Zeit zu warten:
das Territorium, der Arbeitsplatz, muß sofort gefunden
werden.
Der Nationalismus wird hier zum Territorialismus.
Das jüdische Proletariat ist bei dem Kampfe
mit der einheimischen Arbeiterschaft nicht so leer ausge-
gangen, wie diejenigen, die überhaupt keine Arbeit fanden
und entweder die Reihen der jüdischen Reservearmee oder
die der Auswanderer füllen mußten. Es hat doch noch eine
Unterkunft in der alten Heimat gefunden, aber nur in den
Endstadien der Produktion, wohin es ebenfalls die Konkur-
renz gedrängt hat.
Dadurch aber ist die Entwickelung seiner Produktions-
kräfte, seine Befähigung zum Klassenkampf sehr gehemmt.
Die nationale Frage des jüdischen Prole-
tariats besteht mithin in der Anormali-
tät seiner strategischen Basis. Borochoff
macht einen Unterschied zwischen dem Arbeitsplatz und
der strategischen Basis.
Der Arbeitsplatz ist das Objekt des Strebcns
und der Konkurrenz einzelner Arbeiter, die noch keine
Arbeit haben.
Strategische Basis nennt B o r o c h o f f den
Arbeitsplatz, insofern er den Ausgangspunkt bildet für den
Kampf des Proletariats als einer Klasse gegen andere
Klassen.
Je schlechter die strategische Basis ist, desto geringer
— 74 —
ist die Möglichkeit, einen planmäßigen und erfolgreichen
Klassenkampf zu führen. Darum liegt es im unmittelbaren
Interesse des Proletariats, seine strategische Basis /.u |
teidigen und zu behaupten oder, falls sie nicht den Anforde-
rungen entspricht, zu verbessern.
Die strategische Basis des jüdischen Proletariats ist
höchst unzulänglich, und zwar in ökonomischer wie in poli-
tischer Hinsicht. Der ökonomische Kampf des jüdischen
Proletariats kann schon deshalb nicht sehr wirkungsvoll
sein, weil es in seiner Mehrzahl in den Endstadien der Pro-
duktion beschäftigt ist. Es steht tatsächlich in den Diensten
des mittleren und kleinen Kapitals und ist von der Ur-
produktion wie von denjenigen Industriezweigen, die für die
gesammte Volkswirtschaft von höchster Bedeutung sind,
ausgeschlossen. Darum kann sein Kampf auch keine erheb-
liche politische Bedeutung haben. So bleibt es in der Nach-
hut der Arbeiterbewegung.
Andererseits ist aber im jüdischen Proletariat eine ge-
waltige Energie aufgespeichert. Seine kulturelle Entwicke-
lung ist sehr vorgeschritten; aus der städtischen Bevölke-
rung hervorgegangen, ist es im Gegensatz zu dem übrigen
Proletariat, das vom Lande in die Stadt gekommen ist,
schon von vornherein viel revolutionärer und bedeutend
empfänglicher für die sozialistische Propaganda.
Jedoch erlaubt ihm die Unvollkommenheit seiner stra-
tegischen Basis keine volle Entfaltung seiner Kräfte und
hat im Gegenteil nur ungesunde Exzesse zur Folge: Phra-
seologie, machtloser Haß gegen die herrschende Ordnung,
da sein Kampf zu keinen erheblichen Erfolgen führt,
und Neigung zum Anarchismus: das sind alles Zeichen
einer ungesunden Entwickelung des jüdischen Proletariats.
„Der gefesselte Prometheus, der mit der ganzen Leiden-
schaft ohnmächtiger Empörung die Schwingen des Adlers
zu zerbrechen sucht, der langsam sein Herz zerfleischt —
das ist das Symbol des jüdischen Proletariats" 92 .
Es ist nun klar, daß der jüdische Proletarier, um seine
strategische Basis zu verbessern, zur Auswanderung greifen
muß. Ist für die breiten Massen der jüdischen Arbeits-
losen die Auswanderung überhaupt der einzige Weg, den
— 75 —
sie betreten können und müssen, so kann sich doch das
jüdische Proletariat auch noch in der alten Heimat eine
gewisse Zeit behaupten. Es fühlt wohl den inneren Wider-
spruch seiner Lage und hat das Bedürfnis, seine Lebens-
und Kampfesbedingungen zu verbessern, doch tritt dies
Bedürfnis nicht mit so unabweisbarer Dringlichkeit heran,
wie an die Arbeitslosen. Darum trägt die Auswanderungs-
politik des jüdischen Proletariats mehr den Stempel ruhiger
Bedächtigkeit; es hat mehr Zeit, zu überlegen. Es ist darum
berufen, in gemeinsamer Arbeit mit anderen Gruppen in die
Massenwanderungen des jüdischen Volkes eine Ordnung
und ein Ziel hineinzubringen.
Wir haben nun an der Hand der Borochoff' sehen
Untersuchung versucht, die Interessen verschiedener sozia-
ler Gruppen des jüdischen Volkes an der Auswanderung
festzustellen. Jetzt gehen wir zur Analyse der sozialen
Struktur der jüdischen überseeischen Auswanderung über,
um auf solche Weise zu erfahren, inwieweit unsere theore-
tischen Betrachtungen durch die Tatsachen bekräftigt
werden.
Es ist jedoch nötig, vorher einen kurzen Blick auf die
rechtliche und ökonomische Lage des jüdischen Volkes im
Hauptauswanderungslande, in Rußland, zu werfen.
Elftes Kapitel.
Die Lage der Juden in dem Hauptauswanderungs-
lande: in Rußland.
Vorbemerkung.
Es kann nicht die Aufgabe dieses Kapitels sein, die
Lage der Juden in Rußland erschöpfend zur Darstellung zu
bringen. Diese Lage nach allen Richtungen hin zu unter-
suchen, wäre eine Aufgabe für sich. Hier kann es sich mit-
hin nur darum handeln, das Wesentlichste mitzuteilen, —
und zwar unter dem Gesichtspunkte der Aus-
wanderung. Nur insoweit die eine oder die andere
Erscheinung im jüdischen Leben des Ostens in irgend einer
Beziehung zur Auswanderung steht, wird sie kürzer oder
— 76 —
ausführlicher untersucht« Darum Ist i l&rlich dafl d *
oder jenes gar nicht berührt wurde.
Auf die Darstellung der Lage der Juden in zwei
anderen Hauptausw mderungsländorn: in Rumänien und
Galizien, wurde aus dem Grunde verzichtet, weil die öko-
nomische Fintwickelung der Juden in letztgenannten Län-
dern im großen und ganzen, aber wohl gemerkt: nur im
großen und ganzen, der der russischen Juden gleich ist.
Wir haben schon gesehen, daß Rußland seine jüdische
Bevölkerung vornehmlich durch die Einverleibung Polens
bekommen hat. Die Zahl der Juden im russischen Reiche
betrug: 93
im Jahre absolut in % der im Jahre absolut in % der
Ges.-Bev. Ges.-Bev.
1836 1033 141 1897 5 215 805 4,2
1867 2 649 806 — 1905 6 045 690 4,05
Die rechtliche Lage der Juden in Rußland ist sehr
kompliziert geregelt, und wir brauchen in unserem Zu-
sammenhange nicht darauf näher einzugehen. Hier sei es
nur erwähnt, daß die Juden Rußlands nicht das Recht
haben, überall zu wohnen. Die geltenden Gesetze beschrän-
ken ihr Wohnrecht auf ein bestimmtes Gebiet, das , »Nieder-
lassungsgebiet", auch „Ansiedlungsrayon" genannt, be-
stehend aus 15 westlichen und südlichen Gouvernements.
wie auch aus den 10 Gouvernements des Königreichs Polen.
Der jüdische Ansiedlungsrayon umfaßt ein Gebiet von
944 707 qkm oder 1 / 2 - des ganzen russischen Territoriums.
Aber auch innerhalb dieses Ansiedlungsrayons dürfen die
Juden nur in den Städten und Städtchen wohnen, nicht aber
auf dem flachen Lande.
Von der Beschränkung der Freizügigkeit sind einzelne
bevorzugte Klassen der Juden ausgenommen. Hierher ge-
hören:
a) die Kaufleute erster Gilde, d. h. diejenigen, die eine
besonders große (jährlich etwa 1800 Mk.) Gewerbesteuer
zahlen und deren Zahl daher sehr klein ist;
— 77 —
b) Absolventen russischer Hochschulen. Die Zahl der
Juden, die an einer russischen Hochschule studieren dürfen,
ist wiederum beschränkt durch die sogen. „Prozentnonn ,
nach der die Zahl der jüdischen Studenten nicht mehr als
3 — 5 n / der Gesamtzahl betrafen darf. In den letzten Jah-
ren war die Immatrikulation von Juden an vielen russischen
Hochschulen überhaupt nicht möglich, da infolge der freien
Aufnahme in den ,, Freiheitsjahren" die Zahl der jüdischen
Studierenden den gesetzlichen Prozentsatz weit über-
schritten hat. Dies gilt auch für die nächste Zukunft;
c) Apotheker, Zahn- und Wundärzte und Hebammen;
d) gelernte Handwerker, die jedoch in Moskau, dem
Don'schenKosakengebiet undSibirien kein Wohnrecht haben.
Aber auch sonst ist die Freizügigkeit der Handwerker eine
recht problematische, da der Wohnortswechsel mit vielen
Schwierigkeiten verbunden ist. Von den letzteren seien einige
hervorgehoben: der Handwerker, der umzieht, gewinnt das
Heimatsrecht des neuen Wohnortes nicht und bleibt im Ver-
bände derjenigen Gemeinde, wo er früher ansässig war; er
muß jedes Jahr um einen neuen Reisepaß bei seiner Hei-
matsgemeinde nachsuchen, und nur auf Grund dieses Passes
hat er das Wohnrecht; die Gemeinde mißbraucht oft die
Abwesenheit des 1 landwerkers bei der Umlage von Steuern
und kann ihm die Erneuerung des Passes immer ver-
weigern 1 ". Ferner ist die Aufnahme in eine Zunft als
Lehrling oder Meister dadurch erschwert, daß sie von
Zunftvorständen abhängig ist, die kraft einer besonderen
Bestimmung ausschließlich aus Christen bestehen;
e) Soldaten, die vor der Einführung der allgemeinen
Wehrpflicht gedient haben, d. h. 25 Jahre; ihre Zahl ist
heute auf einzelne Personen zusammengeschrumpft.
Die örtliche Verteilung und Dichtigkeit der jüdischen
Bevölkerung Rußlands ist in verschiedenen Teilen des
russischen Reiches eine sehr verschiedene. 95,1" ,, aller
russischen Juden befinden sich im Ansiedlun. >n und
nur 4 f 9°/o außerhalb desselben w . Der Anteil der Juden
an der Gesamtbevölkerung schwankt daher sehr stark.
— 78 —
, .Während /.. B. im europäischen Rußland das Gouverne-
ment Kiew 433 728 Israeliten '"' zählt, hat das Gouverne-
ment Archangelsk nur 251 und die Gouvernements Wolo
und Olonetz nur je 403 israelitische Einwohner. Und der
Anteil der Israeliten an der Gesamtbevölkerung geht von
18,22% im Gouvernement Warschau und 17,49 , im Gou-
vernement Grodno herab zu 0,03% in den Gouvernements
Wologda und Wjatka" ° 7 . Die höchste Dichtigkeit weisen
die kleineren administrativen Bezirke (Ujesden) des An-
siedlungsrayons und ,,die relativ größte Dichtigkeit der
Ujesd Bjalostok auf, in dem die Israeliten 28,77% der Ge-
samtbevölkerung ausmachen" 98 .
Nach den neuesten Berechnungen " stellt sich die Zahl
und der prozentuale Anteil der Juden an der Gesamt-
bevölkerung für das Jahr 1905 folgendermaßen dar: Die
Zahl der Juden betrug
im europ. Rußland 4 406 063 = 4,03% d. Ges. -Bevölkerung
„ Königr. Polen 1 533 716 = 14,01% „
„ Kaukasus 65 888= 0,63% „
in Sibirien 40 443= 0, 6% „
„ Zentralasien 14 305 = 0,24% „ „
Demnach hat sich die Zahl der Juden im europäischen
Rußland im Jahre 1905, verglichen mit ihrer Zahl im Jahre
1897, vermindert, und zwar um 704 485 (5 110 548—
4 406 063) , im Königreich Polen dagegen vermehrt, und zwar
um 212 616 (1533 716—1321100). Dies ist zu erklären
durch die Binnenwanderung der Juden innerhalb des russi-
schen Reiches, welche die Richtung aus dem europäischen
Rußland in das polnische Gebiet hat. Diese Binnenwande-
rung dauerte auch in den folgenden Jahren fort. Wir haben
Angaben über den Stand der jüdischen Bevölkerung in Polen
bis zum Jahre 1908. Danach ,,ist die Zahl der jüdischen
Bevölkerung seit der allgemeinen Volkszählung von 1897 bis
zum Beginn des Jahres 1908 von 1321 100 auf 1 716 064,
also um 394 964 gestiegen, was im Verhältnis zur Bevölke-
rungszahl von 1897 eine Zunahme von 30% bedeutet; da-
nach übertrifft die Ziffer der tatsächlichen Zunahme der
Bevölkerung die der natürlichen fast um das Doppelte" 10 °.
Es fehlen leider jegliche Angaben über die soziale
— 79 —
Struktur dieser Binnenwanderung, die zu so starker Ver-
mehrung der jüdischen Bevölkerung Polens geführt hat und
die nicht einmal durch die Auswanderung aufgewogen wird;
jedoch ist wohl anzunehmen, daß die Binnenwanderer
hauptsächlich den niederen Schichten des Volkes angehören.
Die Ursachen dieser Binnenwanderung sind verschiedener
Art. Zuerst ist zu erwähnen, daß Polen zu den industrie-
reichsten Gegenden im russischen Reich gehört, was immer-
hin als ein Ansporn zur Einwanderung gelten kann: man
hofft sich irgendwie an der ökonomischen Entwickelung des
Landes beteiligen zu können. Ferner kommt noch ein psy-
chologisches Moment in Betracht. Gerade der Anfang des
20. Jahrhunderts (die Jahre 1903 und 1905) verzeichnet die
schlimmsten Unterdrückungen und Pogrome der russischen
Juden. Diese Pogrome, bei denen die Juden sich nicht
mehr, wie bei den früheren Niedermetzelungen, passiv ver-
hielten, sondern auf Mittel sannen, wie sie sich am besten
wehren könnten, riefen in der jüdischen Bevölkerung einen
instinktiven Drang nach engerem Zusammenschluß hervor.
Und da nun die Dichtigkeit der jüdischen Bevölkerung in
Polen die größte und ihr prozentualer Anteil an der Ge-
sa intbevölkerung auch der höchste ist, ist es wohl verständ-
lich, weshalb sich dort noch größere Massen der Juden kon-
zentriert haben. Außerdem haben die Juden Polens am
wenigsten mit der rein russischen Bevölkerung zu tun.
Die Statistik der Pogrome in Rußland kann uns noch
über eine Ursache der Binnenwanderung der Juden aus dem
europäischen Rußland oder richtiger: aus den übrigen Gou-
vernements des Ansiedlungsrayons nach Polen aufklären.
Während in ganz Rußland nur in den Oktobertagen 1905
690 Pogrome (darunter 666 im Ansicdlungsrayon) stattge-
funden haben, hatte Polen nicht ein einziges Pogrom zu ver-
zeichnen. Und überhaupt haben in Polen nur 6 Pogrome
stattgefunden, wobei eins ganz und gar von den Soldaten
ausgeführt wurde und drei ihrem Umfange nach höchst un-
bedeutend waren. Die jüdische Selbstwehr hat bei der Vor-
beugung der Pogrome eine große Rolle gespielt l01 .
Die allgemeine wirtschaftliche Krisis im russischen
Reiche, die nur von kurzen Zeiten des Aufblühens unter-
— 80 —
broclien war, hat vielleicht auch das ihriiR- /u dieser Hinr
Wanderung der Juden beigetragen. Man bedenke nur, d
die Zahl der russischen Arbeitslosen im letzten Jahrzehnt
ganz enorm gestiegen ist. „Die Frage der männlichen Ar-
beitslosigkeit gewinnt in Rußland immer akutere Bedeutung.
Schon im Jahre 1900 hatten nur 48" der Bauernbevölk* -
rung ausreichend Arbeitsgelegenheit, die übrigen 52 0/ be-
fanden sich im chronischen Zustand der halben resp.
vollständigen Arbeitslosigkeit. Sie fanden für ihre Ar-
beitskraft weder in dem Landbau noch in der Industrie
Verwendung. Seit jener Zeit ist ihre Zahl um Millionen
gestiegen" 102 .
Die ungleichmäßige Verteilung der Juden auf Stadt
und Land ist eine der anormalsten Erscheinungen im Leben
der russischen Juden. Mehr als die Hälfte der jüdischen
Bevölkerung Rußlands wohnt in den Städten, nämlich
2 631809 = 50,5 U / der gesamten jüdischen Bevölkerung.
„Die Juden bilden demnach eine städtische Bevölkerung
par excellence" 1()3 . Innerhalb des Ansiedlungsrayons stellt
sich der Anteil der Juden an der städtischen Bevölkerung
folgendermaßen dar: in Nordwestrußland bilden sie 52, 6 f '
der gesamten städtischen Bevölkerung, in Südwestrußland
40,6%, in Polen 37,7°/ und in Südrußland 27,9%. Außer-
halb des Ansiedlungsrayons ist der städtische Charakter der
jüdischen Bevölkerung noch stärker ausgeprägt: so macht
die jüdische städtische Bevölkerung im europäischen Ruß-
land (ohne Ansiedlungsrayon) 97°/ der gesamten jüdischen
Bevölkerung aus. —
Wir gehen nun zu der Analyse der sozialen Struktur
des jüdischen Volkes in Rußland über 104 . Nach der amt-
lichen Volkszählung von 1897 stellt sich die Berufsgliede-
rung der Juden in Rußland folgendermaßen dar:
81
Tabelle I.
Berufsgliederung der Juden in Rußland.
Berufsgruppe
Berufstätig
Männer
Frauen
Ein-
schließ-
lich An-
In % der
jüdischen
Bcvöl-
gehörigeo kerunß
Landwirtschaft 32 993
Gewerbe 467 890
Verkehrswesen 45 493
Handel 408 330
Dienstboten, Tagelöhner,
Privatbeamte ; 62 012
öffentl. Dienst, freie Berufe 66 874
Unproduktive und unbe-
stimmte Berufe .... 68 583
Militärdienst 53 195
4 380 179 400 | 3,55
87 339 1 793 937 35,43
465 201 027 3,98
66 650 1 956 852 38,65
113 738 , 334 827
5 040 264 683
47 755 278 095
— 54 277
6,61
5,22
5,49
1,07
1205 370 325 367 5 063 098 i 100,00
1 530 737
An erster Stelle steht somit der Handel, eine Er-
scheinung, die zwar nicht nur für das russische Judentum
eigentümlich ist, die aber angesichts des landwirtschaftlichen
Charakters von Rußland, wo die übrige Bevölkerung sich
mit dem Handel nicht viel beschäftigt, sehr an Bedeutung
gewinnt. So gehörten zu dem Handel im allgemeinen von
je 1000 (Selbständigen und Familienangehörigen) bei den
Juden: 78,9, dagegen bei den Großrussen nur 5,0, bei den
Polen 3,4 und bei den Deutschen 8,4 (bei der Gesamt-
bevölkerung 9,3). — Vom Gewerbe leben beinahe ebenso
viel Juden wie vom Handel: 35,43°,,, dagegen — und das
ist das Auffallendste — beschäftigen sich in der Landwirt-
schaft nur 3,557,, der Juden Rußlands.
Wir wollen nun die verschiedenen Gruppen im ein-
zelnen betrachten, und zwar in der Art, daß wir mit der
Landwirtschaft beginnen, nachher zum Handel übersehen,
uns dann den Gewerbetreibenden zuwenden und schließ-
lich uns mit der jüdischen Fabrik und der jüdischen Arbei-
terschaft beschäftigen. Und zwar etwas ausführlicher: denn
Wlad NX kaplun-Ko^an, Watulrrbvwi-^uugco, 6
— 82 —
in der eigentümlichen Entwickelung der jüdischen Industrie
liegt Unserer Meinung nach das Grundübel und die Grund-
ursache all der Anormalitäten im jüdischen Leben Ruß-
Lands, was jedoch des Näheren später auszuführen sein
wird. Wir schließen dann mit einer kurzen Betrachtung der
Lage der Angehörigen liberaler Berufe, derjenigen Gruppe,
die in Rußland mit dem Namen ,, Intelligenz" bezeichnet
wird und im geistigen Leben des Landes eine nicht zu unter-
schätzende Rolle spielt.
Den Kern der jüdischen Landwirtschaft
in Rußland bilden die Ackerbaukolonien, deren Zahl sich
im Jahre 1898 auf 296 belief. Es gab dort 10 550 Familien
gleich einer Gesamtbevölkerung von 63 342 Seelen, die über
ein Areal von 99 696 Desjatin (mehr als 100 000 Hektar)
verfügten. Die Entstehung dieser Kolonien fällt noch in die
Regierungszeit des Zaren Alexander I. (1801 — 1825) und
seines Nachfolgers Nikolaus I. (1825 — 1855), die mit den
Juden ihre Ländereien in Neurußland besiedeln wollten.
Später — in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts
— schlug die Stimmung jedoch um, und die jüdischen Acker-
bauer wurden unterdrückt; es wurden viele Verbote und
Beschränkungen erlassen, ja durch die „Lustrationskommis-
sionen" von 1872 wurden viele Juden ihres Grundbesitzes
einfach beraubt. Heute erfreuen sich die russischen Kolo-
nien der Nichtbeachtung von seiten der russischen Regie-
rung. Von der Jewish Colonisation Association (ICA)
wurden sie eifrig unterstützt. Im großen und ganzen ist
die Lage dieser Kolonien gut 105 .
Außerdem sind noch — nach der Enquete der ICA —
21 521 jüdische Personen in den verschiedenen Sonder-
zweigen der uneigentlichen Landwirtschaft
tätig, und zwar beschäftigen sich mit Gartenbau 1 1 299 Per-
sonen, mit Milchwirtschaft 7 454, mit Tabakbau 1 695, mit
Weinbau 780, mit Bienenzucht 200 und in den sonstigen
Kulturen 93. Die amtliche Statistik verzeichnet ziemlich
viele Juden, die sich in der Forstwirtschaft beschäftigen,
sodaß ,,die Juden in der Forstwirtschaft annähernd in einem
ihrem Anteil an der Bevölkerung gleichen Prozentsatze be-
teiligt sind" 106 . Darunter bilden die Mehrzahl die jüdi-
— 83 —
sehen Holzfäller. Außerdem ernährt noch die Vieh- und
Geflügelzucht 7 124, die Fischerei und Jagd 8 508 Juden;
nach der Enquete gibt es noch 4 624 jüdische Grundbesitzer
und Pächter.
Die große Mühe, die man darauf verwendet hat, einen
richtigen Bauernstand bei den Juden Rußlands ins Leben zu
rufen, ist bis jetzt erfolglos geblieben. Abgesehen davon, daß
der städtische Jude nicht unmittelbar zum rohen Ackerbau
übergehen kann, ist die Hebung der russischen
Bauernschaft die vornehmlichste Aufgabe der russischen
Wirtschaftspolitik, sodaß man an die Schaffung eines jüdi-
schen Bauernstandes nicht denken kann. Es kann sich da-
her nur darum handeln, die schon bestehenden Kolonien zu
erhalten und auf Abschaffung aller rechtlichen Bestim-
mungen, die ihre Entwicklung hemmen, hin zu arbeiten.
Die jüdischen Ackerbauer fühlen sich wirtschaftlich ziem-
lich sicher und haben keinen unmittelbaren Anlaß, auszu-
wandern. So ist, — um das schon gleich vorwegzunehmen,
— der Prozentsatz der Ackerbautreibenden an der Aus-
wanderung ein sehr kleiner. (Im Laufe von 8 Jahren
[1899 — 1906] bildeten die Ackerbautreibenden in der jüdi-
schen Einwanderung nach Amerika nur 0,67'7 lf)T ). Außer
dem fällt ihre Auswanderung unmittelbar in die Zeit nach
den Pogromen, so daß sie nicht eine dauernde, systemati-
sche, sondern nur eine zufällige Erscheinung in der jüdi-
schen Auswanderung bildet.
Vom Handel leben 38,65",,, der jüdischen Bevölke-
rung Rußlands. Nach der amtlichen Volkszählung (1897)
waren die Juden in verschiedenen Handelszweigen wie folgt
tätig (siehe Tabelle II p. 84). Aus der Tabelle ersehen wir,
daß die erste Stelle der Handel mit landwirtschaftlichen
Produkten einnimmt (11,59",,); zählen wir noch dazu den
Getreide- und Viehhandcl, der auch zur Landwirtschaft ge-
hört, so ergibt sich, daß nicht weniger als 894 507 Juden,
d. h. etwa 46"/,, aller überhaupt vom Handel lebenden Juden
diesem Handelszweige angehören. Bei dem landwirtschaft-
lichen Charakter des russischen Staat, D eigentlich eine
solch starke Entwickelung dieses Handelszweiges nicht
Wunder nehmen; trotzdem ist sie eine anormale Er-
84 —
Tabelle II.
Die Handelstätigkeit der Juden in Rußland.
Ein-
In
männlich
weiblich
Zu-
schließlich
jüdischen
sammen
An
hörigen
völkerun^
Kredit- u. Handels-
institute ....
2300
109
2409
7785
0,15
Getreidehandel . .
46483
2480
48963
221583
4,38
Viehhandel . . .
15743
172
15915
78614
1,55
Handel mit sonstigen
landwirtschaft-
lichen Produkten
115351
29715
145066
587310
H,59
Gewerbe u. Kleider
38460
5712
44172
158837
3,14
Leder, Pelzwaren
11774
777
12551
54704
1,08
Metalle, Maschinen,
Waffen ....
6308
562
6870
27826
0,55
Haushaltungsgegen -
stände ....
4810
1042
5852
21820
0.43
Bau- und Heizma-
terialien . . .
27050
662
27712
122068
2,41
Buchhandel, Kunst-,
Luxus- u. Kultur-
gegenstände . .
2809
299
3108
11158
0,22
Sonstige Handels-
zweige ....
6953
620
7573
27618
0,55
Hausierhandel . .
14827
5058
19885
69721
1,38
Restaurants, Hotels
8535
1971
10506
43206
0,85
Geistige Getränke .
10885
1334
12219
56662
1,12
Handel ohne nähere
Bezeichnung . .
80618
15568
96186
398366
7,87
Handelsvermittlung
15424
569
15993
69574
1.38
308300
66750
474950
1956852
33,65
scheinung, da die Juden nicht gleichmäßig über das ganze
Gebiet des russischen Reiches zerstreut, sondern in einige
wenige Gouvernements eingepfercht sind, wo noch nicht
einmal der Ackerbau, sondern die Industrie die ausschlag-
gebende Stellung im Wirtschaftsleben einnimmt. Somit
— 85 —
aber leidet auch der Handel mit den Produkten der Land-
wirtschaft stark an Überfüllung. Am besten steht noch der
Getreidehandel, der fast ausschließlich von den Juden be-
trieben wird.
Die zweite Stelle nimmt der Handel „ohne nähere Be-
stimmung" ein (7,877 ), d. h. der Handel mit solchen
Waren, die jede Woche, ja jeden Tag wechseln. Die
Handeltreibenden dieser Gruppe verfügen über keine ge-
nügenden Kapitalien, die es ihnen möglich machten, viel
Waren irgend einer Art anzukaufen, um einen kleinen
Laden zu eröffnen; sie handeln darum mit verschiedenen
Gegenständen, die sie irgendwo und irgendwie billig er-
standen haben. Haben sie sie gut verkauft, so können sie
ihr Geschäft etwas erweitern; doch macht die gegenseitige
Konkurrenz gute Geschäfte zu einem sehr seltenen Ding,
und so leben diese Händler meistens in sehr kümmerlichen
Verhältnissen.
Der Gewebe- und Kleiderhandel nimmt die dritte Stelle
ein (3,14°/ ). Geradein diesem Zweige herrscht der schärfste
Konkurrenzwettbewerb. — Den Handel mit Luxusartikeln,
Liebhaberwaren, teueren Galanteriewaren u. dgl. betreiben
die Juden sehr wenig (0,22 O/ {1 ) ; auch sind sie am Handel mit
Rohmaterialien und Halbfabrikaten verschwindend wenig
beteiligt.
Im übrigen ist der jüdische Handel viel entwickelter,
als es bei den russischen Händlern des Landes der Fall ist.
,,Die jüdischen Kaufleute beziehen ihre Waren möglichst
aus ersten Händen. Es geht viel lebhafter zu, die Konkur-
renz ist sehr entwickelt, das Kreditsystem ziemlich ausge-
dehnt. Der jüdische Kaufmann zieht den schnellen Umsatz
vor, wenn ihm auch nur ein minimaler Gewinn übrig
bleibt" 10 \ B 1 i o c h führt dies auf den Kapitalmangel der
Juden zurück. ,,Dcr jüdische Kaufmann sucht sein Ge-
schäft möglichst auszudehnen, er steckt sein ganzes Ver-
mögen in die Unternehmung hinein, er nützt alle Kredit-
möglichkeiten aus und macht von ihnen vollen Gebrauch,
so daß er oft nicht über Rescrvckapitalien verfügt. Er wird
daher manchmal genötigt, sogar unter den Selbstkosten zu
verkaufen, um die Möglichkeit zu haben, seinen Verpflich-
86
hingen nachzukommen" 10 °. Darum kommen auch Zahltn
Einstellungen bei den jüdischen Kaufleuten verhältni'
selten vor. Die kaufmännische Begabung, die der jüdische
Kaufmann an den Tag legt, ist erstaunlich, und was S o m -
b a r t über den jüdischen Händler in Galizien gesagt hat,
„daß an seinem winzigen Ladentischchen mehr kaufmänni-
scher Geist verbraucht wird, als in Westeuropa dazu gehört.
eine Aktiengesellschaft mit 30 Millionen Mark zu leiten" ll# l
kann auch auf den jüdisch-russischen Kaufmann angewendet
werden.
Die Zahl der jüdischen Großkaufleute ist nicht
groß, obgleich die Statistik 71 848 Personen angibt, die zum
Kaufmannsstande gehören, d. h. eine ziemlich große Ge-
werbesteuer bezahlen und mit ihren Familienangehörigen
in die Kaufmannsgilden eingetragen sind. Diese Eintragung
gewährt das Wohnrecht in ganz Rußland, v/eshalb nicht nur
Kaufleute, sondern auch viele Industrielle die Steuer be-
zahlen, um des bedeutungsvollen Rechts teilhaftig zu
werden. Auch tun dies nicht nur die Groß kaufleute.
,,Die Gildensteuer bedeutet für den Juden oft nur eine Be-
steuerung des Wohnrechts, liefert aber für den Umfang
seines Geschäftes nicht immer einen Beweis" m .
Der Geldhandel ist bei den Juden Rußlands verhält-
nismäßig wenig verbreitet und hat bei weitem nicht die Be-
deutung, welche er in Westeuropa besitzt.
Überblicken wir die Lage des jüdischen Handels in
Rußland, so drängt sich uns dreierlei auf, nämlich: 1. Über-
füllung, 2. zu starke, nicht immer den Handel fördernde
Konkurrenz und 3. Beschränkung der Gegenstände des
Handels auf Waren niederer Art und Gegenstände des un-
mittelbaren Verbrauchs. Abgesehen vom Getreidehandel be-
treiben die Juden vornehmlich den Kleinhandel; all die
Handelsartikel der jüdischen Händler werden in kleinen
Massen angekauft und sofort an den Konsumenten ab-
gesetzt.
Was die Entwickelungstendenzen des jüdischen Han-
dels in Rußland anbetrifft, so ist eine Besserung einstweilen
nicht zu erwarten. Solange die ökonomische Entwickelung
Rußlands auf verschiedene — hier nicht zu untersuchende
— 87 —
— Weise gehemmt wird und die rechtlichen Beschränkun-
gen hinsichtlich des Wohnrechts der Juden nicht aufgehoben
werden, ist auch das Eintreten besserer Zeiten für den jüdi-
schen Handel sehr unwahrscheinlich. Und doch ist es ge-
rade der jüdische Handel, der von der Gleichberechtigung
der Juden mit der übrigen Bevölkerung Rußlands am mei-
sten zu erwarten hat. Denn ein Bedürfnis nach einem guten
Kaufmannsstande wird sich in Rußland in der Zukunft noch
mächtig geltend machen, wobei der jüdische Händler mit
seiner hervorragenden kommerziellen Begabung trotz allem
den Konkurrenzkampf zu bestehen im Stande sein wird. Das
verstehen instinktiv die jüdischen Händler schon heute
sehr wohl: obwohl ihre Lage im großen und ganzen ziem-
lich schlecht ist, wandern sie nicht aus; ihr prozentualer
Anteil an der Emigration, verglichen mit ihrer Zahl im Aus-
wanderungslande, ist ein sehr geringer. Doch darüber wird
im nächsten Kapitel des Näheren auszuführen sein. —
Die Überfüllung des Handels ist zum Teil aus der
anormalen Entwickclung der jüdischen Gewerbe zu erklären.
Wir gehen darum im Folgenden zur Schilderung der Lage
des jüdischen Handwerks in Rußland über.
Wir haben schon gesehen, wie die Juden, die nach
Polen einwanderten, dort eine privilegierte Stellung ein-
nahmen. Sie haben sich dort auch selbständig organisiert,
und eine der dauerhaftesten Organisationen waren die ,,K a-
h a 1 s" — Selbstvcrwaltungskörpcrschaften, deren Entsteh-
ung noch ins 15. Jahrhundert fällt und die erst im Jahre
1844 aufgehoben wurden 112 . Das jüdische Handwerk schloß
sich dieser Organisation an, die alle jüdischen Privilegien
monopolisierte und darum auch die Pflicht hatte, sie zu ver-
fechten. So wurde unter der Ägide des Kahals die jüdische
Zunft geschaffen, die sich von der christlichen nur dadurch
unterschied, daß sie ein Teil des Kahals und von den all-
gemeinen Kahalinteresscn vollständig abhängig war.
Die Lage des jüdischen Handwerks war, solange es
noch fest organisiert und vor der fremden — hauptsächlich
polnisch-littauischen — wie vor der gegenseitigen Konkur-
88 -
renz geschützt war, eine verhältnismäßig gute. Das hat
sich verändert mit der Aufhebung der Kahalorganisa-
tion, als nunmehr die Handwerker ohne starke Organisa-
tion im freien Spiel der wirtschaftlichen Kräfte sich durch-
setzen mußten. Zwar vereinigen sie sich nach der Auf-
hebung der Zünfte in Chewra, d. h. Genossenschaften.
die jedoch keinen öffentlich-rechtlichen Charakter mehr
tragen, sondern nur freie Vereinigungen bilden; diese Ver-
eine sind aber nicht im Stande, das ganze Handwerk zu
organisieren, zumal bei ihnen nicht das wirtschaftliche, son-
dern hauptsächlich das religiöse und charitative Moment die
Hauptrolle spielt. Eine große Bedeutung im Leben der
jüdischen Handwerker haben sie nicht 113 .
Über die rechtliche Lage der jüdischen Handwerker in
Rußland haben wir schon am Anfange des Kapitels Einiges
erfahren. Die Verleihung des Rechts an Handwerker, ihren
Beruf frei in ganz Rußland auszuüben (1865), fällt gerade
in die Zeit, als in Rußland die ersten Ansätze zum Kapi-
talismus sich zeigten; Rußland — hauptsächlich das innere
Rußland — brauchte damals gelernte Arbeiter, wie Arbeiter
überhaupt. Die Motivierung des Gesetzgebers bei der Ver-
leihung des Wohnrechts spricht das ganz deutlich aus:
„Nicht nur sollte der Abzug zahlreicher Handwerker aus
dem Rayon, wo deren Zusammenpferchung mit christlichen
wie jüdischen Berufsgenossen durch die übergroße Konkur-
renz schwer geschädigt und den Arbeitslohn wie die Preise
auf ein Minimum herabgedrückt hatte, hierin eine Besserung
herbeiführen, sondern es sollte auch dem Mangel an Hand-
werkern in mehreren innerrussischen Gouvernements ab-
geholfen werden" 114 .
Als später in den russischen Städten infolge der
Bauernbefreiung sich größere Bauernmassen konzentriert
hatten, die nunmehr für den sich entwickelnden russischen
Kapitalismus eine eigene russische Arbeiterarmee bildeten
und aus ihrer Mitte auch das städtische russische Handwerk
hervorbrachten, wurde der jüdische Handwerker, der teue-
rer und unbequemer war, als der russische, überflüssig.
Außerdem lag es im direkten Interesse der russischen
Volkswirtschaft — aber auch der Regierung (politische Mo-
— 89 —
mente), — daß lieber der durch die Befreiung verarmte und
verschuldete " ' und schließlich in die Stadt gezogene Bauer
die Arbeit bekäme, ols der jüdische Handwerker, dem nun-
mehr der Abzug aus dem Ansiedlungsrayon möglichst er-
schwert wurde. So blieb das allgemeine Wohnrecht der
jüdischen Handwerker infolge der ökonomischen Entwicke-
lung Rußlands auf dem Papiere stehen, ja, es fing sogar die
direkte Vertreibung der jüdischen Handwerker aus einigen
Gebieten und Städten Rußlands an. (So aus Moskau im
Jahre 1891.)
Wir wenden uns nun der heutigen Lage der jüdischen
Handwerker zu.
Es gibt nach der Volkszählung von 1897 in Rußland
555 229 jüdische Gewerbetreibende, die mit ihren Familien-
angehörigen 1 793 937 = 35,43°/,, der gesamten jüdischen Be-
völkerung ausmachen. Mehr als eine halbe Million jüdi-
scher Gewerbetreibenden (93,3°/ ) sind im Ansiedlungs-
rayon konzentriert, wobei wiederum die Mehrzahl von ihnen
nicht auf dem Lande, sondern in Städten wohnt.
Aus der Tabelle III (p. 90) — nach der amtlichen Sta-
tistik — die uns über die Zahl und den prozentualen Anteil
der Juden an verschiedenen Gewerbearten im Ansiedlungs-
rayon Auskunft gibt, geht hervor, daß die Juden vornehm-
lich in den Endstadien der Produktion beschäftigt sind, d. h.
hauptsächlich Gebrauchsgegenstände verfertigen, die un-
mittelbar an den Konsumenten abgehen, während die Pro-
duktion der Produktionsmittel und etwa die Kohlenproduk-
tion für die Juden fast vollständig geschlossen sind.
Die Zahl der Handwerker nach der Enquete der ICA
belauft sich auf 500 986 Personen. Es gibt in 1 200 Orten
des Ansiedlungsrayons:
Männliche
Weibliche
Meister
Gesellen
Lehrlinge
Im ganzen
229485
115784
79169
424438
29911
24741
21893
765 IS
Summa
259396
140528
1010^2
1986
Doch ist in Wirklichkeit die Zahl der jüdischen Hand-
werker größer, da die Enquete nicht alle Handwerker der
— 90 —
Tabelle III.
Das Gewerbe im Ansiedlun^srayon.
c w c r
b e a r t e n
Zahl der Gewerbetreibenden
im Rayon
Verh.
Alle
Juden
der Juden zu
allen G
'. in ° o
5 338
31
0,6
49 836
975
2,0
40 007
2 804
7,0
2 533
225
8,9
25 729
3 200
12,4
41 464
5 187
12,5
49 154
8 541
17,4
173 000
33 200
19,1
193 471
36 911
19,1
189 499
40 082
21,2
17 031
3664
21,5
152 327
41359
27,2
19 083
6514
34.1
128 811
44 796
34,8
12 075
5 263
43,6
46 574
20 446
43 9
458 757
235 993
51,4
23 163
13 733
59,3
3 681
2313
62,9
7 875
5 240
66,5
10 331
7 597
73,5
Metallgießer
Erze und Gruben
Verschiedene
Wagen- und Schiffbau
Forstwesen und Forstgewerbe . . .
Verarbeitung von Mineralien ....
Körperpflege und Hygiene ....
Textilindustrie
Baugewerbe
Metallverarbeitung
Branntweinbrennerei und Bierbrauerei
Holzverarbeitung
Chemische Industrie
Nahrungs- und Genußmittel ....
Kunst- und Luxusgewerbe ....
Bearbeitung tierischer Produkte . .
Bekleidung
Polygraph. Gewerbe, Papier-Industrie
Sonstige Getränke und Gärungsstoffe
Instrumente, Apparate, Uhren . . .
Tabakindustrie .
1650 359 518 074 31,4
1 200 Orte berührt und sogar einige große Städte überhaupt
nicht in ihren Bericht gezogen hat.
Die Stellung dieser Handwerker in der Produktion wird
am besten durch die von M a r g o 1 i n 116 auf Grund der
Enquete der ICA aufgestellte Tabelle veranschaulicht. Sie
gibt Angaben über 25 Berufe, in denen 88,7°/ jüdischer
Handwerker tätig sind. (Siehe Tabelle IV, p. 91.)
Wiederum tritt uns die Erscheinung entgegen, daß ,,die
jüdischen Handwerker sich hauptsächlich mit der Verferti-
— 91 —
Tabelle IV.
Angaben über 25 Berufe, in denen 88,7% jüdischer
Handwerker gegliedert sind.
Vorstadien
der Produktion
Endstadien der Produktion
Prozentuales
\ trhiltaii zur
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Handwerkerzahl
Berufe
Prozentuale!
Verhältnis zur p .
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Hand* h kcr/ah!
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4.4
Metzger
i
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1
4,6
Bäcker
i
1,7
Weber
19,1
Schneider
—
—
6,5
Schneiderinnen
—
—
3,8
Weißnäherinnen
—
—
3,2
Kürschner
>
—
—
1,5
Strumpfwirker
—
—
1.2
Färber
1.4
Gerber
14,4
Schuhmacher
—
—
6,0
Tischler
—
—
2,3
Zimmerer
—
—
1,6
Maler
—
—
1,1
Schlosser
—
3,1
Schmiede
—
—
2,4
Klempner
—
—
1.3
Glaser
—
—
2,2
Ofensetzer
—
—
1,0
Sattler
—
—
1.4
Buchbinder
1.2
Tabakschneid.
1.0
Uhrmacher
—
—
1,1
Klavierstimmer
u. Musikant. ')
—
1,2
Friseure ')
Im ganzen 4,3
84,4
lumma
88,7"
1) Streng genommen darf man die Musikanten und Friseure nicht
zu den Handwerkern zählen, da ihre Tätigkeit in die Katei orie der
persönlichen Dienste gehört.
92
gung von Gebrauchsgegenständen beschäftigen und in den
Gewerben, die der Erzeugung von Produktionsmitteln
dienen, fast gar nicht vertreten sind" . . . daß .die Juden
diejenigen Gewerbe ausfüllen, die die Endstadien der Pro-
duktion bilden" 117 .
Eine besonders starke Beteiligung der jüdischen Hand-
werker an der Bekleidungsindustrie (nach der amtlichen
Statistik bilden sie 19,1 °/<> und nach der Enquete der ICA
25,6°/ aller jüdischen Handwerker) kann zum Teil dadurch
erklärt werden, daß der jüdische Handwerker oft nicht ge-
nug Mittel hat, um selbst Stoffe anzukaufen, während dieser
im Schneidergewerbe in vielen Fällen vom Besteller ge-
liefert wird. Dazu kommt, daß die Hauptabnehmerin de»-
Produkte des jüdischen Handwerks — die Bauernschaft —
der Erzeugnisse der Schneider am meisten bedarf. Und
außerdem läßt sich gerade im Schneidergewerbe die Heim-
arbeit am leichtesten durchführen. Damit kommen wir auf
die technische Organisation des jüdischen Handwerks zu
sprechen. Ihre Eigentümlichkeit besteht in dem Hinzu-
treten des Magazinunternehmers zwischen Handwerker und
Konsumenten. Der kleine jüdische Handwerker, der sich
den Modeschwankungen in der Stadt nicht gewachsen fühlt
und die differenzierten Bedürfnisse der Städter nicht mehr
befriedigen kann, gerät mehr und mehr in Abhängigkeit
vom Magazinunternehmer, d. h. vom handeltreibenden Ka-
pital. Der Magazinunternehmer kann die Lage des Marktes
besser übersehen, er kann auch den Modeschwankungen
besser folgen, er kann leichter schlechte Zeiten überstehen
— und schließlich sind die Produktionskosten für ihn ge-
ringer, als für den einzelnen Handwerker. Denn der Maga-
zinunternehmer — der Verleger — führte ins jüdische
Handwerk die Heimarbeit ein, die den Handwerker auf eine
niedrigere ökonomische Stufe herabdrückte und dem Ver-
leger das Produkt verbilligte. ,,Die Einschiebung des
Handelskapitals in die Organisation des Absatzes bildet den
ersten Grundstein im System der Heimarbeit, welches sich
immer mehr und mehr des jüdischen Handwerks bemäch-
tigt. Es besteht darin, daß die wirtschaftliche Leitung des
Betriebes sich in den Händen einiger kapitalistischer Unter-
— 93 —
nehmer konzentriert, die den Absatz der Handwerkserzeug-
nisse im großen Umfange organisieren, die Produktion aber
unter einer Masse zu Hause arbeitender kleiner Handwerker
zerstreut bleibt . . . Um die Arbeitsbedingungen noch vor-
teilhafter für sich zu gestalten, sucht der Magazinunter-
nehmer der großen Städte die Handwerker der Flecken in
die Hausindustrie hineinzuziehen, die infolge billiger
Lebensmittel im Stande sind, sich mit einem niedrigeren
Lohn zu begnügen. Dieselben bekommen vom Magazinunter-
nehmer Bestellungen durch die Vermittlung zahlreicher rei-
sender Kommissionäre. Es entsteht auf diese Weise eine
eigentümliche Industrieart, die in einigen großen Zentren
die Handwerkserzeugnisse Tausender in zahlreichen Orten
und Flecken zerstreuter Handwerker konzentriert und die
wirtschaftliche Leitung dieser Kollektivarbeit einer verhält-
nismäßig kleinen Kapitalistenzahl überläßt" ' |s .
Diese Hausarbeit hat die Selbständigkeit und Unab-
hängigkeit des jüdischen Handwerks zu nichte gemacht; sie
bemächtigte sich mehr als der Hälfte der jüdischen Hand-
werker (50,7 ( 7 () ) und verschlechterte gründlich ihre Lage.
Einzelne Handwerker haben ihre Selbständigkeit noch da-
durch bewahrt, daß sie zu Wanderhandwerkern wurden; so
sind im Ansiedlungsrayon das Lohnwerk oder die Stör ziem-
lich stark verbreitet. Nur bildet ein solcher Übergang gleich-
zeitig den, Übergang zu niederer Arbeit; die Erzeugnisse
eines solchen Wanderhandwerkers sind grob und plump; er
muß verstehen, sich den verschiedenen Bedürfnissen, die
allerdings nicht gerade übermäßig fein sind, anzupassen.
Sein Lohn bleibt darum dementsprechend gering.
Das Hauptproblem im Leben des jüdischen Handwerks
besteht jedoch nicht in der schlechten Lage dieser Wander-
handwerker, sondern in dem System der Heimarbeit. Daß
das Dazwischentreten des Magazinunternehmers die Lage
des jüdischen Handwerkers an einigen Orten bis zur Un-
erträglichkeit verschlechtert hat, wird wohl von allen —
abgesehen vielleicht von den Verlegern selbst — zugegeben.
So dauert der Arbeitstag des Schneiders in einigen Betrie-
ben 14 — 16 Stunden; der Verdienst eines Meisters beträgt
dabei nicht mehr als 125-150 Rubel jährlich und der des
Gesellen nicht mehr als 40 Kopeken täglich.
94 —
Doch hofft man auf die gute Zukunft des jüdischen
Handwerks, wobei man folgendermaßen argumentiert:
„Diese Umgestaltung (die durcli Hinzutreten des Handels-
kapitals und Begründung der Heimarbeit gekennzeichnet
wird) hätte dennoch keine so umfassende Bedeutung gehabt,
wenn nicht zugleich ein anderer tiefer Umschwung im jüdi-
schen Handwerk sich vollzogen hätte. Dieser Umschwung
bezieht sich auf die soziale Struktur der Konsumenten der
Handwerkserzeugnisse. Während des letzten Jahrzehnts
hat sich das jüdische Handwerk sozusagen demokratisiert,
eine Richtung nach den Bedürfnissen und Forderungen der
breiten Bevölkerungsmassen eingeschlagen, es hat sich zur
Produktion für den Massenkonsum umgewandelt" 119 . Nun
wird darauf hingewiesen, daß die nach Millionen zählenden
Bauern die Abnehmer für die Erzeugnisse des jüdischen —
wohl bemerkt: in der Hausindustrie kapitalistisch organi-
sierten — Handwerks sind, und daß folglich mit der Steige-
rung des bäuerlichen Wohlstandes sich die Nachfrage ver-
größert, ergo die Nachfrage nach jüdischen Handwerkern;
dadurch wird aber eine Verbesserung in seinen Existenz-
bedingungen eintreten. „Kein einziger Industriezweig hat
so sehr, wie gerade dieses jüdische Gewerbe, unter der
Finanzpolitik des ablebenden Regimes . . . gelitten, und
kein einziges Gewerbe in Rußland wird so sehr durch den
Sieg der neuen Prinzipien aufblühen" 120 .
Uns scheint diese Beweisführung nicht stichhaltig und
ihr Optimismus verfehlt. Denn, wenn die Lebensbedingun-
gen der russischen Bauernschaft sich verbessern und ihre
Kaufkraft sich vergrößert, wenn ferner die „neuen Prinzi-
pien" duchgeführt werden und die rechtliche Lage der
Juden in Rußland nicht mehr einen Ausnahmezustand bil-
den wird — dann wird gleichzeitig auch die ganze Volks-
wirtschaft Rußlands aufblühen und mit ihr die Textil- und
Schuhindustrie — Hauptzweige des jüdischen Handwerks
— die nunmehr den sicheren Untergang des jüdischen
Handwerks herbeiführen werden. Denn es ist sicher anzu-
nehmen, daß Rußland keine Ausnahme bilden wird: so wird
es dem jüdisch-russischen Handwerk ebenso ergehen, wie
es dem Handwerk in Westeuropa ergangen ist; d. h. es wird
— 95 —
nicht im Stande sein, der Konkurrenz des Maschinen-
betriebes Stand zu halten. Besonders gilt das von dem Be-
kleidungsgewerbe, das die Hauptmasse der jüdischen Hand-
werker beschäftigt. Es ist doch bekannt, daß gerade in
diesem Zweige die Zahl der Handwerksbetriebe zurückgeht.
So betrug die Zahl der Hauptbetriebe bei den Schneidern
in Deutschland 121
im Jahre 1882 211 603
„ 1895 265 413
„ 1907 257 556.
Die Zahl der Hauptbetriebe bei den Schuhmachern betrug
im Jahre 1882 247 779
„ 1895 237 160
„ 1907 181 474.
Daß „Rußland das einzige Land ist, das bis jetzt keine
Blüte des Handwerks gekannt hat" 1 ' 22 1 beweist nicht viel.
Muß denn Rußland diese Blüte unbedingt noch erleben?
Besteht die Eigentümlichkeit junger Nationen, die erst spä-
ter in den Kreis der Kulturvölker eintreten, nicht gerade
darin, daß sie nicht all das durchmachen müssen, was ältere
Völker durchgemacht haben, kurz: daß sie die Erfahrung
der älteren Völker akzeptieren? Die jüngeren Völker über-
springen manche Entwickelungsphasen und gehen direkt zu
höheren Produktionsmethoden über. Ein Beispiel für ein
solches ,, Überspringen" haben wir schon in der Tatsache,
daß die russische Textilindustrie sich von vornherein in den
Dörfern festsetzt und die Stadt meidet — ohne den ,, Exo-
dus" durchzumachen, den die Industrie in Westeuropa an-
getreten hat. Doch wird diese Standortsfrage der russi-
schen Industrie noch unten ausführlicher besprochen
werden.
Daß die Lage der in der Hausindustrie kapitalistisch
organisierten jüdischen Handwerker durch die sozial-poli-
tische Einwirkung gebessert werden kann, soll freilich nicht
geleugnet werden. Doch darf man von solchen sozial-poli-
tischen Maßnahmen nicht allzuviel erwarten; es ist doch
allzubekannt, wie solche Maßnahmen gerade auf dem Ge-
biete der Hausindustrie schwer durchführbar sind.
Halten wir fest: der jüdische Handwerker hat durch
— % —
das Dazwischentreten des Handelskapital! (des M.'igazin-
unternehincrs, des Verlegers) und durch die Einführung der
Heimarbeit seine Selbständigkeit völlig verloren. Seine öko-
nomische Existenz hat sich gründlich verschlechtert, wobei
es, ebenso wie der jüdische Handel, stark unter Überfüllung
leidet. Mit dem in der Zukunft sicher zu erwartenden Auf-
blühen der russischen Landwirtschaft und Industrie wird
sich seine Lage höchstwahrscheinlich noch verschlechtern:
denn mit dem Fortschritt der Technik in der gesamten Pro-
duktion des Landes wird es womöglich noch die Absatz-
märkte verlieren, die es einstweilen innehat.
Es ist nur verständlich, daß der jüdische Handwerker,
der so zum Heimarbeiter herabsinkt, am meisten an der
Auswanderung interessiert ist. Er füllt auch in einem sehr
hohen Prozentsatze die Reihen der jüdischen Auswanderer.
Die Verwandlung des jüdischen Handwerkers in einen
Heimarbeiter ist eigentlich kein natürlicher Vorgang; in West-
europa haben wir meistens einen anderen Prozeß beobachtet,
nämlich die Verwandlung der Handwerker in Industrie-
arbeiter. Und dieser Vorgang wäre der natürliche auch in
Rußland gewesen, wenn nicht die Entwickelung der jüdi-
schen Volkswirtschaft in Rußland einige Eigentümlichkeiten
aufwiese, die unserer Meinung nach die Grundursache all
der Anormalitäten im Leben der russischen Juden bilden.
Diese Grundursache — dieses Grundübel — besteht in
der gehemmten Entwickelung der jüdischen Fabrik, in der
daraus folgenden Rückständigkeit ihrer Produktionsmetho-
den und in den Hindernissen, die der Proletarisierung der
jüdischen Arbeitermassen entgegenstehen.
Wir wenden uns der jüdischen Fabrik zu.
Tabelle V (siehe p. 97) gibt uns eine lehrreiche Über-
sicht über die Verteilung der jüdischen und nicht jüdischen
Fabriken im Ansiedlungsrayon, wobei der letztere nach der
Höhe der ökonomischen Entwickelung und der Art der Pro-
duktion in drei Gebiete eingeteilt ist.
Im nordwestlichen Rayon, der wirtschaftlich, abgesehen
vom Gouvernement Grodno, sehr zurückgeblieben ist, sind
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die Fabriken mit jüdischen wie nichtjüdischen Inhabern
relativ klein und die Differenz zwischen ihnen nicht groß.
Die Zahl der jüdischen Fabriken bildet 51 "l ()1 die Zahl der
in ihnen beschäftigten Arbeiter 58" ■,,, der Wert der in dieser,
Fabriken hergestellten Produkte 47,6% des Gesamtproduk-
tes. Doch ist der Durchschnittswert der Produktion (in
Rubeln) in einer nichtjüdischen Fabrik 24 460 und in einer
jüdischen nur 21 370. Die Differenz ist zwar nicht groß,
zeigt aber klar, daß auch in diesem Rayon die jüdische
Fabrik hinter der nichtjüdischen zurücksteht.
Im südwestlichen Rayon, wo die Industrie viel ent-
wickelter ist und der Großbetrieb vorherrscht, ist der Unter-
schied zwischen einer jüdischen und nichtjüdischen Fabrik
ein viel größerer. Die Zahl der jüdischen Fabriken bildet
nur 33,9%, die Zahl der in ihnen beschäftigten Arbeiter
25,9%, der Wert der in diesen Fabriken hergestellten Pro-
dukte 27,0% des Gesamtproduktes; während der Durch-
schnittswert der Produktion in einer nicht jüdischen Fabrik
sich auf 52 200 R. beläuft, erreicht er in einer jüdischen
Fabrik nur die Höhe von 37 600 Rubel.
Die Differenz wird eine ganz gewaltige im südlichen
Rayon, wo der Großbetrieb durchaus vorherrscht und die
Metallverarbeitung die erste Stelle einnimmt. Hier ist der
Prozentsatz der jüdischen Fabriken bedeutend kleiner:
23,9%. Noch schlimmer steht es mit der Zahl der in ihnen
beschäftigten Arbeiter: sie bilden nur 7,0% der gesamten
Arbeiterschaft. Der Wert der von den jüdischen Fabriken
hergestellten Produkte bildet nur 10% des Gesamtproduk-
tes. Während der Durchschnittswert der Produktion in
einer nicht jüdischen Fabrik 132 600 Rub. beträgt, erreicht
der der jüdischen Fabrik nur die Summe von 47 000 Rub.
Man kann sagen: je größer der Betrieb wird, und je
mehr sich der Gegenstand der Industrie der Urproduktion
nähert, desto kleiner wird der Anteil der jüdischen Fabrik
an der gesamten Produktion. Das ist die Schlußfolgerung,
die uns die Statistik unerbittlich aufzwingt 123 .
Wir unterlassen hier die nähere Beschreibung der jüdi-
schen Industrie. Es sei nur noch ganz kurz erwähnt, daß
die Juden im nordwestlichen Rayon, der sehr waldreich ist,
99
sich ziemlich viel mit dem Holzgeschäft befassen. Die Säge-
mühlen befinden sich meistens in jüdischem Besitz. — In
anderen Gebieten bildet die Kornmühle den Gegenstand
vieler jüdischer Unternehmungen; die Windmühle und
Wassermühle sind am meisten verbreitet, im südlichen
Rayon kommt die Dampfmühle hinzu. — An der Zucker-
industrie beteiligt sich das jüdische Kapital in einem
sehr hohen Maße, ebenso an der Tabakverarbeitung. — In
Polen beschäftigt sich das jüdische Kapital natürlich haupt-
sächlich in der Textilindustrie; jedoch stehen die jüdischen
Fabriken, was die Technik und die Größe des Betriebes an-
betrifft, auf einer sehr niedrigen Stufe. —
Was ist die Ursache dieser unvollkommenen Entwicke-
lung der jüdischen Fabrik? — Das ist eine der Kardinal-
fragen des jüdischen Lebens.
Die Regierungskommission, die im Jahre 1883 eingesetzt
wurde, als man die Revision der Judengesetzgebung beab-
sichtigte, stellte den Kapitalmangel als die Ursache der be-
sprochenen Erscheinung fest. ,,Der verhältnismäßig kleinere
Umsatz der jüdischen Fabriken erklärt sich dadurch, daß
die Juden nicht über ausreichende Kapitalien verfügen, die
zu einem Großunternehmen nötig sind."
Die Erklärung trifft im großen und ganzen zu, ist aber
nicht ausreichend. Es ist richtig, daß die Juden keine ge-
nügende Kapitalien haben, die es ermöglichten, von vorn-
herein einen Großbetrieb einzuführen. Doch dreht sich die
Sache viel mehr um die Frage, warum die Juden, wenn sie,
durch Kapitalmangel gezwungen, klein anfangen, es nicht
fertig bringen, den Betrieb zu erweitern, sich auf eine höhere
industrielle Stufe emporzuarbeiten? Es kommt nicht so
sehr auf den Anfang, auf die Gründung einer Fabrik an, als
vielmehr auf ihre Entwickeln ng. Daß die jüdischen
Fabriken mit Verlust arbeiten, ist nicht anzunehmen, sodaß
etwa die schlechte Rentabilität des Unternehmens seine Ver-
größerung hinderte. Vielmehr sind hier noch andere Mo-
mente zu berücksichtigen.
Blioch führt die Rückständigkeit der jüdischen
Unternehmungen auf psychologische Motive zurück. ,,Dic
jüdischen Fabriken werden nicht massiv gebaut, leicht und
100
flüchtig) als wären sie nur für kurze Zeit bestimmt. Zum
Teil erklärt es sich dadurch, daß bei der rechtlichen Un-
sicherheit, in der sich die Juden befinden, sie sich nicht
trauen, etwas Festes, Dauerhaftes zu unternehmen, indem
sie der soliden Unternehmung die unruhige Handelstätigkeit
vorziehen" 124 .
Diese Erklärung ist jedoch mehr subjektiven Charak-
ters, indem sie den freien Entschluß jedes einzelnen Unter-
nehmers in Betracht zieht, der sich nicht entschließen kann,
den Betrieb auszudehnen. Es scheint aber, daß es sich dabei
nicht nur darum handelt, daß der jüdische Unternehmer, sei-
ner rechtlichen Unsicherheit sich bewußt, absichtlich nicht
zur Großindustrie, die höhere Kapitalanlagen erfordert,
übergehen will, sondern daß er zu diesem Übergange vom
Klein- zum Großbetriebe schlechterdings nicht im
Stande ist, daß er diesen Übergang nicht vollziehen
kann. Und daß er dies nicht kann, ist eben die Folge sei-
ner Konkurrenz mit dem einheimischen Kapitalisten. Der
letztere setzt sich leichter als der jüdische durch.
Aber auch die Zahl der jüdischen Fabrikbesitzer spielt
eine gewisse Rolle. Die Juden sind ziemlich stark an einem
Orte — in den Städten — konzentriert, wobei sehr viele, die
über etwas Kapital verfügen, sich auf dem Gebiete der In-
dustrie versuchen; es entsteht eine erbitterte Konkurrenz
zwischen den jüdischen Unternehmern selbst, die keinen
größeren Aufschwung Einzelner aufkommen läßt: daraus
erklärt sich, warum die Juden Bjalostoks 90% aller Textil-
fabrikanten bilden, aber alle auch kleinere Betriebe haben,
während einige reiche Deutsche, mit nötigen Kenntnissen
und Erfahrungen ausgestattet, alle Großunternehmungen
besitzen. Es ist dabei allerdings noch der Umstand zu be-
rücksichtigen, daß „viele Juden infolge der Bildungs-
beschränkungen nicht das erforderliche Verständnis für
den technischen und ökonomischen Fortschritt entgegen-
bringen" 12B .
Daß mit dem Wegfallen dieser Beschränkungen und
überhaupt mit der Gleichstellung der Juden, die ökonomi-
sche Position jüdischer Kapitalisten sich verbessern würde,
kann natürlich nicht geleugnet werden. Und trotzdem
- 101 —
scheint es, daß tiefgehende Änderungen dadurch nicht her-
beigeführt würden, zumal zu der Zeit die einheimische Indu-
strie sich so stark entwickelt haben und den Markt so be-
herrschen wird, daß die Konkurrenz mit ihr schon von vorn-
herein ziemlich schwer, ja aussichtslos sein wird. Schon
heute hat z. B. die Moskau-Wladimirer Baumwollindustrie
den Vorrang vor der Lodzer Industrie. Das jüdische Kapi-
tal aber kann sich in diesen Gebieten gar nicht betätigen, da
die Juden in den erwähnten Gouvernements kein Wohnrecht
haben. Es ist deshalb höchstwahrscheinlich, daß das jüdi-
sche Kapital, das von der Großindustrie ausgeschlossen ist,
sich mehr und mehr auf den Geldhandel verlegen wird.
Zu all dem kommt noch schließlich ein weiteres Mo-
ment hinzu, das bei der ganzen Betrachtung nicht stark ge-
nug betont werden kann, nämlich, daß die Entwicke-
lung der jüdischen Industrie aufs engste
mit den Geschicken der jüdischen Ar-
beiterschaft verknüpft ist. Nun ist aber d i e
Industrialisierung der jüdischen Arbei-
ter stark gehemmt — und so führt uns die Betrach-
tung der jüdischen Fabrik unmittelbar zu der der Lage der
jüdischen Arbeiterschaft.
Nach der Volkszählung vom Jahre 1897 gibt es in Ruß-
land 175 000 Männer und Frauen, die die jüdische Arbeiter-
masse bilden. Darunter gibt es über 100 000 Tagelöhner
(Hauptberufe: Personen- und Lastführer 32 079, Gepäck-
und sonstige Träger 32 528, Wasserführer und -Träger,
Holzförderer, Holzhauer und -Säger, Pflaster-, Erdarbeiter,
Lumpenarbeiter und Klosettreiniger 20 392); der Rest steht
in häuslichen Diensten.
Tabelle VI (nach den Erhebungen der ICA) gibt Aus-
kunft über die Zahl der jüdischen Industriearbeiter. Es
sind deren im ganzen Ansicdlungsrayon nur 4 6 3 13. Zäh-
len wir dazu noch die Orte, die von der Enquete der ICA
nicht berührt wurden, so ergibt sich die runde Zahl von
50 000 jüdischen Arbeitern. Diese Zahl ist um so auffallen-
der, als gerade die Gouvernements des Ansiedlungsravnns
zu den industriell entwickelten Gebieten Rußlands gehören.
Die geringe Anteilnahme der Juden an dem Industrieprole-
— 102 —
Tabelle VI.
Zahl der jüdischen Arbeiter.
Gouvernements
Zahl der
jüdischen
Arbeiter
Zahl der
jüdischen
Arb<
a) in Kronpolen :
Warschau ....
Kaiisch
Kelzi
Zomscha ....
Zublin
Pctrokowo ....
Plozk
Radom
Suwalki
Sedlezk
4 181
670
164
439
1 389
3 119
246
405
1 196
471
12 380
b) im nordwestlichen Gebiet :
Wilna ,
Witebsk
Grodno
Kowno
Minsk
Mohilew
2 407
2 525
10 119
1402
4 409
1417
c) im südwestlichen Geb:
Wolynien 1941
Kiew 2 430
Podolien 1 528
Poltawa 1 275
Tschernigow .... 416
9 596
d) im südlichen Gebiet:
Bessarabien . . .
Ekaterinoslaw . .
Taurien
e) im ganzen Ansiedlungsrayon
1 045
626
387
2 058
Kronpolen . . .
nordwestl. Gebiet
südwestl. Gebiet
südl. Gebiet . .
22 279
12 380
22 279
9 596
2 058
46313
tariat erscheint jedoch noch anormaler, wenn wir beachten,
daß die Juden vornehmlich zur städtischen Bevölkerung
gehören, bei der der Prozentsatz der Industriearbeiter ein
größerer zu sein pflegt. Wenn man das Verhältnis zwischen
der Zahl der jüdischen Industriearbeiter zu der jüdischen
städtischen Bevölkerung mit demselben Verhältnis zwischen
der Zahl der nichtjüdischen Industriearbeiter zu der nicht-
jüdischen städtischen Bevölkerung vergleicht, so ergibt sich,
daß es bei den Juden 13 mal so wenig Industriearbeiter gibt,
wie bei den Nicht Juden. Darum müßte es eigentlich statt
50 000 — 700 000 jüdische Industriearbeiter geben 126 , —
und dann hätten vielleicht der jüdische (Klein-) Handel und
— 103 —
das jüdische Handwerk nicht unter der verhängnisvollen
Überfüllung zu leiden.
Jedoch bildet die zahlenmäßig geringe Anteilnahme
der jüdischen Arbeitskraft an der Industrie Rußlands nicht
die einzige Anormalität im wirtschaftlichen Leben der jüdi-
schen Massen des Ostens; es kommt noch dazu etwas weit
Schlimmeres, nämlich, daß die jüdischen Arbeiter — eben-
so wie die jüdische Industrie — hauptsächlich in den End-
stadien der Produktion beschäftigt sind. Die von M a r g o -
1 i n aufgestellte Tabelle beweist dies am besten. (Siehe
Tabelle VII.)
Tabelle VII.
Das prozentuale Verhältnis der jüdischen Arbeiter zur
gesamten Arbeiterzahl in jeder einzelnen Fabrikindustrie
des Ansiedlungsrayons außer Polen.
Produktions/.w»
Süden
Endstadien
\ landschuhproduktion .
Zündholzproduktion
Seifenfabrikation ....
Knopfverferti^unß ....
Bonbonfabrikation ....
Bier- und Metbrauerei
Weinbrauerei
Vor Stadien
Borstenfabrikation ....
Tabakfabrikation ....
Graupenfabrikation
Gerberei
Wollspinnerei
Mühlen
Zicßclfabrikation ....
Wollweberei
Kachelindustrie
rmühlen
Produktions mitte'
Gußeisenindustric ....
Maschincnindustric ....
Drahtindustrie
100
95,2
.84,7
84,2
62,4
50,1
25,4
96.8
92,1
80.8
64.6
57,7
57,5
31,8
31,8
18,3
14,9
■\2
2,8
100
12
81,1
100
36,5
4,2
78,4
80,3
45,8
34,6
8,5
18.3
15,2
63,3
34,4
21,4
56,4
68
27,3
3,0
30,1
0,7
— 104 —
Man sieht daraus, „daß die jüdischen Arheiter einen
vorwiegenden und fast ausschließlichen Anteil an den Knd-
stadien des Produktionsprozesses nehmen, während ihre
Teilnahme an der Produktion in dem Maße ihrer Annähe-
rung an die Anfangsstadien der Produktion rapide abnimmt.
Während in den Handschuh-, Zündholz-, Knopf-, Seifen-,
Graupen- und anderen Fabriken, die der Verfertigung von
Genußgütern dienen, der Prozentsatz der jüdischen Arbei-
ter überall 80% übertrifft und mancherorts sogar 100 er-
reicht, sinkt die Teilnahme der jüdischen Arbeiter an der
Gußeisen-, Maschinen- und Drahtindustrie bis auf 0,7 oder
0,0% herab" 127 .
Nun wächst aber mit fortschreitender kapitalistischer
Entwickelung die Zahl derjenigen Unternehmungen, die der
Erzeugung von Produktionsmitteln gewidmet sind (M a r x),
so daß der Prozentsatz der jüdischen Arbeiter an der ge-
samten Arbeiterschaft unvermeidlich sinken wird.
Betrachten wir ferner die Fabriken mit den jüdischen
Arbeitern näher, so fällt uns die merkwürdige Erscheinung
auf, daß die Juden vornehmlich in den Betrieben arbeiten,
wo die Technik am unentwickeltsten ist, wo nicht der Dampf
und die Maschine, sondern die Handarbeit vorherrschen,
während die Fabriken, die eine höhere Technik und voll-
kommenere Produktionsmethoden aufweisen, ausschließlich
christliche Arbeiter beschäftigen. Besonders stark merkt
man diese eigentümliche Arbeitsteilung in den Webereien,
und zwar in den Industrierayons von Bjalostok und Lodz.
Hier sind etwa 8000 jüdische Weber konzentriert. ,,Sie
arbeiten fast nur an Handstühlen. Die Zahl der Juden, die
an mechanischen Stühlen beschäftigt sind, ist sehr unbedeu-
tend" 128 . Dies kann man zum Teil dadurch erklären, daß
die Juden bei der Einführung der allgemeinen Sonntagsruhe,
die im Interesse des einheitlichen Produktionsprozesses für
alle Arbeiter festgelegt wurde, fest an ihrer üblichen Sams-
tagsruhe hielten, weshalb sie aus der Fabrik ausgeschlossen
wurden. Jedoch ist diese Ursache nicht die einzige, zumal
die Juden sich später bereit fanden, auch am Samstag zu
arbeiten. Jedenfalls täten sie dies lieber, als auswandern.
Und daß sie trotzdem auswandern, beweist nur, daß die
— 105 —
Ursachen dieser merkwürdigen Zurück- und Verdrängung
der jüdischen Arbeitskraft viel tiefer liegen. Inzwischen
aber hat sich die Anschauung, daß die jüdischen Arbeiter
nur in technisch rückständigen Betrieben beschäftigt wer-
den dürfen, so sehr, sogar bei der Masse der Arbeiterschaft,
befestigt, daß die christlichen Arbeiter einer jüdischen Fa-
brik in Polen den Streik proklamierten, weil die jüdischen
Arbeiter nicht bei der Einführung des Dampfes und des
mechanischen Betriebes entlassen wurden; sie haben nicht
früher die Arbeit aufgenommen, bis ihr Wille erfüllt wurde.
„In dem Maße, wie die Handarbeit durch die mechanische
Kraft ersetzt wird, scheidet der jüdische Arbeiter aus der
Fabrik aus" 120 .
Da nun, unserer Meinung nach, die gehemmte Entwicke-
lung der jüdischen Fabrik und die Nichtindustrialisierung
der jüdischen Arbeitermassen das größte, das Grundübel
im wirtschaftlichen Leben der Juden Rußlands bilden, wollen
wir den Ursachen der letzteren Erscheinung genauer nach-
gehen. Dabei sehen wir von der simplen und schon ziem-
lich abgedroschenen Wahrheit ab, daß das beschränkte
Wohnrecht auch ungünstig auf die Lebensbedingungen der
jüdischen Arbcitcrmasscn einwirkt. Es ist wohl anzunehmen,
daß bei unbeschränktem Wohnrecht es etwas mehr jüdische
Industriearbeiter geben würde. Aber es wäre völlig ver-
kehrt, in dieser rechtlichen Beschränkung die einzige und
alleinige Ursache zu suchen, zumal auch in den Gebieten,
wo die Juden das Wohnrecht haben, und wo die Industrie
auch sehr entwickelt ist, sie nichtsdestoweniger keine An-
stellung als Industriearbeiter finden.
Die Ursachen sind vielmehr anderer Art. Zuerst kommt
in Betracht, daß der jüdische Arbeiter mehr Bedürfnisse
hat, als der russische, dessen Lebensansprüche sehr minimal
sind; deshalb kann der Jude mit ihm schlecht konkurrieren.
Die größeren Bedürfnisse des jüdischen Arbeiters entsprin-
gen dem Umstände, daß er ein Stadtbewohner ist, dessen
Ansprüche immer größer zu sein pflegen, als die eines in die
Stadt gezogenen Bauern inn . Mit der Eigenschaft des jüdi-
schen Arbeiters als Stadtbewohner hängt ferner zusammen,
daß er, indem er seine Arbeitskraft verkauft, nicht nur an
— 106 —
sich, sondern auch an seine Familie denken muß. Darum be-
stimmt sich der Lohn des jüdischen Arbeiters nicht nur
durch das, was er für seinen eigenen Unterhalt nötig hat,
sondern dadurch, was er zum Unterhalt seiner ganzen Fa-
milie braucht. Der russische Arbeiter aber, der allein auf
dem Arbeitsmarkte erscheint, — da seine Familie auf dem
Lande geblieben ist, wo sie sich schon selbst ernährt, — kann
sich mit wenigem begnügen. Aber nicht nur, daß der Jude
eine Familie besitzt, die er zu ernähren hat, muß hier be-
rücksichtigt werden: auch das ganze Verhältnis zwischen
Arbeitsfähigen und Nichtarbeitern ist bei den Juden
sehr ungünstig. So ergibt sich aus der Statistik der jü-
dischen Bevölkerung in Rußland, ,,daß je 1000 Israe-
liten gegenüber den Orthodoxen etwa 17, gegenüber den
Katholiken etwa 23, den Mohamedanem etwa 30 und gegen-
über den Lutheranern sogar etwa 60 Personen mehr unter
sich haben, deren Unterhalt den übrigen zur Last fällt" 131 .
So beträgt für das ganze Reich der Prozentsatz der männ-
lichen Arbeitsfähigen bei den Juden 42,4, bei den Russen
44,4, bei der Gesamtbevölkerung 44,9. Auch die Spezial-
untersuchungen bestätigen dieses ungünstige Verhältnis. In
der Stadt Dorpat 132 entfallen
Auf 100 Erwachsene
beiderlei Geschlechts
|
Deutsche Russen Esten Juden
Halbarbeiter ......
51,7 57,5
18,9 13,4
29,2 28,5
53,0 48,0
15,7 15,3
31.0 36.7
Auf 100 Arbeiter entfallen
41,4 40,2
45,1 58.1
Daß die jüdischen Arbeiterfamilien unter diesen Ver-
hältnissen auch zu leiden haben, ist natürlich klar.
Der russische Arbeiter hat mithin einen ganz erheb-
lichen Vorzug vor dem jüdischen Arbeiter im ökonomischen
Kampf um den Arbeitsplatz. Aber seine günstigere Stel-
lung wird noch dadurch erhöht, daß er nicht immer wie der
jüdische Arbeiter in der Stadt wohnt, sondern meistens noch
ein Hinterland hat, ein Stückchen Land, das während seiner
— 107 —
Abwesenheit von seinen Familienangehörigen bewirtschaftet
wird, und wo er in der Not immerhin eine Beschäf-
tigung finden kann. Die Verbindung des russischen Arbei-
ters mit dem flachen Lande ist eine sehr große. Seine Fa-
milie hat er selten in der Stadt, sondern meistens auf dem
Lande. In einer Untersuchung über die „Haushaltungs-
budgets Petersburger Arbeiter" weist S. Prokopo-
witsch nach, daß für die Mehrzahl der Petersburger Ar-
beiter die Familie ein unerreichbarer Luxus ist, daß ein
Bauer aber, der nach Petersburg kommt, um Arbeit zu
suchen, selten eine Familie gründet. ,,Dic Reihen des Prole-
tariats werden deshalb durch Ankömmlinge aus dem Dorfe
ergänzt. In der Regel wird der russische Proletarier nicht
in der Arbeiterfamilie, nicht in der Stadt, nicht auf der Fa-
brik, sondern in der bäuerlichen Familie auf dem Lande er-
zogen" 133 . Auch die Verteilung der Streiks nach Jahres-
zeiten beweist den Zusammenhang des russischen Arbeiters
mit dem flachen Lande: ,,Es ist charakteristisch für Ruß-
land, daß hier die Streikbewegung in den Sommermonaten,
der Zeit der Feldarbeiten, wo Arbeitskräfte auf Verwendung
im Landbau rechnen können, anwächst. Das zeigt, daß die
Differenzierung zwischen dem Land- und dem Fabrik-
arbeiter in Rußland noch keine scharfe, keine einge-
wurzelte ist" 134 .
Wir sehen: während der russische Arbeiter schlechte
Zeiten auf dem Lande verbringen kann oder seinen Zu-
sammenhang mit dem Landbau dazu benutzt, um seine Lage
zu verbessern, stehen diese Möglichkeiten dem jüdischen
Arbeiter nicht offen. Er ist der ökonomisch Schwächere
und zieht deshalb im Konkurrenzkampf den Kürzeren.
Zu diesen wirtschaftlichen Momenten kommen noch
rein psychologische. Der jüdische Arbeiter ist viel kulti-
vierter als der russische; er ist auch viel revolutionärer ge-
sinnt. Was den Bildungsgrad des jüdischen Arbeiters an-
belangt, so ist anzunehmen, daß fast alle jüdischen Arbeiter
lesen können. , f Die Elementarbildung' spielt auch eine her-
vorragende Rolle in der jetzigen jüdischen Arbciterbcw ■
ung in Rußland. Während die christlichen Revolutionäre
mit ganz ungebildeten Volksmassen zu tun hatten, fand der
— 108 —
jüdische Revolutionär vollständig entwickelte und verständ-
nisvolle Schüler, die mit Begeisterung die Idee de^ ■li«--
mus annahmen. «Jüdische Proklamationen und Aufrufe
wurden in vielen Tausenden Exemplaren verbreitet und von
einer großen Zahl jüdischer Arbeiter in allen Städten und
Städtchen des Ansiedlungsrayons gelesen" 135 . Es ist nun
natürlich, daß der jüdische wie nichtjüdische Kapita-
list den revolutionär gesinnten jüdischen Arbeiter nicht ge-
rade allzugerne in seiner Fabrik anstellt und ihm den russi-
schen Bauern vorzieht. Dem letzteren fiele nie ein, das zu
tun, was einmal jüdische Hausweber Bjalostoks getan
haben: sie überreichten nämlich ihren Fabrikanten bei Ein-
lieferung der Ware zugleich eine genaue Kalkulation, die
eine vollständige Aufstellung der Herstellungskosten (Roh-
produkt, Maschinen, Arbeit usw.), den Marktpreis und dann
den Nutzen des Arbeitgebers enthielt. In der Materialien-
sammlung, hersg. von der ICA, der der erwähnte Fall ent-
nommen ist, wird auch mitgeteilt, daß die Weber in dem-
selben Rayon Bjalostok die Bilanzen ihres Arbeitgebers ver-
folgen 13c .
Damit steht noch im Zusammenhange, daß der jüdische
Arbeiter vor seinem Arbeitgeber überhaupt gar keinen Re-
spekt hat. Er betrachtet ihn, wenn auch nicht als seines-
gleichen, so doch als einen, von dem er sich nichts gefallen
läßt. Der Fabrikbesitzer hütet sich nun, solche Arbeiter
einzustellen, weshalb die Juden an den Fabriken, wo strikte
Unterordnung manchmal so wichtig ist, keine Anstellung
erhalten.
Neuerdings hat M a r g o 1 i n noch auf einen Umstand
aufmerksam gemacht, der bei Nichtindustrialisierung der
jüdischen Arbeitermassen eine Rolle gespielt haben soll.
Es ist die Dünnheit der jüdischen Bevölkerung Rußlands.
„Diese verhältnismäßige Dünnheit der jüdischen Bevölke-
rung, speziell der jüdischen Arbeiterbevölkerung in jeder
gegebenen Gegend, läßt die Juden nicht in jene Industrien
eindringen, die eine Teilnahme von großen Arbeitermassen
erfordern. Infolge ihrer geringen Zahl sind sie nicht im
Stande, all diese Betriebe allein zu besetzen, während die
Mitarbeit verschiedener ethnischen Gruppen an denselben
— 109 —
Betrieben durch den scharfen Unterschied, der zwischen
ihnen besteht, durch die Verschiedenheit in ihrer Kultur, in
ihren Gewohnheiten, Neigungen, Traditionen u. dergl. ganz
ausgeschlossen wird" iaf .
Wir halten diese Ausführungen nur zum Teil für halt-
bar; es ist wohl möglich, daß die Juden den ganz großen
Betrieben des Südens, — zumal dort die Textil- und die
Kohlenindustrien plötzlich angepflanzt wurden, — wegen
ihrer Zerstreutheit nicht genügen konnten, weshalb auch
diese Industrien völlig von den russischen Arbeitern besetzt
wurden. Jedoch hat die Zerstreutheit der jüdischen Be-
völkerung Rußlands nicht die Bedeutung, die ihr M a r g o-
1 i n zuschreibt. Und zwar aus dem einfachen Grunde nicht,
weil, wenn die jüdischen Arbeiter ökonomisch dem russi-
schen gleichständen und nur den Nachteil hätten, mehr als
dieser zerstreut zu leben, — sie diese Zerstreutheit leicht
überwinden könnten. Mußte doch der russische Bauer, um
in die Fabrik zu gelangen, auch vorher nach der Stadt
ziehen, — weshalb könnten die jüdischen Arbeitslosen sich
nicht auch an Orten der Industrie konzentrieren? Dabei
bedenke man noch die Tatsache, daß in den Städten, wo die
Industrie sehr entwickelt ist und wo es jüdische Arbeiter in
Fülle gibt, sie nichtsdestoweniger keine Anstellung finden
und von dem russischen Konkurrenten verdrängt wurden.
Und es ist doch nicht anzunehmen, daß den jüdischen
Arbeitermassen, die jährlich so reichlich die Reihen der
Auswanderer füllen, die Auswanderung — etwa nach Ame-
rika — leichter fällt, als die Überwindung ihrer Zerstreut-
heit in der alten Heimat. Uns scheint hier die Ursache mit
der Folge verwechselt zu werden. Die Zerstreutheit der
jüdischen Arbeiterbevölkerung Rußlands ist nicht die Ur-
sache, sondern die Folge ihrer Nichtindustrialisierung. Und
die letztere ist das Resultat der erfolglosen Konkurrenz mit
der einheimischen Arbeiterschaft. Die Juden gelangen in
keine Großbetriebe: nicht deshalb, weil sie zerstreut sind,
sondern sie sind zerstreut, weil die Großbetriebe ihnen ver-
schlossen sind und sie sich mit den zerstreuten Klein-
betrieben begnügen müssen.
Zum Schluß möchten wir noch auf einen Umstand hin-
— 110 —
weisen, der für die Zukunft der jüdischen Fabrik wie der
jüdischen Arbeitennassen von j»anz erheblicher Bedeutung
ist. Das ist die Slandorlsfrage der russischen Industrie, die
wir schon kurz erwähnt haben, und deren Behandlung im
Zusammenhange mit der ökonomischen Lage der Juden in
Rußland sich zuerst — zwar sehr flüchtig — bei Hill-
mann findet.
Es ist bekannt, daß in Westeuropa, wie in Amerika, die
Industrie ihren Standort wechselt, indem sie aus der Stadt
wegzieht. Sombart führt diesen ,, Exodus" auf die Ver-
teuerung des städtischen Bodens zurück. „Der Produzent
hatte also immer auf Verbilligung seiner Herstellungsweise
zu achten. Diesem stand aber die Verteuerung der Produk-
tion durch die Verteuerung des Standortes in den großen
Städten . . . hindernd im Wege . . . Deshalb beobachten wir
schon seit einigen Jahrzehnten als eine allgemeine Erschei-
nung in allen Kulturländern den Exodus wichtiger Indu-
strien aus den großen Städten und können selbstverständ-
lich daraus schließen, daß sich neue Industrien dieser
Branche nicht etwa irgend in dem großstädtischen Mittel-
punkte neu ansiedeln werden" 138 . Sombart führt als
Beispiele hierfür Manchester, Leeds, New-York, Berlin und
Wien an. Das Beispiel Rußlands kann nun diesen Staaten
angereiht werden.
Die russische Dorffabrik fängt an, eine ganz erhebliche
Rolle im wirtschaftlichen Leben Rußlands zu spielen. ,,Es
werden kleine Textilfabriken errichtet mit 150 — 200 mecha-
nischen Webstühlen. Der Arbeitslohn, den solche Fabriken
zahlen, beträgt bis 50% des Lohnes, den die großen Fabriken
zahlen. Für den bäuerlichen Handwerker bedeutet die An-
stellung an einer solchen Fabrik eine Besserung seiner Lage:
mag der Lohn minimal sein, er ist doch größer als das, was
er als Heimhandweber verdient hatte . . . Für den Fabrik-
arbeiter bedeutet aber die Konkurrenz seitens des Dorf-
fabrikarbeiters ein großes Übel: sein Lohn wird dadurch
stark herabgedrückt" 139 . Ziehen die Industrien in West-
europa aus der Stadt infolge des teueren Standortes aus, so
meidet die russische Textilindustrie die Stadt von vorn-
herein wegen der billigeren Arbeitskräfte, die sie auf dem
Lande bekommt.
— 111 —
Für die Lage der jüdischen Arbeitermassen — wie für
die jüdische Fabrik — hat die besprochene Erscheinung in-
soweit eine große Bedeutung, als dadurch die ökonomische
Position des jüdischen Arbeiters wie des jüdischen Kapita-
listen noch mehr verschlechtert wird. Beide haben einst-
weilen kein Wohnrecht auf dem Lande, und bekämen sie es,
so wären sie doch nicht im Stande, sich dort durchzusetzen:
der jüdische Kapitalist, weil das christliche Kapital sich
schon vorher dort festgesetzt hat und keine Konkurrenz dul-
den wird; der jüdische Arbeiter, weil, wenn er schon heute
dem russischen städtischen Arbeiter den Platz räumen muß,
er die Konkurrenz mit dem noch weniger anspruchsvollen
Dorfarbeiter vollends nicht bestehen wird. Allein die Woh-
nungsfrage wäre für die jüdischen Arbeitermassen auf dem
Lande eine fast nicht zu lösende Schwierigkeit, während sie
für die einheimischen Dorfarbeiter gar kein Problem dar-
stellt. Aber auch unter der Rückwirkung der Dorffabrik
auf die städtische werden die Juden am meisten zu leiden
haben. Ob das jüdische Handwerk noch genug Kräfte in
sich haben wird, um die Konkurrenz mit der russischen
Dorffabrik, die der gleichen Branche angehört, aufzunehmen,
ist eine folgenschwere Frage, die nicht mit einem glatten
,,Ja" beantwortet werden kann.
Wir haben nun verschiedene soziale Gruppen des russi-
schen Judentums betrachtet und haben versucht, die
Anormalitätcn in ihrer Lage aufzudecken und zu erklären,
wobei wir die Überfüllung des jüdischen Handels wie des
jüdischen Handwerks auf die unvollkommene Entwickelung
der jüdischen Fabrik und die Nichtindustrialisicrung der
jüdischen Arbeitermassen zurückgeführt haben.
Zum Schluß werfen wir noch einen kurzen Blick auf die
Lage der jüdischen ,, Intelligenz" Rußlands. Hier ist das
Charakteristische, daß es bei den Juden Rußlands fast gar
keine Staatsbeamte gibt, so daß diejenigen, die eine höhere
Bildung genossen haben und in anderen Ländern vom Staate
angestellt würden, sich in Rußland nur den freien Berufen
— 112
widmen können. Die berüchtigte „Prozentnorm" schränkt
jedoch die Zahl der akademisch Gebildeten stark ein, so
daß es bei den Juden prozentual weniger Personen mit
höherer Bildung gibt als bei der Gesamtbevölkerung. Doch
hat „keine andere Nation in den letzten Jahrzehnten auch
nur annähernd solche Fortschritte in Bezug auf Aneignung
der höheren Bildung gemacht wie die Juden" 14 °. Außer-
dem gehen viele russische Juden ins Ausland, um dort die
Universitäten zu beziehen.
Der Einfluß, den die jüdischen Intellektuellen auf das
geistige Leben Rußlands ausüben, ist ein ganz bedeutender;
ein großer Unterschied zwischen dem Osten und dem Westen
exisiert hier nicht. Die rechtlichen Beschränkungen je-
doch, die die jüdischen Angehörigen der liberalen Berufe
sich von der Regierung gefallen lassen müssen, und die
innere Verbindung mit der Masse des Volkes, aus dem die
meisten doch hervorgegangen sind, hat zur Folge, daß auch
die jüdischen Intellektuellen in Rußland an der Auswande-
rung stärker interessiert sind, als es in Westeuropa der Fall
ist. Die neueste „Kontingentierung" der Zahl der jüdischen
Rechtsanwaltsgehülfen, — sie dürfen nunmehr nicht mehr
als 10°/ der Gesamtzahl bilden, — wird wahrscheinlich zu
einer verstärkten Auswanderung der jüdischen Angehörigen
liberaler Berufe führen, da gerade der Beruf des Rechts-
anwaltes ein sehr beliebter war. So bilden die Juden
49% aller Rechtsanw.-Geh. im Gerichts-Bez. Odessa
43% „ „ „ „ Petersburg
34% „ „ „ n Warschau
34% „ „ „ „ Wilna
27% „ „ „ „ Charkow
22% „ „ „ „ Irkutsk
19% ,, „ „ „ Nowotscherkask
16% „ „ „ „ Saratow
15% „ „ „ „ Moskau
13% „ „ „ „ Tiflis
9% „ „ n n Taschkent 141 .
Zwölftes Kapitel.
Die jüdische Auswanderung der Neuzeit.
Es wäre eine höchst interessante Aufgabe, die gesamten
jüdischen Wanderungen der Neuzeit ziffernmäßig festzu-
stellen, sodaß wir genau wüßten, wie viele Juden noch nicht
bodenständig sind und sich noch auf Wanderungen befinden.
Leider fehlen die für eine solche Feststellung nötigen An-
gaben, und man muß sich darum mit einer Wahrscheinlich-
keitsrechnung begnügen. So hat auch Ruppin 14 - in der
folgenden Tabelle (Tabelle VIII) den Versuch gemacht, ein
Tabelle VIII.
Gesamtübersicht der jüdischen Ein- und Auswanderung.
In der Zeit von 1881 1908 wanderten Juden
nach
aus
Rußland
•cich-
Ungarn
Rumänien
anderen
Landern
ins£t
Vereinigte Staaten
1 250 000
250 000
75 000
125 000
1 700 000
Kanada ....
30 000
5 000
—
5000
40 000
[entinien .
20 000
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30 000
Sa. Amerika
1 300 000
255000
75'
HO 000
1 770 000
!and ....
150 000
10'
20 000
10 000
190 000
Deutschland .
15 000
25 000
—
40 000
Frankreich . . .
30 000
10 000
10000
50 000
Belgien ....
5 000
;000
10 000
West-Europa
200 000
15000
20000
25 000
290 OÜ0
Süd-Afrika .
15 000
—
—
5 000
20 000
i . . . .
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25 000
—
15 000
in 000
Mina ....
20 000
51
| 000
10000
10000
Insgesamt
1 545 000
.000
96 000
190 000
2 136 000
Wlad. W. K*plun-Ki^an, NX'audcr''
114
Gesamtbild der Wanderungen in den hauptsächlich von der
Ein- und Auswanderung berührten Ländern zu geben.
Demnach beträgt die Zahl der Juden, die in der Zeit
von 1881 — 1908 ein- und auswanderten, nicht weniger als
2 136 000, was 18,47"/ aller Juden ausmacht. Das Haupt-
einwanderungsland bilden die Vereinigten Staaten mit
1 770 000 Einwanderern, das Hauptauswanderungsland ist
Rußland mit 1 545 000 Auswanderern; zählen wir zu diesen
russischen Auswanderern noch die Zahl derjenigen, die in
den letzten 3 Jahren auswanderten, hinzu, so ergibt sich,
daß aus Rußland allein in 31 Jahren (1881—1911) 1 710 000
Juden ausgewandert sind, was 28,28°/ der heutigen jüdi-
schen Bevölkerung Rußlands ausmacht.
Aus den angegebenen Zahlen ersehen wir auch klar,
daß das Hauptkontingent der jüdischen Auswanderer die
russischen Juden liefern, und zwar wenden sie sich in ihrer
überwiegenden Mehrheit den Vereinigten Staaten zu.
Wollen wir also den Geist der jüdischen Wanderungen der
Neuzeit begreifen, ihr Wesen und ihre Tendenzen fest-
stellen, so müssen wir uns der jüdischen Einwanderung in
die Vereinigten Staaten zuwenden, zumal wir über die letz-
tere auch am besten unterrichtet sind 143 .
Man ist gewöhnt, die jüdische Einwanderung in die
Vereinigten Staaten vom Jahre 1881 zu datieren, um welche
Zeit in Rußland die ersten jüdischen Pogrome ausbrachen
und die berühmten Ignatiew'schen Gesetze erlassen wurden,
welche die Freizügigkeit der Juden bedeutend einschränkten.
„Seit dem Auftreten der Judenverfolgungen in Rußland,
also seit dem Jahre 1881, ergießt sich dann ein immer stär-
ker anschwellender, erst in aller jüngster Zeit etwas nach-
lassender Strom jüdischer Auswanderer aus dem Zaren-
reiche, ein schwächerer aus Rumänien, nach dem gelobten
Lande der Freiheit, nach den Vereinigten Staaten von
Amerika" 144 .
Jedoch ist das nicht richtig, da schon ein Jahrzehnt
früher die jüdische Auswanderung aus Rußland einsetzte.
Das wird auch vom Verfasser des Artikels „Migration" in
„The Jewish Encyclopedia" ausdrücklich betont. „The emi-
gration of Jews from Russia increased remarkably in the
— 115 —
seventies and becamc widespread in the eighties of the nine-
teenth Century. That until then the emigration movement
was but slight is evidenced by the fact that between the
years 1821 — 1870 only 7,550 Jewish emigrants from Russia
and Russian Poland set out for the United States, at that
time the most important objective point, and in the decade
1871 — 1880 no less than 41,057 came from Russia alone"
Demnach betrug die Zahl der Einwanderer aus Rußland
im Jahrzehnt 1871—1880 durchschnittlich jährlich 4 105,
eine Ziffer, die schon bedeutend genug ist, insbesondere
wenn man beachtet, daß im Jahre 1881 die Zahl der Ein-
wanderer nur noch 8 193 betrug und im Jahre 1883 nur
6 907. Man sieht daraus, daß die jüdische Auswanderung
aus Rußland nicht unmittelbar durch die Pogrome verur-
sacht wurde, sondern schon früher im jüdischen Leben feste
Wurzeln hatte.
Und das ist ja ganz begreiflich. Denn die jüdische
Auswanderung wurde herbeigeführt, nicht sowohl durch die
rechtlichen Beschränkungen der Juden und die Pogrome,
als vielmehr — und in erster Linie — durch die ökono-
mische Entwickelung des Landes. Solange in Rußland näm-
lich noch die Leibeigenschaft existierte, und die feudale
Agrarwirtschaft vorherrschte, wurden die Juden in ihren
wirtschaftlichen Funktionen als Händler und Handwerker
nicht gestört. Die Sache hat sich aber gründlich geändert
mit der Befreiung der Bauern und Entstehung des Kapitalis-
mus. Dem jüdischen Händler und Makler — aber in noch
größerem Maße dem jüdischen Handwerker — entstand ein
mächtiger Konkurrent in der Gestalt des vom Lande in die
Stadt gezogenen Bauern. Zwar wurde der jüdische
Handwerker anfangs bevorzugt, aber nur kurze Zeit. Im
Jahre 1865 bekamen die jüdischen Handwerker das
allgemeine Wohnrecht; es ist aber anzunehmen, daß sie
schon anfangs der 80er Jahre im Konkurrenzkampf mit den
russischen standen. Und so fing die jüdische Auswande-
rung an. Treffend sagt darüber N. W. G o 1 d s t e i n: ,,Das
Handwerk war nicht im Stande, das Problem vollständig zu
lösen, d. h. die Masse von Juden, welche durch die Um-
wälzung in der Landwirtschaft brotlos geworden waren, zu
— 116 —
versorgen; dazu kam noch, daß dem Handwerk selbst in der
allgemeinen Entwickclung der Industrie . . . eine scharfe
Konkurrenz erwuchs. Die Folge dieser Erscheinungen war.
daß die jüdische Auswanderung entstand" lir '.
Über die allgemeine und jüdische Einwanderung in die
Vereinigten Staaten gibt Tabelle, IX (siehe S. 117) Allfku
Was zuerst den prozentualen Anteil der Juden an der Ge-
samteinwanderung betrifft, so ist er ziemlich schwankend,
obwohl er sich in den letzten Jahren doch um 8 bis
16°/ oszilliert. Die Ausnahme bilden die 90er Jahre, wo die
jüdische Einwanderung im Verhältnis zu der allgemeinen
besonders groß war (im Jahre 1892:23,6°/ , im Jahre 1895
26,1 °/ ). Das ist zum Teil durch die erhöhte Auswanderung
aus Rußland am Anfang der 90er Jahre zu erklären, die
ihrerseits durch die Vertreibung der Juden aus Moskau und
den Dörfern in den Jahren 1891 — 92 veranlaßt wurde. Der
durchschnittliche Prozentsatz der jährlichen Einwanderung
an der Gesamteinwanderung der letzten 32 Jahre (1880 bis
1912) beträgt 11,6%.
Betrachten wir nun die jüdische Einwande-
rung ausRußland besonders, die, wie Tabelle X zeigt,
60,8 — 81,4°/ der gesamten jüdischen Einwanderung in die
Vereinigten Staaten ausmacht, so fällt uns vor allem ihre
Regelmäßigkeit auf. Denn wenn wir von den Jahren
1897 — 99 absehen, in denen auch die allgemeine Einwande-
rung bedeutend sank, und die gewaltig anschwellende Aus-
wanderung in den Jahren 1905 — 07 aufs Konto der Revo-
lution und Pogrome setzen, so sehen wir, daß die jüdische
Auswanderung aus Rußland eine Erscheinung ist, die trotz
aller Schwankungen die Tendenz hat, langsam zu steigen.
Mögen einzelne Jahre eine niedrigere Zahl der Auswanderer
aufweisen, im großen und ganzen ist die jüdische Aus-
wanderung aus Rußland keine sporadische, durch vorüber-
gehende Umstände herbeigeführte, sondern eine systema-
tische, tief im Wesen des jüdischen Lebens in Rußland lie-
gende Erscheinung. Die Tendenz zum Steigen tritt uns noch
klarer entgegen, wenn wir nicht einzelne Jahre betrachten,
deren Auswandererzahl auch mancherlei Zufälligkeiten
— 117 —
Tabelle IX.
Jüdische und allgemeine Einwanderung in die Vereinigten Staaten
von Amerika.
m Fi^Kfil"
Jüdisch
e Einw
anderung aus
Insgesamt
IIA X lOnUl
-o
jähre
Allge-
-o
i
icn
e
i
§
anderen
wander-
In
1. Juli bis
meine
c
rt
a
P
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ngar
Groß
britann
mani
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Län-
ten Juden
30. Juni)
PZ
■5 =>
C
3
Deu
dern
ein
880/1881
669 131
8 193
8 193
1.2
881/1882
788 992
17 497
—
—
—
—
14 310
31 807
4,2
882 1883
603 322
6 907
6 907
1,2
883/1884
518 592
15 122
—
—
—
—
12 288
27 410
5,3
884/1885
395 346
16 603
—
—
—
19611
36 214
9,0
885 1886
334 203
17 309
—
—
—
—
29 658
46 967
14,0
886/1887
490 109
28 944
—
—
—
—
27 468
56 412
11,5
887 1888
546 889
31 256
—
—
—
31 363
62 619
11,5
888 1889
444 427
31 889
—
—
—
—
23 962
55 851
12,6
889 1890
455 302
33 117
—
—
—
34 303
67 450
14,8
890/1891
560 319
42 145
—
—
—
—
69 139
1 1 1 284
20,0
891 1892
579 663
76-117
—
—
—
60 325
136 742
23,6
B92 1893
439 730
35 626
—
—
—
32 943
68 569
15,5
893 1894
285 631
36 725
—
—
—
22 108
58 833
20,4
894 1895
258 536
33 232
—
—
—
—
32 077
65 309
26,1
895 1896
343 267
45 137
—
—
—
28 118
73 255
21,4
896 1897
230 832
22
—
—
—
20 684
43 434
18,0
897 1898
229 299
27 .
—
—
—
27 409
54 630
24,0
898 1899
311 715
24 275
11 071
24
1 343
405
297
37415
12,0
899 1900
448 572
37 011
16 920
13
6 183
337
300
60 764
13.5
900 1901
487 918
37 660
13 006
82
6 827
272
251
58 098
12.5
901 1902
648 743
37 846
12 848
55
6 589
182
169
57 688
8,7
902 1903
857 046
47 689
18 759
8 562
477
296
76 203
8,8
903 1904
812 870
77 544
20 211
817
6 446
669
549
106 236
13.0
904 1905
1 026 499
92 388
17 352
14 299
3 854
734
1 283
129 910
12,6
905 1906
1 100 735
125 234
M !
6 113
3 872
979
2 666
153 748
14,0
907
1 285 349
114 932
18 3
7 032
3 605
734
3 994
149 182 11.6
907 1908
782 8'/0
71 978
15 ;
6 260
869
4 532
103 387 16,6
1908 1909')
751 786
39 150
8 431
3 385
652
4 543
57 551 7.7
909 1910
1 041 570
59 824
13 1 1 ?
1 701
705
4 790
84 260 8,0
1910/1911
878 587
65 472
12
4 895
2 188
799
5 084
91223 10,3
1911/1912
838 172
—
—
SO 595 9,6
zusammen 19416 322 1357 123 193 5^7 47 4^3 57 015 7 814 514 520 2 25S 146 11.6
*) In diesem Jahre sind dl< indvu /um ersten Male unterschieden
in Immigrant aliens und Nonimmi«4rant a!i»-ns. Letztere sind /war auch Fremde,
die aber nicht in die Gruppe der Einwandert! eingereiht werden. Die Gesamt-
zahl derselben belief sich im Jahre l ( )i)S 09 auf 192 449 bei den Juden auf 3 188
1909 H) „ 156 467 . ,. „ 3 503
1910 11 „ 151 713 3333
„ ■ 1911 12 — .... 3407
118 —
Tabelle X .
Jüdische Einwanderung aus Rußland in die Vereinigten
Staaten.
vJahi
Zahl der
c.. gesamten
Linwanderer
aus Rußland
In % zu der
gesamten
jüdischenKin-
wanderunß
1898/1899
24 275
64,8
1899/1900
37 011
60,8
1900/1901
37 660
64,8
1901/1902
37 846
65,6
1902/1903
47 689
62,5
1903/1904
77 544
73,0
1904/1905
92 388
71,1
1905/1906
125 234
81,4
1906/1907
114 932
77,0
1907/1908
71978
68,6
1908/1909
39 150
68,0
1909/1910
59 824
70,9
1910/1911
65 472
71,8
Sa. 831 003 66,7
unterworfen ist, sondern größere Zeiträume von etwa fünf
Jahren mit einander vergleichen. So ersehen wir aus der
Tabelle XI, daß im Lustrum 1881 — 85 die jährliche durch-
Tabelle XI.
Jüdische Einwanderung aus Rußland in die Vereinigten
Staaten.
Zeitraum
Jüdische Ein-
wanderung in
die Ver. St. von
Amer. aus Rußl.
Durch-
schnittlich
jährlich
1881—1885
1886—1890
1891—1895
1896—1900
1901—1905
1906—1910
64 322
142 545
224 145
156 394
293 127
411 118
12 865
28 509
44 829
31278
58 625
82 223
119
schnittliche Einwandererzahl 12 865 beträgt; im Lustrum
1886 — 90 schon mehr als das Doppelte: 28 509; im Lustrum
1891—95:44 829; im Lustrum 1896—1900:31278; im Lu-
strum 1901 — 05 : 58 625 und im Lustrum 1906—1910:82 223.
Die einzige Ausnahme bildet das Lustrum 1896 — 1900. Im
Fiskaljahre 1911 betrug die Zahl der jüdischen Einwanderer
aus Rußland 65 472.
Wir wenden uns der Struktur der Einwanderungs-
bevölkerung zu. Betrachten wir zuerst dieVerteilung
nach dem Geschlecht und dem Alter. Aus
dieser Verteilung, d. h. aus dem Grade der Beteiligung der
Frauen und Kinder an der Einwanderung, ist am leichtesten
zu ersehen, ob die ganze Einwanderung nur einen vorüber-
gehenden Charakter trägt, oder ob die Einwanderer sich auf
immer in der neuen Heimat niederlassen wollen. Hier fällt
uns vor allem eine sehr starke Beteiligung von Frauen und
Kindern auf (Tabellen XII und XIII). Es ist dabei für die
Gesetzmäßigkeit der jüdischen Einwanderung charakteri-
stisch, daß das Verhältnis zwischen dem weiblichen und
männlichen Geschlecht sich in den Jahren 1907 — 11 sozu-
sagen stabilisiert hat: es kamen fast regelmäßig in diesen
Tabelle XII.
Verteilung der jüdischen Einwanderer nach dem Geschlecht.
Jahr
Zusamnnn
Mannlu h
7o
Weiblich
%
1898 1899
37 415
21 153
57
16 262
43
1899,1900
60764
36 330
60
434
40
1900/1901
58 098
32 345
56
25 753
44
19011902
57 688
32 737
57
24 951
43
1902/1903
76 203
43 985
58
32 218
42
1903 1904
106 236
65 0t'»
61
41 196
39
1904 1905
129910
82 076
63
47 834
37
1905/1906
153 748
80 086
52
73 662
48
1906/1907
149 182
80 530
54
68 652
46
1907/1908
103 387
56 277
54
47 110
46
1908/1909
57 551
31 057
53,9
26 494
46,1
1909 1910
84 260
46 206
54,8
38 054
45.2
1910 1911
91 223
48 935
53,7
288
46.3
— 120 —
Tabelle Xfll.
Altersaufbau der jüdischen Einwanderung*
Jahr
Altersklasse
unter 14
o/
14—45
%
über 45
1898/1899
8 987
28
22 619
65
2 W)
7
1899/1900
13 092
21
44 239
73
3 433
6
1900/1901
14 731
25
39 830
68
3 537
7
1901/1902
15312
26
38 937
67
3 439
7
1902/1903
19 044
25
53 074
70
4 085
5
1903/1904
23 529
22
77 224
73
5 483
5
1904/1905
28 553
22
95 964
74
5 393
4
1905/1906
43 620
28
101 875
66
8 253
6
1906/1907
37 696
25
103 779
70
7 707
5
1907/1908
26 013
25
71 388
69
5 986
6
1908/1909
15 210
26
38 465
67
3 876
7
1909/1910
21 869
26
57 191
67,7
5 200
6,2
1910/1911
21835
23,9
63 674
69,8
5 714
6.3
Jahren 54% männlichen Geschlechts und 46°/ weiblichen
Geschlechts; die Schwankungen dabei sind ganz unbedeu-
tend. Die starke Beteiligung der Männer (63%) im Jahre
1904 — 05 kann dadurch erklärt werden, daß dieses Jahr der
Anfang des russisch- japanischen Krieges war.
Um die starke Beteiligung der Frauen an der jüdischen
Einwanderung noch klarer zu Tage treten zu lassen, ver-
gleichen wir sie mit der an der allgemeinen Einwanderung
(Tabelle XIV) 147 . Wir sehen, daß im Jahre 1906—07 bei
Tabelle XIV.
Geschlechtsaufbau der allgemeinen und jüdischen Einwan-
derung in den Jahren 1907 und 1908.
Fiskaljahr
Gesamtzahl
Auf 1000
Männer
trafen Fr.
Juden
Auf 1000
Männer
trafen Fr.
männlich
weiblich
männlich weiblich
1906/1907
1907/1908
929 976
506 912
355 373
275 958
382
544
80 530
56 277
68 652
47 110
852
837
— 121 —
der Gesamteinwanderung auf 1000 Personen männlichen
Geschlechts 382 weiblichen Geschlechts kamen und im Jahre
1907 — 08 544; bei den Juden dagegen trafen auf 1000 Per-
sonen männlichen Geschlechts im Jahre 1906 — 07 852 weib-
lichen Geschlechts und im Jahre 1907 — 08 837. „Wir haben
bei den Juden zumeist mit einer Familienwanderung zu tun.
Mann, Frau und Kinder verlassen die Heimat, ähnlich wie
in den Zeiten der Völkerwanderung" 14R .
Der Altersaufbau der jüdischen Einwanderung
ist nicht nur deshalb interessant, weil man daraus am besten
ersehen kann, inwieweit die Auswanderung alle Alters-
schichten mit sich reißt, sondern auch darum, weil der gün-
stige oder ungünstige Altersaufbau von sehr großer Bedeu-
tung für die Lage der Einwanderer in den Einwanderungs-
ländern ist. Wir haben schon gesehen, wie das ungünstige
Verhältnis zwischen Arbeitsfähigen und Arbeitsunfähigen
nachteilig auf die ökonomische Stellung der jüdischen Ar-
beiterschaft in Rußland wirkt. Auch bei der jüdischen Ein-
wanderung macht sich dieser Nachteil geltend, sodaß der
jüdische Arbeiter, in Amerika angekommen, nicht freier und
widerstandsfähige*- als in Rußland auf dem Arbeitsmarkte
erscheint, sondern alle spezifischen Eigentümlichkeiten des
russisch- jüdischen Lebens mit sich in die neue Heimat
bringt.
Die amerikanische Statistik unterscheidet nur 3 Alters-
klassen: 1. unter 14 Jahren, 2. zwischen 14 und 45, und 3.
über 45 Jahren. Die Zahl der Kinder unter 14 Jahren
schwankt bei den Juden zwischen 21 — 28 n/ nt die Zahl der
Erwachsenen (zweite Alterklasse: 14 — 45 Jahre) zwischen
65 — 73°/ n und die der Alten über 45 Jahre zwischen 4 — 7
(Tabelle XIII p. 120.) Die ungewöhnlich starke Zahl der
Kinder läßt darauf schließen, daß in der jüdischen Ein-
wanderung sich eine beträchtliche Zahl von Familien befin-
det. Der Jude, der nach Amerika geht, denkt nicht daran,
zurückzukehren; er will sich dort dauernd niederlassen, er
glaubt dort eine neue Heimat zu finden.
Zum Vergleich sei hier noch der Altersaufbau der ge-
samten, der italienischen und der jüdischen Einwanderung
— 122 —
im Jahre 1907- 08 angeführt (Tabelle XV) : "'. „Hi<-r haben
wir den spezifischen Altersaufbau der Einwandemngsbevöl-
kerung: schwache Besetzung der jüngsten Altersklassen
(1 — 14), gewaltige Ausbauchung bei den produktiven Klas-
sen (14 — 44) und Konvergierung in den höheren Alt«
klassen . . . 80,50°/,, machen die produktiven Alterklassen
aus" ir>0 . Bei den Juden allein ist es ganz anders, wo */ 4
der Gesamtzahl sich im Alter von 1 — 14 Jahren befindet!
Tabelle XV.
Altersaufbau der gesamten, italienischen und jüdischen
Einwanderung im Jahre 1907 — 1908.
Alterski.
Gesamt-
zahl
Juden Italiener
Gesarat-
zahl
Juden Italiener
unter 14
14—45
über 45
112 148
630 671
40 051
26 013
71388
5 986
• 21 240
105 071
8 936
14,30 25,10 15.70
80,50 69,00 77,60
5,20 5,90 6,70
Daß die jüdischen Auswanderer vollständig mit ihrer
alten Heimat brechen, zeigt uns die kleine Zahl derjenigen,
die zurückkehren (Tabelle XVI) oder schon einmal in den
Vereinigten Staaten gewesen sind (Tabelle XVII). So ist
aus Amerika im Jahre 1908 fast die Hälfte aller Einwande-
rer wieder ausgewandert, was allerdings durch die wirt-
schaftliche Depression dieses Jahres zu erklären ist. Beson-
ders stark war die Rückwanderung bei den Italienern:
Tabelle XVI.
Die Zahl der Einwanderer, die Amerika wieder verließen.
Jahr
Juden
Italiener
absolut in %
absolut in
1907/1908
1908/1909
1909/1910
1910/1911
7 702
6 105
5 689
6 401
7,44
10,60
6,75
7,01
167 335
86 439
55 203
76 218
42.30
45,4
24,7
40,12
— 123 —
Tabelle XVII.
Prozentsatz der Einwanderer, die in den V. S. von Amerika
schon wenigstens einmal gewesen sind.
Unter allen
Unter jüd.
Jahr
Ein-
Ein-
wanderern
wanderern
1898/1899
18,6
4,6
1899/1900
15,4
3,3
1900 1901
11,6
4,3
1901 1902
9,5
2,8
1902 1903
8,9
1,9
1903/1904
12,8
1,9
1904/1905
17,1
2,07
1905 1906
—
1,73
1906 1907
— .
1,17
1907 1908
8,57
1,8
1908 1909
21,19
4,39
167 335, d. h. 42,30%. Bei den Juden sind nur 7 702 zurück-
gewandert, d. h. 7,44" ■',,. Fast dasselbe können wir im Jahre
1910 — 1 1 beobachten, wo bei den Juden nur 7,01 ° (1 aller Ein-
wanderer Amerika wieder verließen, bei den Italienern da-
gegen 40,12 ü / n . Auch in den übrigen Jahren ist die Zahl der
Juden, die zurückwanderten, nicht groß; denn es gehört ja
zum Charakteristikum der jüdischen Wanderbewegungen,
daß sie keine Saisonwanderungen sind. Die jüdischen Wan-
derer sind auch keine Wanderer schlechterdings, die unbe-
dingt wandern müssen; der Jude hat im Gegenteil den
Wunsch, sich in der neuen Heimat auf immer niederzulassen.
Tabelle XVII zeigt uns den Prozentsatz der Einwande-
rer, die in den Vereinigten Staaten wenigstens schon einmal
gewesen sind. Die Zahl solcher ..birds of passagc" ist bei
den Juden verschwindend klein. Im Jahre 1905 — 06 gab es
in der jüdischen Einwanderung ,, birds of passage" nur
l,73°/ , bei den Italicnern 14,5",,, bei den Engländern
27,5%. Vergleichen wir ihre Zahl in der gesamten und
— 124 —
jüdischen Einwanderung, so tritt uns der Gegensatz zwi-
schen den Juden und anderen Minwanderern ebenso itarli
entgegen. So gab es im Jahre 1908 — 09 bei den Juden
,,birds of passage" 4,39%» De i ^ er Gesamteinwanderung aber
21,19%.
Vom Fiskaljahre 1909 — 10 an gibt uns die amerikani-
sche Statistik Auskunft auch über den Familienstand
der Einwanderer, so daß wir jetzt in der Lage sind, den
Familiencharakter der jüdischen Einwanderung mit Hilfe
der Zahlen noch klarer und deutlicher zu Tage treten zu
lassen. (Tabelle XVIII siehe p. 126 — 27.) Den Kinderreich-
tum der jüdischen Einwanderung kennen wir schon. So
machen bei den Juden die Knaben unter 14 Jahren, die ledig
sind, — als Kuriosum sei- erwähnt, daß unter ihnen [im
Jahre 1910) einer verheiratet war, — im Jahre 1909 — 10
13,31% und im Jahre 1910—11 12,16% aus. Die ledigen
Mädchen unter 14 Jahren sind etwas schwächer vertreten:
12,55% und 11,79%; es ist dabei interessant, wie das Über-
wiegen von Knaben, das bei den Juden in Rußland be-
obachtet wurde, sich in der Auswanderung widerspiegelt.
Bei der gesamten und italienischen Einwanderung sind die
Knaben und Mädchen bedeutend schwächer vertreten: es
gibt ihrer dort nur halb so wenig wie bei den Juden.
Viel interessanter ist jedoch die zweite Altersklasse:
zwischen 14 und 44 Jahren. Was die Ledigen unter ihnen
anbetrifft, so gab es bei den Juden weniger ledige männ-
liche Personen als bei der Gesamteinwanderung, auch
weniger als bei den Italienern; es kamen im Jahre 1910 — 11
auf je 100 jüdische Einwanderer 24,9 männliche ledige Per-
sonen zwischen 14 und 44 Jahren, bei der Gesamteinwande-
rung aber 34 ; 2, bei den Italienern 34,01. Dafür aber gab es
bei den Juden mehr ledige weibliche Personen; so
kamen in demselben Jahre auf je 100 Juden 19,4 ledige
Mädchen im Alter von 14 bis 44 Jahren, bei der Gesamtein-
wanderung jedoch nur 15,7, bei den Italienern sogar nur 8.
Schon daraus allein ersieht man klar den Familiencharakter
der jüdischen Einwanderung. Während es in der Gesamt-
— 125 —
einwanderung mehr freie Männer gibt, die leichter und un-
gehinderter ihre Arbeitskraft in der neuen Heimat ver-
kaufen können, und die Mädchen schwächer vertreten sind,
ist die Anzahl der ledigen Frauen bei den Juden sehr be-
deutend; es sind meistens Töchter, die zu den jüdischen
Familien gehören. Daß dem wirklich so ist, ersehen wir aus
der Tabelle XIX (siehe p. 128), die uns über den Altersauf-
bau der ledigen Frauen in der jüdischen, gesamten und ita-
lienischen Einwanderung Auskunft gibt. Demnach gab es
unter den jüdischen ledigen Frauen im Alter von 15 — 19
Jahren im Jahre 1910 — 11 12,7°/ , bei der Gesamteinwande-
rung nur 8,3°/o» bei den Italienern sogar nur 4,2°/o- I m Alter
von 20 — 24 Jahren gab es unter den Jüdinnen fast ebenso
viel ledige Personen wie bei der Gesamteinwanderung (un-
gefähr 4 u / )i bedeutend mehr jedoch als bei den Italicnern
(4,6°/ g e £ en 2,3%). Im Gegenteil aber gab es unter den
Jüdinnen weniger ledige Personen im Alter von 25 bis 29
Jahren: 0,8°/ gegen 1,4"/,, bei der Gesamteinwanderung.
Alle diese Zahlen entrollen dasselbe Bild: auch unter den
ledigen jüdischen weiblichen Personen haben wir mehr junge
Mädchen als bei der Gesamteinwanderung und bei den Ita-
lienern, weniger dagegen alleinstehende Frauen in dem
Alter, in dem sie schon — wenigstens bei den Juden in Ruß-
land — verheiratet sind: zwischen 25 — 29. Dies ist auch
das Alter, in dem sie als Wirtschaftssubjekte für den Da-
seinskampf in Fra^e kommen.
Noch mehr interessiert uns die Rubrik der Verheirate-
ten. Hier ist es beachtenswert, daß die Differenz zwischen
dem Prozentsatz der verheirateten männlichen Personen im
Alter von 14 — 44 Jahren und dem Prozentsatz der ver-
heirateten weiblichen Personen desselben Alters bei den
Juden ganz unbedeutend ist. während bei der Gesaml-
einwanderung und den Italienern, die ja mir vorübergehend
h Amerika übersiedeln, der Pr< atz der verheirate-
ten Männer bedeutend den der verheirateten Frauen über-
steigt. So gab es im Jahre 1910 — 11 bei den Juden
13,67"; n der verheirateten männlichen Personen und 10,88%
der verheirateten weiblichen Personen in demselben Alter
(14 — 44). Die Differenz: 2,79. Bei der Gesamteinwande-
— 126 —
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— 128
Tabelle XIX.
Altersaufbau der ledigen Frauen in der jüdischen, gesamten
und italienischen Einwanderung.
I. Jüdische
Es gab unter den leci
Frauen i
m Alt
Jahr
15—19
20—24
25—29
30-
■34
absolut
in %
absolut in
absolut
in ' r,
in
1909/1910
1910/1911
8 454
11 552
10,03
12,66
3 483 4,13
4 199 4,60
IL Gesamte
626
725
0,74
0,79
171
142
0,20
0,15
1909/1910
1910/1911
60 572
73 054
5,81
8.31
39 835 3,82
40 804 4,64
IIL Italienische
14 683
12 692
1,40
1,44
5 290
4 252
0,50
0/18
1909/1910
1910/1911
5 795
7 968
2,59
4,19
4 164 1,86
4 414 2,33
1 541
1445
0,68
0.76
511
412
0,22
0,21
rung dagegen gab es 20,60°/ der verheirateten Männer und
10,01°/ der verheirateten Frauen. Die Differenz: 10,59.
Noch größer ist der Unterschied bei den Italienern:
28,48 — 10,41 = 18,7. Das heißt: bei den Juden kommen
viel mehr verheiratete Männer m i t ihren Frauen an, als bei
der Gesamteinwanderung und den Italienern. Dasselbe
können wir im Jahre 1909 — 10 wahrnehmen. Die Juden-
wanderung ist eine Familienwanderung.
Die Zahl der Witwer im Alter von 14 — 44 Jahren ist bei
den Juden, der Gesamteinwanderung und den Italienern
fast dieselbe, jedoch was die Zahl der Witwer im Alter über
45 anbetrifft, so ist ihr Prozentsatz bei den Juden (im Jahre
1910 : 0,38; im Jahre 1911 : 0,36) doch etwas höher als bei
der Gesamteinwanderung (0,25; 0,28) und den Italienern
(0,24; 0,23). Die jüdischen Witwen sind jedoch in beiden
Altersklassen stärker vertreten als unter den übrigen Ein-
wanderern. Auch die Älteren, die verwitweten Väter und
Mütter, ziehen mit den Jüngeren in die neue Heimat
herüber.
— 129 —
Die finanzielle Lage der jüdischen Einwanderer (Ta-
belle XX) zeigt uns ein lehrreiches, aber auch ein sehr trau-
riges Bild.
Tabelle XX.
Finanzielle Lage der jüdischen Einwanderer.
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1902 1903
1903 1904
1904 1905
1905 1906
19ü6 1907
1907 1908
1908 1909
1909 1910
1910 1911
2 111
5,6
13 371
3 322
5,4
24 799
3 111
5,3
19 394
2 358
4.0
19901
4 648
6,0
29 029
6 088
5,7
46 761
7 091
5,2
59 319
8 151
5,3
50 720
7 213
4,8
56 594
4 790
4,6
39 669
1 3 008
5,2
21 118
1 5812
6,8
24 832
6 962
7,6
39 069
35,7
40,7
33,3
34,5
38,0
44,0
45,6
32,9
37,9
38,3
36,6
29,4
42,9
322 713
527 163
487 787
420 252
738 866
1 601 848
1 824 617
2 362 125
1966 091
1 212 775
1223
7 480
1 968 244
8,60
58,7
8,70
53,9
8,40
61,4
7,30
61,5
9,70
56,0
15,00
50,3
14,00
49,2
15,36
61,8
13,18
57,3
12,00
57,1
13,1
58,2
! 17,4
63,8
21,5
49,5
17
15
15
16
19
26
24,5
22,81
20,80
22,60
23,0
27.0
33.4
Es kamen auf den Kopf der jüdischen Einwan-
derer zwischen 7,30 und 21,5 Dollars, während bei der
Gesamteinwanderuno jeder Einwanderer zwischen 15 und
33,4 Dollars mitbrachte. Die letzten zwei Jahre verzeichnen
eine starke Verbesserung; so erreicht gerade im letzten
Jahre die Summe des mitgebrachten Geldes (pro Kopf der
Einwanderungsbevölkerung) eine bis jetzt noch nie da-
gewesene Höhe (bei den Juden 21,5, bei der Gesamtein-
wanderung 33,4 Dollars), was wohl eher durch die strengere
Handhabung der Einwandcrungsgesctze erklärt werden
kann, als durch wirkliche Hebung des Wohlstandes. — Was
die Juden anbetrifft, so muß weiter noch der Umstand be-
rücksichtigt werden, daß bei ihnen die Zahl der Gcldträger
überhaupt eine geringere als bei der Gesamteinwanderung
NX lad W. Kaplun-Ko^an. NX jiidirbtwc^unjien. 9
— 130 —
ist, da die Juden am meisten Kinder unter 14 Jahren und
Frauen in ihren Reihen aufweisen. Jedoch stehen auch
unter Heranziehung dieses Momentes die Juden hinter der
Gesamteinwanderung zurück, obwohl sie dann nicht mehr
die ärmste Einwanderungsbevölkerung bilden. Das be-
sprochene Moment wird allerdings zum Teil durch den Um-
stand aufgewogen, daß die von den Juden mitgebrachte
Geldsumme die Grundlage ihrer dauernden Niederlassung
bilden soll, während die übrigen Einwanderer, die nur auf
gewisse Zeit nach Amerika kommen, und dazu meist ohne
Familie, weniger Ausgaben haben. Die Juden müssen eben
mit dem mitgebrachten Geld im Durchschnitt mehr Bedürf-
nisse decken, als die übrigen Einwanderer.
Die finanzielle Lage der jüdischen Einwanderung läßt
mithin noch viel zu wünschen übrig. Die Zahl derjenigen,
die 50 oder mehr Dollars mitbringen, beträgt in allen Jahren
5°/ — (abgesehen von den letzten 2 Jahren) — , die Schwan-
kungen dabei sind ganz unbedeutend. ,,Es liegt etwas Fa-
tales in diesen jedes Jahr mit fast mathematischer Genauig-
keit sich wiederholenden 5 Prozenten. Man fühlt hier die
strenge und tiefe Gesetzmäßigkeit der jüdischen Emigra-
tion" 151 . Die Konjunkturen im Aus- und Einwanderungs-
lande wechselten, das jüdische Leben selbst verzeichnete
verschiedene tiefgehende Ereignisse — aber immer kamen
in der jüdischen Einwanderung auf 95 arme nur 5 wohl-
habende Juden. Auch ist die Zahl der jüdischen Ein-
wanderer, die kein Geld hatten, sehr groß. Es gibt deren
mehr als die Hälfte aller jüdischen Einwanderer; ziehen wir
dabei den Prozentsatz der Kinder ab, so bleiben doch
25 — 30°/ der jüdischen Einwanderer übrig, die völlig mittel-
los sich in der neuen Heimat einfanden.
Wir kommen zu der wichtigen Frage der beruf-
lichenGliederung der jüdischen Einwanderung. Die
amerikanische Statistik unterscheidet nur 4 Gruppen: 1. An-
gehörige der freien Berufe, 2. gewerblich Vorgebildete,
3, Angehörige verschiedener Berufe und 4. Berufslose.
— 131 —
Aus der Tabelle XXI ersehen wir nun, daß es in der
üdischen Einwanderungsbevölkerung in der Zeit von
Tabelle XXI.
Berufliche Gliederung der jüdischen Einwanderer.
Jahr
An^ehöri^e der Gewerblich Angehörige p r 1
freien Berufe Vorgebildete versch. Berufe
absolut I %
absolut
\>
absolut
absolut %
1888 1889
1889/1900
1900 1901
1901 1902
1902/1903
1903 1904
1904 1905
1905 1906
1906 1907
1907 1908
1908 1909
1909 1910
1910,1911
197
253
294
295
499
843
1 163
1 094
1 045
713
456
619
736
0,50
0,40
0,50
0,50
0,60
0,80
0,90
0,71
0,70
0,68
0,79
0,73
0.80
12 276
21 047
18 352
17 841
27 071
45 109
60 135
51 141
55 552
36 193
18 219
32 887
39 092
32,8
5 253
14,3
19 689
34,7
9 -18 1
15,6
29 980
31,6
7 745
13,3
31 707
i 30,9
13616
23,6
25 952
35,50
17 481
22,8
31 152
42,5
21 799
20,5
38 485
46,3
21 741
16,7
46 871
33,2
24 370
15,80
77 143
37,2
23 673
16,00
68912 ;
35,0
19 759
19,1
46 722
; 31,6
9 761
16,9
29 115
I 39,0
12 307
14,6
38 447
| 42,9
13 170
14,4
38 225
52,5
49,3
54,5
45,0
40,9
36,2
36,0
50,0
46,17
45,2
50,8
45,7
41,9
Sa. I 8 207 | 0,70 434 915 37,3 200 159 17,2 522 400 44,8
1888—89 bis 1910-11 8 207 Angehörige der freien Berufe
gab, d. h. 0,70" () der gesamten jüdischen Einwanderung
dieser 13 Jahre, 434 915 gewerblich \ ildete, d. h.
37,3°/ n ; 200 159 Angehörige verschiedener Berufe, d. h.
17,2°/ () , und 522 400 Berufslose, d. h. 44,S
Die große Zahl der Berufslosen fällt sofort auf: sie
machen in einem .Jahre (1900 01) sogar 54,5"/,, aus und
ihre Zahl sinkt nur im Jahre 1 c ?04- 05 auf 36% der gesam-
ten jüdischen Einwanderung.
In Wirklichkeit ist jedoch die Zahl der
Berufslosen in der jüdischen Einwande-
rung bedeutend kleiner. Der ungewöhnlich hohe
Prozentsatz der rohen Statistik des Commi .-r-Gcneral
— 132 —
Ol Immigration erklärt sich leicht durch den bekannten
Mangel der amerikanischen Einwanderunßsstatistik. Dil
Mangel besteht aber darin, daß bei der beruflichen Gliede-
rung der Einwanderer nicht nur Erwachsene und Erwerbs-
tätige gezählt werden, sondern die ganze Masse der Ein-
wanderer, Kinder und Frauen mitgerechnet.
Nun ist es natürlich, daß bei den Juden, die eine so große
Anzahl von Kindern und Frauen aufweisen, der Prozentsatz
der Berufslosen eine ganz ungewöhnliche Höhe erreicht.
Um nun den wirklichen prozentualen Anteil der Be-
rufslosen an der jüdischen Einwanderung festzustellen,
wollen wir nach der Methode verfahren, die zuerst Dr. K.
Vornberg in seiner ausgezeichneten Arbeit über die
„Jüdische Emigration" angewendet hat. Er nimmt an, daß
die Kinder unter 14 Jahren in die Rubrik der Berufslosen
nicht hineingehören und zieht deshalb den prozentualen
Anteil der Kinder an der Einwanderung von dem Pro-
zentsatz der Berufslosen ab. Hier ist die Umrechnung
einfach, komplizierter wird sie in Bezug auf die Frauen.
Natürlich wäre es nicht richtig, alle Frauen von dem Pro-
zentsatz der Berufslosen einfach abzuziehen. Das Maß
muß hier das Verhältnis zwischen den erwerbstätigen Män-
nern und Frauen abgeben. Nun gab es nach der Materia-
liensammlung der ICA in Rußland auf 500 986 jüdische
Handwerker 76 548 jüdische Frauen, die im Handwerk tätig
waren, was 15,26°/ aller im Handwerk tätigen Personen
ausmacht. „Das heißt, daß bei der gleichen Zahl von Män-
nern und Frauen unter den letzteren etwa 6 2 / 3 mal so viel
Personen ohne bestimmten Beruf gibt, als bei den Män-
nern" 152 . Doch ist dies Verhältnis in verschiedenen Län-
dern ein verschiedenes. Vornberg nimmt nun das Ver-
hältniss 1 zu 4 an und setzt voraus, daß sich unter den ge-
werblich Vorgebildeten 25% erwerbstätiger Frauen befin-
den. Als Basis für das Verhältnis zwischen den Geschlech-
tern in der Einwanderung werden 37% Frauen und 63%
Männer angenommen.
Die Umrechnung zeigt nun folgendes Bild der wirk-
lichen Zahl der Berufslosen in der jüdischen Einwande-
rung (Tabelle XXII siehe p. 133). Statt der Zahl 36—54,5%
— 133 —
Tabelle XXII.
Die Zahl der Berufslosen in der jüdischen Einwanderung.
Jahr
Nach dem
Bericht
Prozent-
sat/ der
Kinder
Es gab
utcn
über 37" „
Nach dem
Verhältnis
1 : 4
Darnach be-
trägt der
rutiatz
d. Berufsloa.
1888 1899
52
28
(6
4 1 /,)
—
20
1899 1900
49
—
21
—
(3
—
2' 4 )
=
25 3 /4
1900/1901
54':
—
25
—
(7
5 1 j
=
24'.
1901/1902
45
—
26
—
(6
—
4S)
=
14",
1902,1903
41
—
25
—
(5
=
=
12' 4
1903,1904
36
—
22
—
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1 •)
=
12',
1904 1905
36
—
22
(-
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14
1905 1906
50
—
28
—
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1906 1907
46
—
25
—
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14'.
1907 1908
45
—
25
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1908/1909
51
—
26
—
(9
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18.
1909 1910
46
—
26
—
(8
6 »
=
14
1910 1911
42
—
24
—
(9
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sehen wir ll 3 /, — 25 3 / 4 °/ , wobei es nur in den Fiskaljahren
1899-1900 und 1900 -1901 mehr als 20" „ Berufslose
gab. Sonst schwankt der Prozentsatz der
jüdischen Berufslosen zwischen ll 3 / 4 und
Natürlich ist die vorgenommene Umrechnung nicht ganz
genau; doch ist die Differenz nicht groß, und man kann
jedenfalls getrost behaupten, daß die jüdische Einwande-
rung in dieser Beziehung nichts Anormales darstellt. Ihr
ausgesprochener Arbeitercharakter tritt hingegen klar und
deutlich hervor, wenn wir andere soziale Gruppen betrach-
ten. Die Juden gehen nämlich nach Amerika nicht als
Glückssucher, sondern vor allem, um zu arbeilen. Dies wird
noch bekräftigt durch den Vergleich, den wir zwischen der
bcruflichenGliederuno der jüdischen Einwanderungsbevöll
rung und der der anderen Nationalitäten (im Jahre 1910- 11)
ziehen. Es ist im höchsten Mille beachtenswert, daß die
Juden, was die Zahl der gewerblich Vorgebildeten anbe-
trifft, an der Spitze aller Nationen stehen (mit 42,9 n / )
— 134 —
(Tabelle XXIII). An die /weile Stelle kommen die Schot-
ten mit 35°/ . Im Gegensatz hierzu ist die Klasse der
Angehörigen verschiedener Berufe bei den Juden am
schwächsten vertreten (hier stehen sie an der letzten Stelle);
Tabelle XXIII.
Berufliche Gliederung verschiedener Nationalitäten in der Ein-
wanderung im Jahre 1910 1911.
Nationalität
Angehörige
der freien
Berufe
absol. in %
Gewerblich
Vorgebildete
absolut in °
Angehörige
verschieden.
Berufe
absolut in '/,
Berufslose
absolut in /
Afrikaner
,
,
113
1,7
Armenier . . .
52
1,7
Böhmen u. Mähren
93
1,0
Bulgaren, Serben u.
Montenegriner .
13
0,1
Chinesen ....
100
7,7
Kroaten und Slo-
vaken ....
25
0,1
Dalmaten, Bosnier
u.Herzegowiner
17
0,4
Holländer und
Flamländer . .
317
2,3
Engländer . .
2 749
4,8
Finnländer .
56
0,6
Franzosen
817
4,5
Deutsche . .
1893
2,9
Griechen . .
121
0,3
Juden . . .
736
0,80
Irländer .
712
1,8
Italiener .
933
0,5
Japaner .
180
3,9
Lithauer .
18
0,1
Ungarn
129
0,6
Mexikaner
251
1,4
Polen . .
170
0,2
Portugiesen
31
0,4
Rumänen .
17
0,3
Russen
153
0,8
Ruthenen
23
0,1
Skandinavier
702
1,5
Schotten .
778
3,0
Slovaken .
7
0,03
Spanier «
191
2,4
Türken
17
1,9
1 634 24,3
741 24,0
2 455 26,6
514
11
1049
236
2 314
16 628
892
3 379
13 435
2 407
39 092
6 267
21052
88
113
1640
1554
5 384
356
213
1216
431
9 161
8 933
674
2 312
83
5,0
0,8
5,5
5,4
16,7
!29,0
9,1
! 18,6
; 20,2
6,5
42,9
15,6
11,0
1,9
0,7
8,3
8,3
7,5
4,8
4.0
6,5
2,5
20,0
35.0
3.2
28,7
9,0
3 811 56,7
1 794 58,0
3 482 37,8
8851
898
14 223
3 715
5 114
14 585
6 681
6 621
25 874
31407
13 170
26 596
118 119
1742
12 887
11 525
8 635
50 181
4 823
4 064
15 337
14 928
28 107
6 645
15 612
3 512
723
86,6
68,7
74,9
84,4
36,9
25,5
70,4
36,5
38,9
84,8
14,4
66,1
62,0
38,3
80,4
57,6
46,0
70,2
64,6
76,6
81,9
84,2
61,3
26.0
72,9
43,5
78,8
1 163
505
3 193
844
298
6 117
23 2%
1950
7 315
25 269
3 086
38 225
6 671
49 846
2 565
3 009
6 702
8 344
15711
2 259
1017
2015
2 342
7 889
9 269
5 122
2 044
95
17,3
16,3
34,6
8,3
22,8
3 685 19,9
432 9,8
44,1
40,7
19,9
40,4
38,0
8,5
41,9
16,6
26,6
56,0
18,8
33,5
44,5
21,9
30,2
18,5
10,8
13,2
17,2
36,0
23.9
25,4
10,3
— 135 —
dies kann übrigens leicht dadurch erklärt werden, daß die
Rubrik der Angehörigen verschiedener Berufe auch die der
landwirtschaftlichen Arbeiter enthält, welche ja, wie be-
kannt, in der jüdischen Einwanderung eine ganz unbedeu-
tende Rolle spielen.
Die Zahl der Angehörigen der freien Be-
rti f e in der jüdischen Einwanderung ist nicht groß; ihr pro-
zentualer Anteil beträgt nur 0,70°/,,, obwohl es ihrer in der
jüdischen Bevölkerung Rußlands viel mehr gibt (5,22 0/ n ).
Ihre Lebensbedingungen sind eben noch verhältnismäßig
gut, und ihr Bedürfnis auszuwandern, ist nicht so groß.
Außerdem sind es schließlich nur Einzelne, die sich in freien
Berufen auch in Amerika durchsetzen können. Es lohnt
sich jedoch, zu untersuchen, welche von den freien Berufen
an der Auswanderung am meisten beteiligt sind. Man be-
kommt dadurch nicht nur einen näheren Einblick in die so-
ziale Struktur der jüdischen Wanderungen, sondern auch
manche recht interessante Aufschlüsse über das Leben der
jüdischen Intelligenz Rußlands.
Die Lehrer und die Musiker sind es nun, die innerhalb
der freien Berufe in der jüdischen Einwanderung domi-
nieren: die erstcren mit 29,6°/ und die le!ztcrcn mit 21,3°/<.-
(Tabelle XXIV siehe p. 136). Vergleichen wir ferner die
Stärke verschiedener Berufe in der Einwanderung im Laufe
der letzten 13 Jahre mit derjenigen in Rußland (Tab. XXV
siehe p. 137), so fällt uns vor allem die unverhältnismäßig
starke Auswanderung der Vertreter von Wissenschaft, Lite-
ratur und Kunst auf: sie wandern 12 mal so stark aus, als
sie eigentlich ihrer Stärke im Hcimatslande gemäß aus-
wandern sollten; sie machen in der Auswanderung 48,7°/ n
aus, während ihr prozentualer Anteil an der jüdischen Be-
völkerung Rußlands nur 4.2" ,, beträgt. In der Tat wandern
die Vertreter von Wissenschaft. Literatur und Kunst noch
stärker aus, als hier angegeben ist: denn die Zahlen be-
ziehen sich nur auf die Vereinigten Staatenf während, wie
bekannt, eine beträchtliche Zahl von Gelehrten, Schriftstel-
lern und Künstlern in allen Großstädten des Kontinents sich
dauernd aufhalten.
Die Besten des Volkes, seine Führer, angeekelt von den
— 136 —
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— 137 —
Tabelle XXV.
Freie Berufe bei den Juden :
Beruf
I in KulJl.ind
(nach der \ olks-
/.dilung vom
Jahre 1897)
absolut
II. in der jüd. Kmwande-
runjj im Laufe von 13
Jahren (1899-1411)
absolut
Notare, Advokaten und deren Hilfs-
personal
Geistliche und geistliche Beamte
Unterricht und Erziehung .
Wissenschaft, Literatur und Kunst
Öffentliche Gesundheitspflege
Wohltätigkeitspflege
Zusammen
1037
1.5
20 135
29,0
35 273
50,9
2 870
4,2
9 770
14,1
197
0,3
48
380
2 428
3 997
301
andere , O co
Beruf«: l UDJ
0,6
4,6
29,6
48,7
3,7
12,8
69 282 100,0
8 207 100,0
unausgesetzten Unterdrückungen und Scherereien, ver-
lassen das Land, um auf neuem Boden, in fernen Ländern,
sich ein besseres, ein glücklicheres Dasein zu erkämpfen.
Ziemlich stark ist ferner die Auswanderung der jüdi-
schen Lehrer (29, 6°/,,, in Rußland dagegen machen sie
50,9° o der Angehörigen liberaler Berufe aus, was ja weiter
nicht Wunder nehmen kann; denn es sind meistens gar keine
berufsmäßigen Lehrer, sondern Angehörige verschiedener
Berufe, die nur irgend ein unglückliches Geschäft oder sonst
ein böser Schlag zum Lehrer gemacht hat. Jedenfalls ist es
aber für die jüdische Masse Rußlands nicht gerade von Vor-
teil, daß ihre Erzieher in so großer Zahl das Land verlassen.
— Besser scheint die Lage der Geistlichen zu sein, noch
besser die der Rechtsanwälte und der Ärzte. Es ist übri-
gens charakteristisch, mit welch merkwürdiger Schnelligkeit
und fast mathematischer Genauigkeit die Auswanderung all
die Vorgänge im Leben der .luden in Rußland widerspiegelt:
so schwankte lange Zeit hindurch die Zahl der einwandern-
den Rechtsanwälte jährlich zwischen 3 und 6, um plötzlich
auf 14 emporzuschnellen tu in dem Jahre (1910 — 11),
in dem man dem jüdischen Rcchtsanwaltstande neue und
starke Beschränkungen auferlegte.
— 138 —
Von den Angehörigen verschiedener Berufe [ntd
ren uns am meisten die Handeltreibenden. Leider
gibt uns die amerikanische Statistik gar keine Aufschlüsse
über die Art und Größe des Handels, dem die mu h Amerika
einwandernden jüdischen Handeltreibenden angehören. Daß
aber der Geldhandel dabei gar zu wenig vertreten ist,
geht daraus hervor, daß die Zahl der Bankiers, die nach
Amerika im Laufe der letzten 13 Jahre einwanderten, nur
50 beträgt, was 0,004°/,, der gesamten jüdischen Einwande-
rung und 0,09°/ aller Handeltreibenden ausmacht (Tabelle
XXVI siehe p. 139). In Rußland macht der Geldhandel
0,15°/ der gesamten jüdischen Bevölkerung aus.
Wir wissen schon, daß neben den Handwerkern
(38,65%) die Handeltreibenden (35,43°/ ) fast 2 /, der jüdi-
schen Bevölkerung Rußlands ausmachen. Der prozentuale
Anteil dieser zwei sozialen Gruppen an der Auswanderung
ist jedoch sehr verschieden. Während sie in Rußland fast
gleichmäßig vertreten sind, kann man dies von ihrer Zahl in
der jüdischen* Einwanderung nicht sagen.
So ersehen wir aus der Tabelle XXVI (siehe p. 139),
daß der prozentuale Anteil der Handeltreibenden in der
jüdischen Einwanderung zwischen 4% und 5°/ schwankt und
im Laufe der letzten 13 Jahre durchschnittlich 4,6°/ aus-
macht, d. h.: daß die Handeltreibenden sich 8 mal so wenig
an der Auswanderung beteiligen, als sie sich eigentlich ihrer
Stärke im Auswanderungslande gemäß beteiligen sollten.
Das ist umso befremdender, als, wie wir schon gesehen
haben, die ökonomische Lage der Handeltreibenden in Ruß-
land nicht gerade als eine glänzende zu bezeichnen ist, und
sie ebenso unter der Unterdrückung zu leiden haben, wie
etwa die jüdischen Handwerker. Der prozentuale Anteil
der gewerblich Vorgebildeten in der jüdischen Einwande-
rung (in der Zeit von 13 Jahren 37,3°/ ) entspricht aber voll-
ständig der Zahl der jüdischen Handwerker in Rußland
(35,43%).
Wie Vo r n b e r g treffend bemerkt, kann uns diese
Erscheinung viel lehren, vor allem aber muß sie uns dazu
führen, die jüdische Auswanderung nicht als eine zufällige,
sporadische Erscheinung zu betrachten, sondern als eine
— 139
Tabelle XXVI.
Zahl der Handeltreibenden in der jüdischen Einwanderung.
Jahr
Kaufleute
und
Händler
Kommis,
Buchhalter
u. HurnkU
jjtlivilfcn
E
|
C
1
Insgesamt
In "/„ zu
der jüd.
Einwan-
derung
1888/1889
1 307
392
1 699
4,5
1899 1900
1 917
490
3
2410
3,9
1900/1901
1 999
626
—
2 625
4,5
1901/1902
2 246
553
2 799
4.8
1902/1903
2 363
1066
1
3 430
4,5
1903/1904
3 464
1 864
7
5 335
5,02
1904/1905
4 596
2 543
5
7 144
5,4
1905/1906
3 495
2 370
10
5 875
3,8
1906 1907
3 534
2 497
3
6 034
4,04
1907/1908
2416
2 035
6
4 457
4,3
1908/1909
1 574
1 106
8
2 688
4,6
1909 1910
2 580
1 906
4
4 490
5,3
1910 1911
2 635
2 294
3
4 932
5,4
Sa.
34 126
19 742
50
53 918
4,6
„ernste, tiefe und gesetzmäßige Erscheinung des jüdischen
Lebens".
Außerdem ist es klar, daß die Ursachen der jüdischen
Auswanderung nicht allein in der politischenUnterdrückung,
Rechtlosigkeit und Furcht vor den Pogromen liegen können.
Denn damit kann man offenbar nicht die Tatsache erklären,
warum zwei verschiedene soziale Gruppen, die unter der
Unterdrückung gleich leiden, nichtsdestoweniger ganz ver-
schieden sich an der Auswanderung beteiligen. Die recht-
liche Unterdrückung kann insbesondere hier nichts erklären,
da es ja gerade die jüdischen Handwerker sind, welche —
wenigstens auf dem Papier — die Freizügigkeit in Rußland
haben, der Handelsstand aber in der Tat viel mehr Be-
schränkungen unterworfen ist, als der der Handwerker.
Somit kommen wir mit Erklärungen, die in der recht-
lichen Lage der Juden in Rußland begründet sind, nicht aus.
— 140 —
Ruppin haf nun versucht, die Erscheinung durch ge-
wisse rationelle Motive zu erklären. , .Bemerkenswert ist
die geringe Zahl von Händlern und Kaufleuten, die davon
Zeugnis geben, daß die Auswanderung doch wenigstens
einigermaßen von rationellen Motiven geleitet wird, da in
den Vereinigten Staaten der jüdische Handwerker aus Ost-
europa immer noch bessere Chancen hat, als der
Händler" 163 .
Diese Erklärung ist schon zutreffender, obwohl es sehr
riskant ist, die Anteilnahme irgend einer sozialen Gruppe
an der Auswanderung nur durch die Verhältnisse im E i n -
w a n d e r u n g s lande erklären zu wollen. Zwar sind sie
von einer ganz großen Bedeutung und bestimmen meistens
das Ziel der Wanderer; — die Grundursache der Auswande-
rung aber liegt immer nur im Auswanderungs lande.
Und nun erinnern wir an das, was wir in dem einleiten-
den Kapitel zu der dritten Periode ausgeführt haben. Der
jüdische Händler ist auf die Masse seiner Volksgenossen
angewiesen, die mit ihm die gleiche Sprache
sprechen; er spricht unmittelbar mit dem Konsumenten,
sein Wirkungsgebiet fällt örtlich zusammen mit den Gren-
zen der nationalen Sprache. Deshalb wechselt dieser jüdi-
sche, wohl bemerkt: Kleinhändler nicht gerade gerne seinen
Absatzmarkt; er hält sich an seine Kunden und hofft immer,
in der alten Heimat noch vorwärts zu kommen. Außerdem
aber, — was vielleicht noch wichtiger ist, — kann man mit
einer gewissen Sicherheit behaupten, daß die ökonomische
Entwickelung Rußlands das Aufblühen des Kaufmanns-
standes herbeiführen wird. Dieser Meinung ist auch Vorn-
berg. Leider fehlen einstweilen jegliche statistische An-
gaben, die als Beweis hierfür vorgebracht werden könnten,
so daß man nur aus der Entwickelung anderer Länder auf
die zukünftige Entwickelung Rußlands schließen kann. Und
von der Vermehrung der Händlerschaft sagt Sombart:
,,Eine solche ist in der Tat in allen Ländern fortschreitender
Kultur eingetreten und zwar mit solcher Regelmäßigkeit,
daß wir geradezu den Anteil der Handel treibenden Be-
völkerung an der Gesamtbevölkerung als einen Gradmesser
der wirtschaftlichen Entwickelung betrachten können" 154 .
— 141 —
Daher ist es der jüdische Kaufmannsstand, der vor
allen anderen sozialen Gruppen des jüdischen Volkes am
meisten von der zukünftigen Entwickelung Rußlands zu er-
warten hat, weshalb er auch in so geringer Zahl auswandert.
Anders steht es mit dem jüdischen Hand-
werk. Hier führt die ökonomische Entwickelung und die
Vervollkommnung der Produktionstechnik zur ununter-
brochenen Schmälerung des Absatzgebietes der Handwerker
und verdrängt sie mehr und mehr aus der Produktion des
Landes. Die Masse der jüdischen Handwerker, die zu
Arbeitslosen herabsinken, wird deshalb größer und größer,
und sie sind es, die so stark die Reihen der jüdischen Aus-
wanderer füllen. ,, Während der Krise von 1902 ist ein
Drittel der Bjalostoker jüdischen Weber emigriert" lM .
46,3 ( 7„ aller Juden, die seit dem 1. Juli 1904 bis zum 30. Juni
1905 nach Amerika einwanderten, waren Handwerker. Aber
auch in den vorhergehenden und nachfolgenden Jahren war
der prozentuale Anteil der jüdischen Handwerker an der
Einwanderung kein geringer. Wie die Tabelle XXI (siehe
oben p. 131) zeigt, waren es gewerblich Vorgebildete, die
37,3"/,, aller Juden bildeten, die im Laufe von 13 Jahren
(1889— -1911) nach Amerika einwanderten. Somit aber bil-
den die Handwerker die Hauptarmee der jüdischen Ein-
wanderung.
* Es wäre eine höchst interessante Aufgabe, die verschie-
denen Gewerbezweige aus der Masse der gewerblich Vor-
gebildeten herauszugreifen und ihren prozentualen Anteil
an der Auswanderung mit demjenigen zu der Zahl aller
Handwerker resp. der gesamten jüdischen Bevölkerung in
Rußland zu vergleichen. Wir beschränken uns jedoch auf
die im jüdischen Leben so wichtigen Gebiete des Beklei-
dungsgewerbes und der Lederbearbeitung.
So ersehen wir aus der Tabelle XXVII (siehe p. 142),
daß die Zahl der im Bekleidungsgewerbe beschäftigten Per-
sonen 178 070 beträgt, d. h. 35,53",,, aller jüdischen Hand-
werker Rußlands (nach der Enquete der ICA). Nach der
— 142
Tabelle XXVII.
Zahl der jüdischen Handwerker im Bekleidungsgewerbe.
Art des Gewerbes
absolut
tu der
Zahl aller
Hand-
werker
Schneider . .
Schneiderinnen .
Weißnäher. , .
Weißnäherinnen .
Putzmacherinnen
Hutmacher . .
Strumpfwirker .
Kürschner . . ,
Posamentierer
Färber . . . ,
Friseure . . .
Andere . . . .
Gewerbe, die in der amerikanischen
Statistik nicht vorhanden sind . .
95 845
32 619
1 640
17 331
4 125
16 254
7 242
4 202
2 337
6 112
6 054
193
193 954
15 884
178 070
19,13
6,51
0,33
3,45
0,82
3,24
1,45
0,84
0,47
1,22
1,21
0,04
38,71
31,8
35,53
amtlichen Volkszählung aber sind in der Bekleidungsindu-
strie nicht weniger als 254 384 (202 714 Männer und 51 670
Frauen) erwerbstätig. Einschließlich der Angehörigen be-
trägt die Zahl der aus der Bekleidungsindustrie ihren Erwerb
ziehenden Juden 782 454, d. h. 15,46°/ der gesamten jüdi-
schen Bevölkerung Rußlands.
Tabelle XXVIII (siehe p. 143) gibt nun Auskunft über
die Zahl der im Bekleidungsgewerbe beschäftigten Hand-
werker in der jüdischen Einwanderung und zwar im
Laufe von 13 Jahren (1889 — 1911). Demnach bilden sie
19,87% der gesamten jüdischen Einwanderung und 52,91%
aller gewerblich Vorgebildeten.
Das Resultat ist gerade dem entgegengesetzt, das wir
aus der Betrachtung der Anteilnahme des Kaufmannstandes
in der jüdischen Einwanderung bekommen haben. Die im
Bekleidungsgewerbe tätigen Handwerker beteiligen sich an
der Einwanderung nach Amerika in viel stärkerem Maße,
als sie sich nach ihrer Stärke im Heimatslande eigentlich
— 143 —
Tabelle XXVIII.
Bekleidungsgewerbe in der jüdischen Einwanderung.
Art des Gewerbes
1888/
1889
1900/
1901
1902/
1903/
1904/
1905/
1889
1900
1901
1902
1903
1904
1905
1906
Schneider ....
3664
7031
5981
6110
9223
16426
22334
18418
Schneiderinnen .
—
—
—
1346
1589
2271
Weißnaherinnen
947
1300
1811
1704
3315
2468
2068
3574
Putzmacherinnen
—
—
—
—
—
101
273
488
Hutmacher
—
—
—
—
683
1009
718
Priscure ....
141
177
164
172
266
403
578
594
Kürschner ....
410
620
530
1 O/o der
"0 der
\rt des Gewerbes
1906/
1907/
1908/
1909
1910'
Ins- Gesarnt-
Gewerb-
1907
1908
1909
1910
1911
ocsamt t->n*»n-
derunjj
lich \ or-
gebildet.
Schneider ....
21779
14882
6862
12552
12681
157953 13,55
36,51
Schneiderinnen .
4790
2310
1367
2630
4708
21011 2,41
6,21
Weißnaherinnen
2087
1268
892
1745
3335
26514 2,27
6,09
Putzmacherinnen
644
337
142
306
545
2836 0,32
0,83
Hutmacher
594
433
232
401
502
4572 0,52
1,35
Friseure ....
577
361
233
388
496
4550 0,39
1,04
Kürschner ....
521
373
267
423
527
3671 0,41
1,08
221107 19,87
52,91
Anm. Das Fehlen der Angaben für die Jahre 1889 — 1903 für
einige Gewerbearten erklärt sich dadurch, dnß bis zum Jährt 1903 die
Spezialisierung der verschiedenen Gewerbcartcn nicht genügend durch-
geführt wurde.
beteiligen sollten. So bilden sie 15,46% der gesamten
jüdischen Bevölkerung Russlands, dagegen 19,87% der ge-
samten jüdischen Einwanderung; sie bilden ferner 35,53",,
aller jüdischen Handwerker Rußlands, dagegen 52,91% aller
gewerblich Vorgebildeten in der jüdischen Einwanderung.
Was die Zahl der in der Lederbcarbcitung beschäftigten
Juden anbetrifft, so machen sie, wie die Tabelle XXIX (siehe
p. 144) zeigt, 17,04° u aller jüdischen Handwerker Russlauds
— 144 —
Tabelle XXIX.
Lederbearbeitiin** in Rußland (nach der Knquete der ICAj,
Art des Gewerbes
Absolut
In ' zu der
Zahl aller
Handwerker
Schuhmacher, Stiefelmacher und
Gerber und Schaffellgerber ....
Riemer, Sattler und Koffermacher . .
Andere Gewerbearten in der Leder-
71 856
7 063
1410
4 964
13
14,35
1,41
0,28
1,00
0,002
85 306
17,04
Tabelle XXX.
Lederbearbeitung in der jüdischen Einwanderung.
Art der Gewerbe
oo
oo
OO
S
o
oo
c
o
o
o
o
c*
o
o
•*<
o
c*
n
o
c*
m
o
c*
T
o
o
c*
m
o
er
o
o
o
er
00
er
o
9
c*
3
©
9
o
O
o
i
■
i
M
■
c
<r. —
- :
u 9
■stS
Sattler und Pferde-
geschirrmacher
58
118
104
109
206
281
358
256
308
231
104
178
188
2 449
0.21
0,56
Schuhmacher . . .
1111
1618
1284
1285
1614
2763
3824
2353
2606
1981
1125
1955
1829
25 348
2,17
5.82
Gerber und Leder-
arbeiter ....
165
539
341
270
497
347
531
254
240
203
103
225
237
3 952
0,33
0.91
31 749
2,71
7,29
aus. Diese Zahlen sind der Entquete der ICA entnommen.
Die amtliche Volkszählung vom Jahre 1897 aber verzeichnet
nur 72220 der in den Industrien animalischer Producte be-
schäftigten Juden, was nur 1,43% ausmacht. Trifft die
amtliche Volkszählung das Richtige, so wäre die Auswande-
rung der in der Lederbearbeitung beschäftigten Juden
zweimal so groß, wie ihr prozentualer Anteil an der jüdischen
Bevölkerung Russlands: denn sie machen 2,71% der ge-
samten jüdischen Einwanderung der letzten 13 Jahre aus,
während es ihrer in Russland nur 1,43% gibt. Jedenfalls
ist die Auswanderung dieses Gewerbes sehr beträchtlich.
Dreizehntes Kapitel.
Allgemeiner Charakter der Periode.
Wenn man die Wanderungen der dritten Periode in
Zusammenhang mit den Wanderungen der vorhergehenden
Perioden bringt, so füllt dem Beobachter sofort die merk-
würdige Tatsache auf, daß die Juden die Richtung ihrer
Wanderungen, der sie fast 18 Jahrhunderte hindurch treu
geblieben waren, plötzlich verließen, um eine ganz entgegen-
gesetzte Richtung einzuschlagen. So können im Gegensatz
zu den früheren, die jüdischen Wanderungen der Neuzeit
dahin charakterisiert werden, daß es die Wanderun-
gen aus den Ländern mit niedrigster wirt-
schaftlicher Kultur in die ökonomisch
fortgeschrittensten Länder sind.
Welches sind die Ursachen dieser Erscheinung?
Nun, zuerst kommt ein rein, wir möchten sagen: kultur-
geographisches Moment in Betracht. Nämlich die Tatsache,
daß, rein geographisch genommen« mit dem europäischen
Rußland, oder richtiger mit dem Uralgebirge, das Gebiet der
Kulturvölker aufhört und die Gegenden anfangen, die im
großen und ganzen erst kultiviert, urbar gemacht werden
müssen. Die Juden aber eigneten sich lür eine solche Ur-
barmachung der Länder nie und eignen sich auch heute nicht
dafür. Im Gegenteil g sie immer in Länder, die schon
eine gewisse wirtschaftliche Stute erreicht hatten« und wo
sich für sie irgend welche- wirtschaftliche Betätigung fand.
Einem Agrarvolkc das zu vermitteln, was es gerade seiner
Natur als Agrarvolk nach nicht zu leisten im Stande ist —
das war eine Aufgabe für die luden. Sie stellen aber keines-
wegs das Menschcnmateria' dar, das sich erst für die Schaf-
fung eines A<;rarstandcs eignete; Wohlbemerkt: eines Agrar-
staates, in dein die Urproduktion, der rohe Getreidebau
und die vorhergehende Rodung die Hauptaufgabe der Neu-
angesicdelten ist. Für so etw die russischen Bauern
natürlich viel besser, weshalb auch die innere Kolonisation
Sibiriens mit russischen Bauern eine der vornehmsten Auf-
W1«J. \X K.»plun-Ko£an. Wander!<ew«£uagfD 10
— 146 —
gaben der russischen Agrarpolitik bildet, es fällt aber kei-
nem Menschen ein, durch Massenübersiedelung der Juden
nach Sibirien ihrer ökonomischen Notlage im Ansiedlun^s-
rayon abhelfen zu wollen.
Zu diesem kultur-geographischen Momente gesellte sich
noch ein politisches, das darin bestand, daß den Juden der
Aufenthalt in Sibirien und im asiatischen Rußland über-
haupt verboten wurde.
Somit blieb für die breiten Massen des jüdischen Vol-
kes, bei denen das Bedürfnis nach Auswanderung sich so
mächtig geltend machte — und dies glauben wir im Vorher-
gehenden nachgewiesen zu haben — nur noch ein Weg:
nämlich von nun an nicht mehr in der Richtung nach Osten,
sondern in der nach Westen.
Weshalb aber haben sich die Juden gerade nach Eng-
land und den Vereinigten Staaten von Amerika gewendet?
Nun eben deshalb, weil nur diese Länder mit ihrer weit
fortgeschrittenen kapitalistischen Entwickelung die breiten
Arbeitermassen des jüdischen Volkes aufnehmen konnten.
Es ist bekannt, daß die Juden in England und Amerika
hauptsächlich in der Bekleidungsindustrie beschäftigt sind.
Diese Bekleidungsindustrie aber kann nur deshalb so große
Massen von Juden beschäftigen, weil die allgemeine wirt-
schaftliche Entwickelung die großen Absatzmärkte schon
vorher geschaffen hat. Außerdem setzt die Produktions-
art, die in dieser Bekleidungsindustrie herrscht, das
„Sweating-system, das möglichste Maß der Ausbeutung
und die schlechtesten Arbeitsbedingungen voraus. Die or-
ganisierte Arbeiterschaft der großen Kulturstaaten aber läßt
sich auf solche Arbeitsbedingungen nicht ein, weshalb auch
die Juden den betreffenden Industriezweig allein für sich in
Anspruch nehmen konnten. ,,Denn was die hochentwickel-
ten modernen Industriestaaten, wie die Vereinigten Staaten,
zum Ziele der jüdisch-proletarischen Wanderung machte, ist
die Möglichkeit, in die Wagschale des harten Konkurrenz-
kampfes ihr niedriges Lebensniveau und ihre ärmeren An-
sprüche zu werfen" 156 .
Der veränderte Gang der jüdischen Wanderungen, wie
wir ihn in den letzten 30 Jahren beobachten können, ist für
— 147 —
die ganze Gestaltung des jüdischen Lebens der Gegenwart
von eminent großer Bedeutung.
Das Ausschlaggebende ist dabei, daß die Juden nicht
mehr - wie es in den früheren Jahrhunderten der Fall war
— die Träger des wirtschaftlichen Fortschrittes, sondern, im
Gegenteil, die des wirtschaftlichen Rückschrittes sind. Wir
haben schon gesehen, daß die Juden in früheren Epochen
die wirtschaftlichen Funktionen ausübten, die in der Folge
der Entwickelung zu den grundlegenden und wichtigsten im
Wirtschaftsleben der Völker geworden waren. Das ökono-
mische Gebiet, auf dem die Juden sich anfangs betätigten,
wurde schließlich zur Grundlage der Blüte und der Macht
der Völker.
Anders ist es in der Gegenwart. Denn mag die jüdi-
sche Hausindustrie Englands undAmerikas für diese Länder
von noch so großer Bedeutung sein, in ihrer heutigen Form
muß sie doch als rückständig bezeichnet werden.
Jedenfalls steht fest, daß die Juden, oder sagen wir
lieber die jüdischen Wanderer der Neuzeit, nicht mehr den
wirtschaftlichen Fortschritt repräsentieren. Oder man kann
auch sagen: die Juden haben keine wirtschaftliche Mission
mehr.
Dadurch aber sind die Juden dahin gebracht worden,
sich den inneren sozialen Problemen des jüdischen Lebens
zuzuwenden. Handelte es sich am Anfang der Judeneman-
zipation vornehmlich darum, sich das Herrcnvolk sozusagen
zu verpflichten, indem man für sein Wirtschaftsleben etwas
Großartiges und Hervorragendes leistete und so hoffen
durfte, mit ihm allmählich zu verschmelzen, so heißt es
heute, die schwer wiegenden eigenen Probleme der Lösung
näher zu bringen.
Über die soziale Struktur der Wanderungen der letzten
Periode können wir uns hier ganz kurz fassen. Denn schon
im vorigen Kapitel glauben wir nachgewiesen zu haben, daß
es vornehmlich die Arbeiterklasse ist« die in den heutigen
Wanderungen der .luden den Ton angibt. Ihr Arbciter-
charaktcr tritt uns klar und deutlich entgegen.
Dies Moment kann für die Zukunft des jüdischen Volkes
von einer ganz großen Bedeutung werden. Denn dadurch
— 148 —
kam in die jüdischen Wanderungen das Element, das —
allerdings erst nach einer längeren Entwicklung und in
einem passenden Lande — die Grundlage für die Schaffung
eines jüdischen Bauernstandes bilden kann. Doch gehören
diese Zukunftsperspektiven nicht hierher 1 ".
Der Eindruck, den die gewaltige Auswanderung der
Neuzeit auf die gesamte Judenheit gemacht hat, war ein
sehr tiefer- Man glaubte sich nach der am Anfang de:>
vorigen Jahrhunderts in Angriff genommenen und in der
Mitte des Jahrhunderts vollendeten Emanzipation der Juden
in fast allen modernen Kulturstaaten, fest an die heimat-
liche Scholle gebunden. „Sie (die Masse der Juden) war
glücklich, nach 18 Jahrhunderten der Unstätigkeit, während
welcher ihr Leben einer ziellosen Meerfahrt im gespens-
tischen Schiffe des fliegenden Holländers geglichen hatte,
endlich festen Grund unter den Füßen zu haben und gab
sich ganz dem unbekannten Frohgefühl der Bodenständig-
keit hin" 158 ,
Die jüdischen Wanderungen der Neuzeit haben diesen
Glauben an die jüdische Bodenständigkeit wieder zu nichte
gemacht. Die wissenschaftliche Untersuchung aber hat ihrer-
seits die Anschauung mehr und mehr bekräftigt, daß auch
die neuesten jüdischen Wanderungen nicht einen spora-
dischen, sondern einen dauernden, systematischen Charakter
tragen.
Nun kommt es darauf an, dieser Wanderungen des
jüdischen Volkes Herr zu werden, sie zu organisieren und
zu regulieren : ihnen ein bestimmtes Ziel zu setzten lo9 .
Dem jüdischen Volke ist somit eine Aufgabe zugefallen,
durch deren Lösung es ein Werk vollbringen kann, das in
der jüdischen Geschichte wohl einzig dastehen wird. Auch
kommt dadurch in die jüdische Geschichte die Initiative,
das eigene Geschick zu gestalten, die man in ihr bis heute
fast gänzlich vermißte.
Anmerkungen und Literaturnachweis.
Einleitung.
1. F. v. Philippovich ,, Auswanderung" im Handwörterbuch der
Staatswissenschaften. 3. Aufl. Bd. II p. 260.
2. Es gibt freilich einige Völker, bei denen die Wanderungen auch
henk- poch eine eminent große Bedeutung haben; es konstituieren
sich noch heute viele Nationen (Kanada, Australien, Argentinien,
Brasilien). Wie unter der Einwirkung der mongolischen Wande-
rungen etwa Sibirien in der Zukunft aussehen wird, ist nicht vor-
auszusehen. Doch haben Wanderungen für die Juden eine ganz
andere Bedeutung als für jedes andere Volk: denn es fand in der
jüdischen Geschichte und findet noch heute eine beständige Ver-
schiebung des jüdischen Zentrums statt. Bei anderen Völkern ist
dem aber nicht so. So spielt bei den Irländern und Italicnern, die
nächst den .luden die größte Zahl der Wanderer aufweisen, nicht
die Wanderung, sondern einzig die Aus Wanderung aus einem be-
stimmten Heimatlandc eine Rolle Diese beiden Völker haben doch
eine Heimat, einen Staat, ein beständiges Zentrum, und es ist wohl
möglich, daß mit der \ mheiHHUlg der Lebensbedingungen des ita-
lienischen Volkes die italienische Emigration nach und nach an
Stärke verliert, während die Juden nirgends einen Staat bilden und
ihre Wanderungen nieht ein Land /um Ausgangspunkt haben, son-
dern die Juden aller Lander mehr oder weniger in den Migrations-
pro/.cß einbezogen sind.
3. Alle solche Definitionen haben einen mehr oder weniger relativen
Wert. Man kann aueh sagen: die jüdisehe Frage besteht in den
hoiondfirtn Rasteeigfentümlichkeiteil der Juden; oder: das Wesen
der jüdischen Fragt ist die je Religion; oder: die jüdische
Frage ist die Frage der jüdischen Assimilation. Es kommt immer
auf den Standpunkt an. Wir wollen nun die jüdische Frage von
dem Standpunkte der jüdischen Wanderungen aus betrachten, und
/war, um dadurch die Bedeutung der Wanderungen
im jüdischen Leben klar und deutlich zu Tage
treten zu lassen. Der Vorwurf der Einseitigkeit kann uns
deshalb nicht treffen.
4. Neben der Zahl spielt noch der Faktor der Organisation
eine nicht zu unterschätzende Rolle. ,, Widerstandsfähigkeit einer
sozialen Gruppe ist umgekehrt proportional der Zahl beim Fehlen
der Organisation und ist proportional der Zahl und dem Grade der
150
Organisation, wenn c wiche vorhanden ist" (B o r o < hoff) Da»
ist schon aus dem im Text angegebenen Beispiele (die Arbeiter) zu
ersehen. — Trotzdem aber bleibt das über die jüdische Wider-
standskraft Gesagte in Kraft. El ist bekannt, daß die Arbeiter
leichter zu organisieren sind, als die Arbeitgeber; die Organi-
sationen der letzteren sind erst nach den Organisationen der Ar-
beiter entstanden. Noch schwerer ist ein Volk, das keinen Staat
bildet und dessen verschiedene soziale Gruppen oft in schwere
wirtschaftliche Konflikte mit einander geraten, zu organisieren. Die
Juden haben sich als Volk nur zweimal organisiert: in Babylonien
und in Polen um 1580. (Die Vier-Länder-Synode (Waad Arba
Arazot]. Vgl. darüber G r ä t z ,, Geschichte des jüdischen
Volkes" Bd. IX p. 449 ff.). Später spielte der Kahal eine ge-
wisse Rolle, im großen und ganzen aber hatten diese Orga-
nisationen nicht die Kraft, die Konkurrenz mit der einheimi-
schen Bevölkerung auf die Dauer zu mildern, geschweige denn
zu beseitigen, zumal noch die Exterritorialität des jüdischen Volkes
höchst ungünstig auf die Möglichkeit der Organisation der Juden
wirkte. Die Frage, inwieweit in der Gegenwart die Ansätze zu
einer allgemeinen Organisation des jüdischen Volkes im Osten —
etwa in der Gestalt einer national-politischen Autonomie — vor-
liegen, haben wir hier nicht zu untersuchen; jedenfalls ist diese
Organisation einstweilen noch Zukunftsmusik.
5. G. Caro ,, Sozial- und Wirtschaftsgeschichte der Juden im Mittel-
alter und der Neuzeit". 1908 Bd. I. p. 13.
6. Vgl. darüber Otto Bauer „Die Bedingungen der nationalen Assi-
milation", Zeitschrift „Kampf" März 1912 p. 250.
7. Back „Geschichte des jüdischen Volkes" 1906 p. 3.
8. W. Sombart „Die Juden und das Wirtschaftsleben" 1911 p. 463.
Erster Abschnitt.
9. „Auch die Sagen über die Wanderungen der Patriarchen haben
keinen völkergeschichtlichen Gehalt" Ed. Meyer „Geschichte
des Altertums" 1884. Bd. I p. 215.
10. Ed. Meyer „G. d. Altertums" Bd. I p. 118.
11. K. Kautsky „Der Ursprung des Christentums" 1908 p. 213.
12. Ed. Meyer „Die wirtschaftliche Entwickelung des Altertums"
1895 p. 12.
13. Die Zahl der Deportierten ist genau festgestellt von Ed. Meyer
„Die Entstehung des Judentums" 1896 p. 108—14.
14. Zitiert bei Grätz „G. d. J." II 2 P- 73.
15. Daß die 5 Bücher Moses zum größten Teil während und nach dem
Exil verfaßt sind und ihre endgültige Redaktion wohl erst im
5. Jahrhundert v. Chr. bekommen haben, ist bekannt. Vgl. „Die
heilige Schrift des Alten Testaments", hrzg. von Kautzsch.
3. Aufl. p. 1 ff. Außerdem habe ich nur Stellen zitiert, die nach-
weislich nach dem Exil verfaßt sind.
— 151 —
16. Vgl. Schür er ,, Geschichte d. jüd. Volkes" 1898. Bd. II p. 498.
die spezifisch Israelitischen Ideen, welche das Verhältnis
des jüdischen Volkes zu Jahwe als dein Gott Israels /um Gegen-
stand haben . . . bilden das Zentrum, um welches jene anderen
(die allgemeinen religiösen Ideen) gruppiert und auf welches die-
selben bezogen werden." Es ist ,,d e r G e d a n k e, daß Gott
dieses eine (jüdische) Volk zu seinem Eigentum
erkoren hat und ihm dadurch ausschließlich
Mine Wohltaten spende t".
17. ,,Das Streben nach Würde, ohne die ein Volk auf die Dauer nicht
tieren kann" (D. Pasmanik „Die .Judenassimilation seit
Mendelsohn", ,, Jüdischer Almanach" Wien 1910 p. 51) hat auch
spater und immer auf den Charakter der Geistesbewegungen im
Judentum mächtig gewirkt.
18. Ed. Meyer „Geschichte d. Altertums" 1901. Bd. III p. 217.
19. Zwar ist es nicht zu ermitteln, ob die Juden wirklich aus Kanaan
wanderten, doch blieb den Nachkommen diese vielleicht nur sagen-
hafte Rückkehr immer gegenwärtig.
vielleicht nur sagenhafte Rückkehr immer gegenwärtig.
20. „Eben weil man in dem politischen Untergang des \ <>lkcs die Idee
der Macht des Nationalgottcs nur dadurch retten konnte, daß man
ihn zum alleinigen Herrn des Himmels und der Erde erhob . . .
war eine zukünftige Restauration unentbehrlich, durch die sich
Jahwe aller Welt als der alleinige Gott manifestierte." E d.
Meyer „G. d. A." Bd. III p. 176.
21. Diese Erörterung über den möglichen Einfluß der ersten jüdischen
Wanderungen auf die Herausbildung der Idee der Auscrwählthcit
— die übrigens auch erst nach dem Exil durch Esras Gesetz-
gebung für das praktische Leben bedeutsam geworden ist (vgl.
A. Ruppin „Die Juden der Gegenwart" 2. Aufl. 1 °* 1 1 p. 137) —
kann nur eine bescheidene Ergänzung zu anderen über dieses Pro-
blem gemachten Erörterungen sein und erhebt keineswegs den
Anspruch, sie zu » Ober die Erage \gl. noch Ed. Meyer
,.G. d. A." Bd. I. p. 372 ff., p. 396 ff. — Daß die Erage nur kurz
gestreift werden konnte, ergibt lieh von selbst aus der Aufgabe
der Arbeit.
22. Ed. Meyer „Die wirtschaftliche Entwickclung des Altertums"
1895 p. 42.
23. K. Kautsky „Der Ursprung des Christentums" 1908 p. 252.
24. Grä t z „G. d. J." Bd. III p
25. Eine fast vollständige Obersichl über die damalige Ausbreitung
der Juden gibt S c h ü r c r ..Geschichte d. jüd. V." Bd. III p. 1 — 38.
26. Grat i ,,G. d. J." Bd. III p. 512.
27. Ed. Mcvcr „Die wirtschaftliche Entwicklung des Altertums"
p. 56; p. 62.
28. Caro „Sozial- und Wirtschaftsgeschichte der Juden" 1^08 p. 24.
29. J. Schipper („Anfänge des Kapitalismus bei den abendländi-
schen Juden im früheren Mittelalter", Zeitschrift für Volkswirt-
— 152 —
Schaft, Sozialpolitik und Verwaltung. Hd. 15. l f X)o r ipitc* ah ein-
zelne Broschüre erschienen) gegen S o m b a r 1 1 Hypothese von
dem Herüberretten der jüdischen Vermögen aus der alten Welt
ins Mittelalter sich wendend, will beweisen, daß die .Juden im aus-
gehenden Altertum sich in nichts von der übrigen Bevölkerung
unterschieden, keine Reichtümer gehabt hätten, die sie hätten
herüberretten können, und bei der Verteilung von Grund und
Boden nördlich der Alpen ebenso wie die cives Romani ihren An-
teil bekommen hätten. Somit seien sie gewöhnliche Grundbesitzer
und Ackerbauer gewesen; erst später seien sie zum Handel ge-
zwungen worden (p. 504 — 13). — Daß die Juden in Rom große Ver-
mögen besaßen, beweist allein die Tatsache, daß sie dort eine
große Macht hatten, was im damaligen Rom ohne Geld schwerlich
möglich gewesen wäre. Wären sie so arm gewesen, wie es sich
Schipper denkt, so könnte Cicero nicht über das viele Geld
klagen, welches jährlich aus Rom und den Provinzen nach Palä-
stina (Jerusalem) ginge; auch waren die Juden immer im Stande,
die jüdischen Sklaven loszukaufen. Und schließlich konnte die
jüdische — aber wohl bemerkt freiwillige — Einwanderung nach
Rom nur eine der Reichen sein; der arme Jude hatte in Rom nichts
zu suchen und konnte die Reisespesen sicherlich nicht erschwin-
gen. — Gleichviel — das Vorhandensein großer Vermögen bei den
Juden am Anfang des Mittelalters leugnet Schipper schließ-
lich auch nicht, will sie aber aus der akkumulierten Grundrente
ableiten. Der Vorgang soll sich folgendermaßen abgespielt haben:
„Mit der Annahme des Katholizismus durch die germanischen
Völkerschaften (die früher Arianer waren) wird der Assimilie-
rungsprozeß zwischen ihnen und christlichen Römern leichter;
darum verliert das römische Recht allmählich seine Bedeutung,
und mit ihm geht auch die Identifizierung der Juden mit den cives
Romani verloren. Die neuen Volks- oder Stammesgesetze kennen
die Juden nicht, und so bleiben sie als einziges fremdes Volk in
den germanischen Staaten übrig. Waren die Juden bis dahin der
Markgenossenschaft als Gleichberechtigte einverleibt und somit
auch in ihrem Grundbesitze geschützt, so ging dies nun mit der
allmählichen Ausscheidung der Juden aus der Mark für sie ver-
loren. Die Veräußerung des jüdischen Grundes und Bodens, die
durch die neue Ordnung notwendigerweise hervorgerufen sein
dürfte, brachte den Juden die ersten bedeutenderen mobilen Ver-
mögen" (p. 512). Leider hat Schipper nicht einen einzigen Be-
leg für diese Vermutung gebracht, er führt kein einziges Beispiel
für solche Veräußerungen an. Und es ist ganz unwahrscheinlich,
daß sie jemals stattgefunden haben, v. Inama-Sternegg
(„Deutsche Wirtschaftsgeschichte" Bd. I p. 79 — 80). aufweichen sich
Schipper beruft, spricht nur über die Ungleichheit des Besitzes
in der Markgenossenschaft und Veräußerungen mittels Kaufes oder
Tausches zwischen Angehörigen verschiedener Geschlechter oder
— 153 —
zwischen Verwandten — über die Juden aber kein Wort. Und
woher konnten denn die Markgenossenschaften solche bedeutende
mobile Vermögen haben, u:n den zahlreichen Juden ihren Besitz
abzukaufen? (Zumal sie an letzterem keinen Mangel hatten.) —
Das Aufhören der Wirksamkeit des romischen Rechts, worauf sich
stützt, kann hier nichts beweisen«
Ebenso wie die spätere Rezeption, wurde der Niedergang des
üschen Rechts, das M ereil Verkehr und Geldwirtschaft zur
Voraussetzung hatte, durch I ränderte ökonomische Verhältnisse
«fahrt. Dem Charakter der .ermanischen Naturalwirt-
schaft war eben das römische Recht nicht angepaßt, und unter-
schieden sich die Juden wirklich von den Germanen in nichts,
konnten s'c die Einführung der n< neu Gesetze nur begrüßen.
— Der Vorgang war aber ein umgekehrter: eben darum, weil die
Juden eine besondere soziale Stellung inmitten der germanischen
Volkswirtschaft einnahmen, paßten für sie die neu eingeführten
Stammes- oder Volksgesetze nicht; darum wurde auch für sie ein
besonderes Frcmdcnrccht geschaffen. Schippers Veräuße-
rungen des jüdischen Grundes und Bodens sind mithin ganz un-
wahrscheinlich. Man braucht wirklich ZU n Vermutungen
nicht zu greifen, um zu beweisen, daß die jüdische Kigcnart nicht
nur die des Händlers ist, s< ndern daß die Juden auch Ackerbau« r
gewesen sind und sein können. Der S o in hart ' sehe Satz bleibt
mithin in seiner Kraft bestehen: ,, Wahrscheinlich ist, daß von den
wohlhabenden Juden, denen w ir überall im späteren Romerreich
begegnen, ein beträchtlicher Teil den Besitz an Gold, Schmuck-
hen und kostbl SU aus der versinkenden alten Welt
herüberrettete ins Mittelalter." (,,Der moderne Kapitalismus"
1002 Bd. I p. 270J
30 es gab damals noch viel herrenlosen Grund und Boden in
der Euphratgegendi und wer sich anheischig machte, Grundsteuer
davon zu zahlen, durfte sich ihn aneignen", Grätz ,,G. d. J."
IV , p. 254.
31. Caro ,, Sozial- und Wirtschaftsgeschichte der Juden" p. 124.
32. Vgl. Grätz ,.G. d. J." IV 3 p. 375-76.
33. Vgl. Grätz „G. d. J." V, P . 311.
34. Vgl. Caro ,, Sozial- und Wirtschaftsgeschichte d. J." p. 126.
35. So m hart, dem es hauptsächlich um die Konstanz des jüdischen
Wesens zu tun ist, nimmt natürlich auch d^c Kontinuität der jüdi-
schen Geschichte an. In seinem Buche ,.Pie Juden und das Wirt-
schaftsleben" (p. 413) <^ibt er einen kurzen Abriß der jüdisch, n
Wanderungen: ..Seit Ende des 5. Jahrhunderts erst langsame, dann
rasche Entleerung Babyloniens in alle Gebiete der Erde: nach
bien, nach Indien, nach dem 13. Jahrhundcr»
Abfluß aus England, Frankreich, Deutschland, teils nach der
Pyrcnäcnhalbinscl, in die schon vorher viele Juden aus Palästina
und Babylonien gewandert waren, teils in die europäischen Ost-
— 1 54 —
reiche, in die seit dem 8. Jahrhundert aufh vom Südosten her über
das Schwärze Meer der Strom aus dem byzantinischen Reiche
sich ergoß." — Dieser kurze Abriß der jüdischen Wanderungen
ist nicht richtig: es fand keine ,, rasche Entleerung Babyloniens
s< it dem 5. .Jahrhundert" statt, da noch im 7. und 8. Jahrhundert
die babylonischen .luden die Mehrheit aller .Juden bildeten: in
der Glanzperiode des Exilarchats (vgl. G r ä t z ,,G. d. J." V 3 p. 118).
— Die spanische Judenheit hat sich aus eigenen Kräften ver-
mehrt; ein Zufluß aus Palästina ist nicht historisch nachweisbar.
Der Verkehr zwischen Palästina und Spanien war überhaupt ein
sehr dürftiger; er wurde vornehmlich aufrecht erhalten durch
einige Juden, die aus Spanien nach Palästina gingen, um dort,
auf dem heiligen Boden, zu sterben (der Philosoph Nachmani.
der Dichter Jehuda Halcvi). — Ebenso ist es nicht richtig, daß
die Juden seit dem 13. Jahrhundert aus England, Frankreich und
Deutschland nach der Pyrenäenhalbinsel auswanderten. Es ist
eben das Charakteristische der Geschichte der spanischen Juden.
daß sie, von der übrigen Judenheit nicht behindert — deren
Lebensbedingungen gerade damals nicht übermäßig gut waren
(Verfolgungen in Deutschland, Vertreibungen aus Frankreich und
England), — sich so großartig entwickelt haben. So gingen um
1286 aus Deutschland (Mainz, Worms, Speier, Oppenheim und
anderen Städten in der Wetterau) ausgewanderte Juden nicht
nach Spanien, sondern übers Meer nach Syrien (G r ä t z ,,G. d. J."
VII 2 p. 188). Die Juden, die im Jahre 1290 aus England ver-
trieben wurden, gingen nach Frankreich, nachher nach Deutsch-
land; ob ein Teil vielleicht nach Nord Spanien kam, ist nicht
sicher festzustellen; bei Grätz (VII 2 p. 198) steht es: ,.und ein
anderer Teil (der verbannten Juden) ging wohl nach Nordspanien."
— Die Juden, die im Jahre 1306 aus Frankreich ausgewiesen
wurden, gingen ebenfalls nicht nach Spanien, ,,Die Vertriebenen
zerstreuten sich in alle Welt: manche wanderten bis nach Palä-
stina, die meisten aber hielten sich so viel als möglich in der
Nähe der französischen Grenze, in der eigentlichen Provence, die
damals zum Teil unter deutscher Oberhoheit stand, und in der
Provinz Ronsillon, die dem argentinischen König von Mallorca
gehörte, und auch auf dieser Insel" (Grätz ,,G. d. J." VII i
p. 269). Neun Jahre nach ihrer Vertreibung kehrten sie nach
Frankreich zurück. — Außerdem fingen gerade im 14. Jahr-
hundert in Spanien und Portugal Judenverfolgungen an, sodaß
kaum anzunehmen ist, daß dorthin noch eine Einwanderung er-
folgt wäre. Die Kapazität Spaniens als eines Einwanderungslandes
war gerade damals eine sehr geringe; die Juden besorgten dort
vornehmlich das Geldgeschäft, das seiner Natur nach keine großen
Massen von Menschen beschäftigen konnte; und andere Beschäf-
tigungen — Industrie, Landbau und Gewerbe — boten nicht viel
Möglichkeiten für die Einwanderer, zumal diese Beschäftigungen
— 155 —
ihre Bedeutung nach und nach verloren. Die Beamfenstellen aber
konnten dort nicht von den ausländischen Juden besetzt werden.
— Ebenso darf man ,,den Strom, der sich über das Schwarze
Meer aus d DB In /entmischen Reiche in die europäischen Ostreiche
ergoß", nicht EU boefa ansc Magen. Her ganze Strom bestand aus
höchstens einigen Tausend .luden und damit war er zu Ende.
Mit der Eroberung von Ry/an/ durch Mohamed (1453) hat sich die
Lage der Juden in der Türkei |0 glücklich gestaltet, daß von Aus-
wanderung nicht mehr dit Rede Bein konnte.
36. Grat/ ,,G. d. J." V, p. 206—09.
37. Schipper ,, Anfänge des Kapitalismus bei den abendländischen
Juden im früheren Mittelalter". Zeitschrift für Volkswirtschaft,
Sozialpolitik und Verwaltung. Bd. 15. 1006. p. 519.
38. Vgl. Sternberg „Geschichte der Juden in Polen" 1878 p. 15 ff.
39. W. Röscher ,,Die Juden im Mittelalter" in den .Ansichten der
Volkswirtschaft" 1878. Bd. II p. 333, p. 324.
40. Ibid. p. 338.
41. Caro „Sozial- und Wirtschaftsgeschichte d. J." p. 321.
42. Schipper „Anfänge des Kapitalismus etc." p. 558.
43. Vgl. Sternberg ,.G. d. J. in Polen" p. 22.
44. Ed. Meyer „G. d. A." Bd. I p. 592.
45. Ed. Meyer „Die wirtschaftliche Entwickelung des Altertums"
p. 42.
Zweiter Abschnitt.
46. Nur für Deutschland seien hier einige Zahlen angegeben. So zeigt
die Statistik, „daß in der Verteilung der Juden auf die einzelnen
deutschen Landesteile seit dem Jahre 1871 namhafte Verschie-
bungen vor sich gegangen sind. Insbesondere in die Augen fallend
ist der Rückgang der Zahl der Juden in den ostlichen Gebiets-
teilen. So zählten die Provinzen Ostpreußen. Westpreußen, Pom-
mern und Posen im Jahre 1871 1 16 075 .-. 22,67°',, aller Juden in
Deutschland, 1900 nur noch 78 3H> 13,35° '„ ... Die abgewander-
ten Juden nehmen zum Ziel einmal Berlin, sodann die westlichen
preußischen Provinzen, Hessen-Nassau und Rheinland. In Berlin
und der Provinz Brandenburg, zu der die Vororte von Berlin ge-
hören, wohnten 1871 47 489 9,27° , alb-r deutschen Juden. 1^00
dagegen 117 972 20.10°,,; in den Provinzen Hessen-Nassau und
Rheinland 1871 74 813 14.61° ,„ 1900 dagegen 100 356 r 17.K
(„Zeitschrift für Demographic und Statistik der Juden" 1905 \\]
Januar, p. 11. — Ferner vgl. noch Dr. F. Theilhabcr „Der
Untergang der deutschen Juden" 1 °> 1 1 p. 27 ff.).
47. M. Kayscrling „Geschieht* der lud n in Spanien und Portu-
gal" Buch II 1867, p. 26.
48. „The Jewish Encyclopcdia" Vol. XI p. 492.
49. M. Kavscrling „Geschichte d. J. in Spanien und Portugal"
Buch II p. 67.
— 156 —
50. Loc. cit. p. 90.
51. Loc. cit. p. 91.
52. Grätz „G. d. J." Bd. XI p. 459.
53. Grätz „G. d. J." VIII 3 , zweite Hälfte, p. 367.
54. Kayserlinj; p. 110.
55. ,,The Jewish Encyclopedia" Vol. XI p. 501; nach den Berech-
nungen von Isidore Loeb.
56. „The Turks were good soldiers, but were unsuccessful as busi-
ness men; and accordingly they left commercial occupations to
other nationalities. They distrustcd their Christian subjects,
however, on account of their sympathies with foreign powers;
hence the Jews, who had no such sympathies, soon becarne the
busincss agents of the country". ,,The Jewish Encyclopedia"
Vol. XII p. 280.
57. Das Schreiben ist abgedruckt bei Grätz ,,G. d. J." VIII 2 . 3 p. 215.
58. Abgedruckt bei Grätz ,,G. d. J." IX 3 p. 11.
59. Grätz „G. d. J." IX 3 p. 27.
60. Vgl. M. Philippson „Neueste Geschichte des jüdischen Vol-
kes" 1910 Bd. II p. 310 ff.
61. Vgl. Kayserling, Buch II p. 157.
62. Vgl. Grätz „G. d. J." VIII 2 , , p. 360.
63. Vgl. M. P h i 1 i p p s o n „N. G. d. j. V." Bd. II p. 322 ff.
64. Grätz „G. d. J." IX 3 p. 39.
65. Sombart schreibt: „Im 16. Jahrhundert ereilt sie (die Juden)
dasselbe Schicksal (die Vertreibung) in einer Anzahl italienischer
Städte . . . Auch hier fällt zeitlich wirtschaftlicher Rückgang und
Abwanderung der Juden zusammen" („Die Juden u. d. Wirt-
schaftsleben" p. 16). Doch darf man aus dieser Parallelität nicht
den Schluß ziehen — wie es S. tut — , daß die Abwanderung den
wirtschaftlichen Rückgang herbeiführte (p. 15). Der Vorgang war
ein umgekehrter: die Vertreibung der Juden war eben das erste
Zeichen des beginnenden wirtschaftlichen Rückganges.
66. Als 150 von ihnen in den Kerker geworfen waren, boten die an-
deren dem König Philipp III. Entlastung von den Schulden und
überdies noch ein Geschenk von 1 200 000 Cruzados (2 400 000
Mark), wenn den eingekerkerten Marranen Verzeihung gewährt
würde; auch die Räte, die den König umstimmen mußten, haben
150 000 Cruzados bekommen. (Vgl. Grätz „G. d. J." IX 3 p. 486.)
67. W. Röscher „Die Juden im Mittelalter" Bd. II p. 339.
68. Grätz „G. d. J." X 2 p. 18.
69. Vgl. Dr. Felix Rachfahl „Das Judentum und die Genesis des
modernen Kapitalismus", „Preußische Jahrbücher" Bd. 127, 1912.
70. Nach einem Bericht über den Vortrag in Wien („Die Welt" Nr. 10
1912); vgl. auch „Die Juden u. d. Wirtschaftsleben", „Die neue
Rundschau" 1911 Heft 7.
71. Vgl. Sombart „D. J. u. d. W." p. 30 ff .
72. H. Sternberg „Geschichte der Juden in Polen" 1878 p. 3.
— 157 —
73. N. W. Goldstein ,,Ein Beitrag zur wirtschaftlichen Geschichte
der polnischen Juden im Mittelalter", , .Zeitschrift für Demographie
u. Stat. d. Juden" 1908 (IV) p. 170.
74. Abgedruckt bei Sternberg ,,G. d. J. in P." p. 67.
75. Goldstein „Ein Beitrag etc.", ..Zcitsthr. für D. u. St. d. J."
1908 (IV) p. 171.
76. Abgedruckt bei S t e r n b c r g ,,G. d. J. in P." p. 88.
77. Sternberg ,,G. d. J. in I'." p. 63.
78. ,,Thc oldest history ol Galicia is identical with that of the Jews
in the kingdom of l'oland. ol Mrhich this piovince formed pait up
to its oecupation by Austria in 1772". ,,The Jewish Encyclopedia"
Vol. X p. 549.
79. Über die Einwanderung speziell nach Polen sagt N. W. Gold-
stein sehr treffend: ,,l;i den folgenden Jahrhunderten spielte sich
die Einwanderung zum großen 1 eil aul ökonomischer Basis ab,
sie wurde von der allgemeinen Tendenz der jüdischen Volkswirt-
schaft zur Oberwanderung aus dein entwickelt«! Westen in den
unentwickelten Osten getragen", ,,Ein Beitrag etc." ,, Zeitschrift
für ü. u. St. d. J." 1908 (IV) p. 169.
Dritter Abschnitt.
80. Karl Marx ,,Zur Judenfrage", Nachlaß von K. Marx etc. liersg.
von Fr. Mehring. Bd. 1 p. 425 ff.
81. K. Kautsky ,,l)er Ursprung des Christentums" 1^08 p. 253.
82. W. Sombart „Die Zukunft der Juden" 1912 p. 9. — Hier be-
geht S. wiederum einen Fehler, indem er die nach Amerika ein-
gewanderten Ostjuden den westlichen zurechnet. Die ökonomi-
sche Lage dieser Einwanderer ist \ on der der westlichen Juden
so grundverschieden, daß es keil etthaft ist, sie auf eine
Stufe mit den westlichen zu stellen. Außerdem sind ihre Inter-
essen gänzlich andere als die der weltlichen Juden. — Es ist
wahrhaftig die höchste Zeit, sich vom Wahne /u befreien, d i
ülirigens die jüdischen Ml boo ziemlich fiel gekostet hat, —
daß alle nach England resp. nach Amerika eingewanderten Juden
nach den ersten Jahren ..der I.« 09 Reichtum und zu
höhet sozialer Stellung emporheben können. Abgesehen davon,
daß es einfach eine wirtschaftlic he l nmöglichkeit ist, daß Tausende
und Abertausende jüdischer Einwanderet suh alle in Kapitalisten
umwandeln, erlaubt ihnen auch ihre ökonomische Stellung in der
gerade von ihnen ins Lehen gerufenen Hausindustrie — nicht, daß
Mgen wir: nur zur Kleinboui übergehen. Der jüdische
Hotte Stand wurde /. 1>. in hngland erst vor kurzer Zeit ge-
schaffen (vgl. N. W. Goldstein [New-Yotk] .Die Bedeutung
des jüdischen Proletariats für die englische Industri» ■", „Zeitschrift
für D. u. St. d. J." 1Q(J°- [V] p. 121), und für ihn ist die Hauptfrage
— 158 —
vielmehr die Gründung von Gewerkschaften (vgl. G, Halpern ,Die
jüdischen Arbeiter in London" 1903 p. 64 ff.J, als etwa der G
d«r Geschäfte auf der Londoner Börse. !->as jüdische Prolet».-
hat in England eine ganz neue f Bekleidungs-J Industrie gescha
die schon oft, und zwar von englischen Schriftstellern, als ,,Indu-
strial Discovery" bezeichnet wurde, und die ausschließlich auf die
Arbeit des jüdischen Proletariats sich gründet. Somit aber
bleibt das jüdische Proletariat die unbe-
dingte Voraussetzung dieser Industrie. Das
Gros der Juden in England und Amerika bildet ein ökonomisch
abgeschlossenes Ganze, einen selbständigen Organismus, so daß
ihr Aufgehen in der fremden Umgebung dort schon vollends ein
Ding der Unmöglichkeit ist.
83. Wir sehen hier natürlich davon ab, daß es bei den Juden Polens
schon früher eine gewisse soziale Differenzierung: Groß- und
Kleinkaufleute, Meister und Gesellen usw. und sogar einen eigen-
tümlichen sozialen Kampf gab, ebenso wie es bei anderen Völkern
im Mittelalter der Fall war. Wir meinen hier die soziale Differen-
zierung im heutigen Sinne, wie sie erst seit der Entstehung de»
Kaptalismus in Rußland klar zu Tage getreten ist.
84. Sombart „Die Zukunft der Juden" p. 12.
84a. Dabei handelt es sich nicht um die Ermittelung der Tatsachen:
wieviel Angehörige der und der sozialen Gruppe national fühlen,
ein nationales Selbstbewußtsein haben, sich auf dem Gebiet der
nationalen Arbeit betätigen u. dergl. mehr, sondern: es ist eine Un-
tersuchung mehr abstrakten Charakters: wie können evtl. müssen
Angehörige der und der sozialen Gruppe sich zum Nationalismus
stellen, ob sie in ihm Befriedigung irgend eines Interesses finden
können, was für sie der Nationalismus überhaupt bedeuten kann.
Es brauchen daher nicht die subjektiven Ansichten und Anschau-
ungen der betreffenden sozialen Gruppe hinsichtlich des jüdischen
Nationalismus in Betracht gezogen zu werden, sondern es wird nur
die objektive Möglichkeit ihrer Zugehörigkeit zur nationalen
Bewegung und der Grad ihres nationalen Empfindens festzustellen
versucht.
85. Sombart „Die Zukunft der Juden".
86. K. Marx „Zur Kritik der politischen Ökonomie" 1907 p. LV.
87. K. Marx „Kapital" 1894. Bd .III. Zweiter Teil p. 324—25.
88. B. Borochoff „Klassenmomente der nationalen Frage" (rus-
sisch) Odessa 1906 p. 9. — Der Gedankengang dieses Kapitels be-
bewegt sich im großen und ganzen im Geiste dieses, m. E. epoche-
machenden Werkes, das zuerst in der Zeitschrift „Das jüdische
Leben" (russisch) 1905 Nr. 12 gedruckt wurde und nachher selb-
ständig erschien. Borochoff hat die Liebenswürdigkeit gehabt,
dieses Kapitel, das, wie gesagt, auf sein Werk sich stützt, durch-
zusehen, wofür der Verfasser der Arbeit ihm zu herzlichem Dank
verpflichtet ist.
— 159 —
89. Ibid. p. 18.
90. Als man Rothschild gefraßt hat, ob er Zionist sei, soll er geant-
wortet haben ,,Ja, aber unter der Bedingung, daß ich sofort nach
Gründung des jüdischen Staates den Botschafterposten in London
bekommt 1 ."
l ". I therSchnccrson ,,l)cr allgemeine jüdische Arbeiterbund
in Kußland, Polen und Littauen", ,, Zeitschrift für D. u. St. d. J."
1905 (I) Heft 2 p. 6.
92. Postojanny (BorochoffJ in der „Jüdischen Arbeiterchronik"
1 ( »06.
93. Die Zahlen für die Jahre 1836, 1867 und 1905 sind den nicht amt-
lichen Angaben entnommen, die Zahl für das Jahr 1897 ist durch
die amtliche russische Volkszählung \om 28. 1. 1897 ermittelt. Die
ersten Zahlen finden sich in der ,, Zeitschrift f, D. u. St. d. J."
1908 p. 16; 1909 p. 191; 1911 p. 119.
94. Vgl. darüber A. Hillmann „Jüdisches Genossenschaftswesen
in Rußland" 1911 p. 13 ff.
95. Bruzkus ,,Die Statistik der jüdischen Bevölkerung" (russisch)
1909 p. 3.
96. Die Benennung „Israeliten" statt „Juden" entspringt dem Um-
stände, daß die russische Statistik die Bevölkerung nach Religion
und Muttersprache einteilt. Die Zahl der „Rcligionsjuden" be-
trägt 5 215 805, die Zahl der jüdischsprechenden Personen dagegen
nur 5 054 300. Somit sprechen 96,90° aller Bekenner der jüdi-
schen Religion das Jüdische als Umgangssprache und 0,18° der
jüdischsprechenden Personen sind ihrer Koniession nach nicht
israelitisch. Im großen und ganzen gilt, was die Statistik von der
einen Personenklasse besagt, auch von der anderen.
97. „Die sozialen Verhältnisse der .luden in Rußland", Veröffent-
lichungen des Bureaus für Statistik der Juden, Heft 2, 1906, p. 7.
98. Ibid. p. 8.
99. S. Margolin „Die neuesten Angaben über den Stand der
jüdischen Bevölkerung in Russist h-Polen", „Zeitschrift f. D. u. St.
d. J." 1911 (VII) p. 89.
100. Ibid. p. 90.
101. „Die Judenpogrome in Rußland" hersg. im Auftrage des zionisti-
schen Hilfsfonds in London von der zur Erforschung der Pogrome
eingesetzten Kommission. Leipzig. 2 Bde. 1910. Bd. I p. 134 ff.
102. Zeitschrift „R u ß k o j e Boffttstwo" 1910, XII, p. 47 zitiert
' M. R a i c h „Einiges über den Stand der russischen Industrie
etc." im Archiv für Sozial* issenschaft etc. 1911. Bd. 33 p. 896.
103. B. Goldberg „Die Juden unter der städtischen Bevölkerung
Rußlands" ..Zeitschrift für D. u. St. d. J." 1905 (I) Oktober-
heft p. 2.
104. Als Quellen für die berufliche Gliederung der Juden in Rußland
kommen zwei statistische Erhebungen in Betracht: 1. die amt-
liche russische Volkszahlung von 1897 (die Resultate sind ver-
— 160 —
öffentlicht in dem Werke unter dem Titel ,,Die erste allgemeine
Volkszählung des russischen Reiches vom Jahre 1897" unter d< r
Redaktion von N. A. Trojnit/.kii [/um Teil mit französischem
Text] 2 Bde. St. Petersburg 1905), und 2. die Enquete der Jewish
Colonisation Association (ICAj vom Jahre 1898 — 99. (Die Resul-
tate sind veröffentlicht in der ,, Sammlung von Materialien über
die ökonomische Lage der Juden in Rußland" 2 Bde. St. Peters-
burg 1904 [russisch]). Das dadurch zu Tage geförderte Material
ist in verschiedenen Werken über die Lage der russischen Juden
verwertet und bearbeitet. Die im Text angeführten Tabellen
sind teils entnommen, teils zusammengestellt auf Grund folgen-
der, schon oben erwähnten Werke: ,,Die sozialen Verhältnisse
der Juden in Rußland", A. Hill mann ,,Jüd. Genossenschafts-
wesen in R." und Bruzkus ,,Die Statistik der jüdischen Be-
völkerung (russisch).
105. Außer den erwähnten Werken vgl. noch J. E 1 k ,,Die jüdischen
Kolonien in Rußland" 1886.
106. „Die sozialen Verhältnisse" p. 59.
107. Dr. K. Vornberg „Jüdische Emigration", Versuch einer sta-
tistischen Untersuchung (russisch). Kiew 1908 p. 91.
108. Prof. S u b b o t i n „Allgemeine Denkschrift über die jüdische
Frage" 1905. St. Petersburg (russisch). Zitiert bei H i 11 m a n n
p. 32.
109. Ibid. p. 32.
110. Nach dem Bericht über den Vortrag in Frankfurt. ,, Frankfurter
Zeitung", Drittes Morgenblatt, vom 14. Mai 1912.
111. Hill mann „Jüd. Genossenschaftswesen in R." p. 32.
112. Morgulis „Der Kahal, seine geschichtliche Entstehung etc."
Gesammelte Aufsätze „Fragen des jüd. Lebens" (russisch), St.
Petersburg 1898. Eine kurze Darstellung dieser Organisation in
deutscher Sprache findet sich in dem schon oben zitierten treff-
lichen Buche von H i 1 1 m a n n „Jüd. Genossenschaftswesen in
R.", wo dieses zum ersten Male ausgezeichnet zur Darstellung
gebracht worden ist.
113. Eine Darstellung der Chewra-Organisation in einer Stadt Mohi-
lew gibt Dr. S. Rabinowitsch „Die Organisation des jüd.
Proletariats" 1903.
114. Prof. M .Philipp son „Neueste Geschichte des jüd. Volkes"
1911 Bd. III p. 66. Im übrigen ist dieser Band des dreibändigen
Philippson'schen Werkes, der die Geschichte der Juden in Ruß-
land behandelt, mit großer Vorsicht zu gebrauchen. Der Ver-
fasser gibt an einigen Stellen eine ganz unrichtige Darstellung
der russisch-jüdischen Verhältnisse, worauf hier jedoch nicht ein-
gegangen werden kann.
115. Über die Bauernbefreiung in Rußland vgl. Prof. W. G. Simho-
witsch im Handwörterbuch der Staatswissenschaften, 2. Aufl.,
Bd. 2; speziell über die nach der Befreiung erfolgte Belastung
und Verschuldung des Bauernstandes p. 612 ff.
— 161 —
116. S. Mar^olin „Die wirtschaftliche Lage der jüdischen arbeiten-
den Klassen in Rußland" im Archiv für Sozialwissenschaft etc.
Bd. 26. 1908 p. 247.
117. Ibid. p. 246.
118. Ibid. p. 250 ff.
119. S. Margolin „Die Entwickclung des jüdischen Handwerks in
Kußland", „Zeitschrift f. 1). u. St. d. J." 1906 p. 149.
120. Ibid. p. 151.
121. ,,Korrcspondenzblatt der Handwerkskammer zu Düsseldorf" 1910
(XI. Jahrg.) Nr. 1 p. 3.
122. S. Margolin ,.Die Entwickclung etc.", ..Zeitschrift für D. u.
St. d. J." 1906 p. 151.
123. ,,Die Anteilnahme der jüdischen Arbeitskraft ( — und des jüdi-
schen Kapitals — ) sinkt um so tiefer und intensiver, je höher die
Produktion auf der industriellen Stufenleiter steht" Maxim
A n i n. ,,lst die Assimilation der Juden möglich?" ,, Sozialisti-
sche Monatshefte" 1908 Bd. 2 p. 617.
124. J. S. Blioch „Vergleich des materiellen Lebens und der sitt-
lichen Zustände der Bevölkerung innerhalb des jüdischen Ansied-
lungsrayons und außerhalb desselben" 5 Bde. St. Petersburg
(russisch). Zitiert nach Hillmann p. 23.
125. H i 1 1 m a n n p. 23.
126. Nach den Berechnungen von Lei! I c h i n s k y in der Zeitschrift
..Der neier Weg" (Jargon) 1906. Zitiert nach der Zeitschrift
,,Das jüdische Leben" (russisch) 1906 Nr. 8 — 9 p. 133.
127. Margolin ,,Die wirtschaftliche Lage etc." ,, Archiv für Sozial-
u issc 'um hatt etc." Bd. 26. 1908 p. 262.
128. Ibid. p. 264.
129. Hill m am p. 25.
130. ,,Nur schwer gelang es, von den Färbereibesitzern den wahren
Grund für ihre Abneigung, jüdische Arbeiter einzustellen, zu
erfahren: es stellte sich heraus, daß die Bevorzugung polnischer
Arbeiter nur durch ihre größere Billigkeit veranlaßt wurde."
..Materialiensammlung" 1904 Bd. II p. 168.
131. ,,i)ic sozialen Verhältnisse etc." p. 33.
132. Dr. Weinberg ,, Soziales und biostatisches Verhalten der liv-
ländischen Juden". ..Zeitschrift für D. u. St. d. J." 1906 (II) p. 70.
Für das Städtchen Krasnopolje vgl. Dr. Wcissenberg
,,Das Städtchen Krasnopolje" ..Zeitschrift für I). u. St. d. J." 1910
(VI) p. 34.
133. S. Pr okopo wi f eefa ..Haushaltungs-Budgets Petersburger Ar-
beiter", ..Archiv für Sozialw liaft etc." 1910 Bd. 30 p. 89.
134. Maria R a i C h „Einiget über den Stand der rtl D Indu-
strie etc" ..Archiv für S<>/ia chaft etc." 1911 Bd. 33 p, 899.
135. Lawin ..Der Cheder-Untcrricht in Kußland" ..Zeitschrift f. D
u. St. d. J." 1908 Heft 9 p. 10.
136. ,, Materialiensammlung" Bd. II p. 188.
Wlad. W. KapIun-Ko£at). WanderbcwegumJen. 1 1
— 162 —
137. S. M a r g o 1 i n ..Die Zerstreutheit der jüdischen B runjj
in Kußland und die Großindustrie" „Zeitschrift f. D. u. St. d. .J."
1910 p. 160.
138. W. Sombart ,,Der moderne Kapitalismus" Bd. II p. 219.
139. Maria Raich ,, Einiges etc." , .Archiv f. So/.ialwissenschaft etc."
1911 Bd. 33 p. 894.
140. ,,Die sozialen Verhältnisse" p. 53.
141. Nach dem offiziellen Bericht in der Zeitung ,,Golos Moskwy"
(russisch) 1912.
142. A. Ruppin „Die Juden der Gegenwart" 2. Aufl. 1911 p. 91.
143. Die Hauptquelle für die jüdische — wie allgemeine — Einwande-
rung in die Vereinigten Staaten bilden die Annual Reports of the
Commissioner-General of Immigration, Washington, die seit dem
Jahre 1899 erscheinen. Alle Tabellen sind — wenn nichts an-
deres ausdrücklich erwähnt ist — auf Grund dieser Berichte
zusammengestellt. Die Zahlen für die Zeit von 1899 sind dem
Artikel , .Migration" in ,,The Jewish Encyclopedia" entnommen.
144. M. Philippson „Neueste Geschichte des jüdischen Volkes"
1910 Bd. II p. 287. — Daß der Strom „etwas nachgelassen hat",
ist auch nicht richtig, da im Jahre 1910 — 11 die jüdische Aus-
wanderung — nur in die Vereinigten Staaten — die stattliche
Ziffer von 91 223 erreichte, was im Vergleich mit dem Jahre 1909
ein Mehr von 33 672 und im Vergleich mit dem Jahre 1910 ein
Mehr von 6 963 Auswanderern bedeutet.
145. „The Jewish Encyclopedia" Vol. VIII p. 584.
146. N. W. G o 1 d s t e i n ,,Die Bedeutung des jüdischen Proletariats
für die englische Industrie" „Zeitschrift für D. u. S. d. J." 1909
p. 123.
147. Dr. J. S e g a 1 1 „Die Einwanderung von Juden in die Vereinigten
Staaten im Jahre 1907—08" „Zeitschrift f. D. u. St. d. J." 1909
p. 55.
148. Ibid. p. 55.
149. Ibid. p. 55.
150. Ibid. p. 55.
151. Dr. K. Vornberg „Jüdische Emigration" Kiew 1908 (russisch)
p. 37.
152. Ibid. p. 52.
153. A. Ruppin „Die sozialen Verhältnisse" p. 12.
154. W. Sombart „Der moderne Kapitalismus" Bd. II p. 346.
155. S. Margolin „Die wirtschaftliche Lage etc." „Archiv für So-
zialwissenschaft etc." Bd. 26. 1908 p. 262.
156. Maxim An in „Immigration — Arbeiterkonkurrenz — Arbeits-
protektionismus" „Zeitschrift für D. u. S. d. J." 1911 (VII) p. 73,
— Das Bedürfnis nach jüdischen Arbeitskräften, das besonders in
England recht dringend war, hat das ihrige dazu beigetragen.
das Tempo der jüdischen Einwanderung nach England zu be-
schleunigen. In dieser Beziehung ist der folgende Brief eines der
— 163 —
größten englischen Konfektionshäuser au den jüdischen Gewerk-
schaftssekretär Dyche besonders interessant. Der Brief lautet:
London, den 31. Januar 1898.
Sehr geehrter Herr !
In Erwiderung auf Ihre Anfrage über den Einfluß der aus-
ländischen jüdischen Schneider auf unseren heimatlichen Arbeits-
markt, halten wir es für nicht mehr als gerecht, Ihnen zu be-
stätigen, daß die ausländischen jüdischen Schneider neue Pro-
duktionsmethoden eingeführt und ein Gewerbe geschaffen haben,
das als unbedingter Gewinn für den Handel Englands zu be-
trachten ist.
Wir waren, unseres Erachtens, die erste Mantelkonfektions-
firma in England, die in ihrer Fabrik ausländische jüdische
Schneider beschäftigte, und es dürfte interessant sein, an unsere
Gründe hierfür zu erinnern. Im Jahre 1885 entstand eine große
Nachfrage nach vom Schneider gefertigten (tailor-made) Damen-
Jackets und, um die Nachfrage in England und den Kolonien
zu decken, mußten wir große Quantitäten dieses Artikels aus
Deutschland importieren. Sie waren aus deutschem Material
von Schneidern in und um Berlin gefertigt. Wir versuchten es,
den Artikel in unseren eigenen Fabriken anzufertigen, aber ohne
Erfolg. Unsere Arbeiterinnen konnten die von den Schneidern
benutzten Bügeleisen nicht handhaben und ließen sich zu der
Arbeit nicht bewegen. Da die Mode im Anwachsen war, wurden
größere Bestellungen im Auslande gemacht, und im Jahre 1888
wurden in Zahlung für diesen Artikel 150 000 £ nach Deutschland
gesandt. Im Jahre 1889 beschlossen wir, in einer neuerbauten
Fabrik ausländische jüdische Schneider und ihre spezielle Arbeits-
methode einzuführen, und zwar mit befriedigenden Resultaten.
Die Qualität der Ware wurde von Jahr zu Jahr besser, und
die in unserer Fabrik hergestellten Kleidungsstücke sind besser
als die früher importierten.
Andere englische Firmen folgten unserem Beispiel, und heute
gibt die deutsche Presse den Rückgang dieses Exports nach
England zu. (Vgl. hierzu den Artikel „Die Berliner Damenmantel-
konfektion" von B. Heymann in „Neue Zeit" 1893 94. Nr. 39).
Unsere Erfahrung geht dahin, daß diese ausländischen jüdi-
schen Arbeiter einen Zweig der Industrie pflegen, den unsere
Arbeiter nicht mit Erfolg in Angriff nehmen können, und daß
ihre Löhne hoch sind.
Hitchcock. Williams & Co.
(Aus dem „Jewish Chronicle" vom 22. April 1898, zitiert bei
G. Halpcrn „Die jüdischen Arbeiter in London" p. 44.)
157. Nach der ausführlichen Darstellung der Wanderungen, hielt sich der
Verfasser für berechtigt, wenigstem mit einem Worte den Zustand
anzudeuten, der den jüdischen Wanderungen ein Ende machen
— 164 —
könnte ohne dadurch ein Werturteil abzugeben. Denn e» handelt
[sich hier nicht darum, was „sein sollte" oder was „vorzuziehen
wäre", sondern lediglich um die J' eststellung der Tatsache, daß für
ein Volk, das sich auf Wanderungen befindet, die Schaffung eine»
Bauernstandes höchst wahrscheinlich das Knde seiner Wanderungen
bedeuten würde. Die Erörterung dessen, was wohl eintreten wird,
bedeutet noch kein Werturteil.
158. M. Nordau „Das Judentum im 19. und 20. Jahrhundert" Vortrag,
gehalten in Hamburg. Köln 1911 p. 16.
159. Die Organisation und Regulierung der jüdischen Auswanderung der
Neuzeit ist ein Kapitel für sich in der Geschichte der jüdischen
Wanderbewegungen. Hier sei nur erwähnt, daß es eine beträcht-
liche Zahl von Gesellschaften und Institutionen gibt, die sich mit der
Regulierung der jüdischen Auswanderung befassen; es wird sogar
ein besonderer Kongreß aus Vertretern der Juden der ganzen Welt
geplant, der die Regulierung einheitlich gestalten soll.
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